Heinz Kimmerle


Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte

Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie


Einleitung:

Wie gehören die Begriffe Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte zusammen?1


In einem philosophischen Diskurs über die Geschichte in dem umfassenden Sinn einer zeitlichen Erfassung alles dessen, was in der Welt geschieht, werden zwei Größen zueinander ins Verhältnis gesetzt, nämlich Philosophie und Geschichte. Die Klärung dieses Verhältnisses bildet ein wichtiges Problem für Philosophen und Geschichtswissenschaftler. Dabei hat aber die Philosophie selbst auch eine Geschichte. Jedenfalls kennt sie einen eigenen zeitlichen Verlauf. Diese dritte Größe ist somit in ihrem Verhältnis zu den beiden anderen zu durchdenken. Das führt zu den drei folgenden Fragen: (1) Wie gehören Philosophie und Geschichte zusammen? (2) Wie verhält sich die Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte? Und (3) Wie verhalten sich Geschichte und Philosophiegeschichte zueinander? Um zu einer Klärung des Verhältnisses aller drei Größen zueinander zu gelangen, wird es in philosophischer HinsichtinsichtHi hilfreich sein zu untersuchen, wie es von maßgebenden Philosophen bestimmt worden ist. Zugleich wird jedoch das aufgeworfene Problem auf diese Weise noch um eine Stufe komplizierter. Die unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses der drei genannten Größen zueinander durch verschiedene maßgebliche Philosophen haben ihrerseits eine Geschichte. Es geht also um das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte zueinander und um die Geschichte dieses Verhältnisses.

Wenn wir nunmehr untersuchen, was Hegel und Marx, Nietzsche und Heidegger, Foucault, Derrida und Vertreter der interkulturellen Philosophie zum Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte gesagt haben, entsteht ein weiteres Problem, sofern ihre Aussagen geschichtlich nacheinander angeordnet werden, ohne daß wir wissen, was eine solche Anordnung bedeutet. Es läßt sich im vorhinein nicht begründen, warum gerade diese Philosophen oder Vertreter philosophischer Strömungen in dieser Reihenfolge zur Klärung des angegebenen Problems ausgewählt worden sind, außer der Tatsache, daß sie chronologisch, im Blick auf die Jahreszahlen ihres Lebens und Denkens, aufeinander folgen. Im übrigen ist die Auswahl zufällig oder intuitiv getroffen. Erst wenn die Untersuchungen erfolgt sind, läßt sich sagen, in welchem Sinn damit ein Stück Philosophiegeschichte geschrieben ist und wie dieses zur Philosophie und zur Geschichte ins Verhältnis zu setzen ist. Im Ergebnis wird sich herausstellen, inwiefern die chronologische Anordnung gerechtfertigt war oder auch nicht, inwiefern sie als heuristischer Ausgangspunkt hilfreich war und wo ihre Schwächen liegen. Diese gesamte Konstellation soll im folgenden untersucht werden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel – jedenfalls in seinen Entwürfen eines Systems der Philosophie seit 1805 – denkt die Begriffe Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte in einem konsistenten Zusammenhang. Die Grundlage für diesen Zusammenhang sind die Bestimmungen des reinen Denkens, wie er sie in der Wissenschaft der Logik ausgearbeitet hat. Ihre Abfolge bedingt die zeitliche Ordnung des Hervortretens bestimmter Philosophien – von den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles über die mittelalterliche Philosophie, die neuzeitlichen Philosophien von Descartes bis zu Kant und schließlich bis zu Hegel selbst. Die so konzipierte Geschichte der Philosophie bildet ihrerseits die innere Linie der allgemeinen Geschichte oder Weltgeschichte. Das Prinzip der Freiheit, das dem reinen Denken innewohnt, seine Selbstentfaltung möglich macht und bestimmt, strukturiert die Geschichte der Philosophie und den Gang des Weltgeistes durch die Regionen der realen Geschichte. Dieser Gang des Weltgeistes verläuft von den orientalischen Reichen, die den Bürgern keine politische Freiheit zugestehen, über die antiken griechischen und römischen Reiche, die auf europäischem Boden allererst das Prinzip der Freiheit philosophisch und – mit gewissen Einschränkungen – auch politisch zur Geltung bringen, zu den konstitutionellen Staaten Europas nördlich der Alpen, die nach Hegels Auffassung die politische Freiheit aller Bürger sicherstellen. Dieser Zusammenhang wird im 1. Kapitel genauer dargstellt.

Karl Marx vollzieht in seiner theoretischen Arbeit bekanntermaßen eine Umkehrung des bei Hegel zu findenden Begründungsverhältnisses. In den materiellen Verhältnissen, insbesondere in der ökonomischen Basis, finden sich nach seiner Auffassung Ordnungsstrukturen, welche die geschichtlichen Abläufe und auch deren gedankliche Erfassung bestimmen. Die Philosophie ist eine untergeordnete Instanz im Geschichtsprozeß. Der spätere Marx, der sich auf eine Analyse der bestehenden ökonomischen Verhältnisse konzentriert, findet ansatzweise zu eine genealogischen Geschichtsbetrachtung. Für die Beantwortung der Frage, wann bestimmte konstitutive Elemente der gegenwärtigen Verhältnisse zuerst hervorgetreten sind, geht er auf Bedingungen zurück, die für die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens relevant sind, wie sie seit der Seßhaftwerdung insbesondere in Europa bestanden haben. Der Philosophie als Teil des Geschichtsprozesses und den Ansätzen zu einer genealogischen Geschichtsbetrachtung bei Marx ist das 2. Kapitel gewidmet.

Für Friedrich Nietzsche sind die politische und die ökonomische Geschichte von sekundärer Bedeutung. Er wendet sich den Lebens- und Bewußtseinsformen der Menschen zu, wie sie von ihrer Kultur bestimmt werden. Im Mittelpunkt steht für ihn die Wertorientierung der Menschen. Der Anfang der europäischen Geschichte im antiken Griechentum bildet weiterhin den Horizont der Geschichtsauffassung. Dabei begreift Nietzsche die griechische Kultur jedoch als eine Mischkultur. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang außereuropäische antike Kulturen wie die ägyptische, phönizische und assyrische. Die indische Philosophie mit ihrer gesamten Geschichte befindet sich nach seiner Meinung, allerdings als einzige, auf dem gleichen Niveau wie die europäische. Insgesamt sieht er die europäische Geschichte durch den Einfluß des Christentums und des Platonismus unter dem negativen Vorzeichen einer Moral, in der die ursprünglichen Werte des ›Willens zur Macht‹ pervertiert werden. Demgegenüber verkündet Zarathustra im Namen Nietzsches das ›Ja zum Leben‹ und den Mut, die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ in der Geschichte zu wollen. Im 3. Kapitel wird dann auch noch Nietzsches Wendung zu einer Genealogie der moralischen Begriffe näher ausgearbeitet, die deren Ursprünge in vorgeschichtlicher Zeit aufsucht.

Martin Heidegger konzentriert sich in seinen Betrachtungen der Geschichte ganz auf die europäische Philosophiegeschichte, die für ihn freilich auch die einzige ist, die es gibt. Sie bildet noch stärker als bei Hegel den wesentlichen Kern der Geschichte. Zugleich greift Heidegger aber auch über die europäische Philosophiegeschichte hinaus, indem er diese als eine Gestalt der Seinsgeschichte auffasst, die indessen ihr Eingelassensein in den sie übergreifenden Zusammenhang nicht sieht, nicht sehen kann beziehungsweise ›vergißt‹. Die ›Destruktion‹ der europäischen Philosophie, die deren Seinsvergessenheit ans Licht bringt, führt zu einer Offenheit für das Verhältnis zum Sein, das sich immer zugleich offenbart und auch verbirgt. Nach dem griechischen tragenden Anfang der europäischen Philosophiegeschichte mit ihren Höhen und Tiefen soll nach Heidegger in der Zukunft erneut ein derartiger Anfang gefunden werden. Das realgeschichtliche Pendant der seinsvergessenen Philosophie ist die Technik, deren Herrschaft Heidegger zwar anerkennt, aber letztlich zu durchbrechen sucht. Der damit erwartete Umschlag, der nicht im Sinn der Dialektik zu verstehen ist, trägt mit zu den problematischen realgeschichtlichen Optionen Heideggers bei, vor allem seine positive Haltung dem aufkommenden Nationalsozialismus gegenüber. Das 4. Kapitel zeigt ferner auf, daß beim späteren Heidegger, unter anderem durch die Zuwendung japanischer, koreanischer und chinesischer Philosophen zu seinem Denken, ein über Europa hinausgreifender Horizont entsteht, den er als ›planetarisches Denken‹ bezeichnet.

Nach der kurzlebigen Strömung des Strukturalismus als des herrschenden humanwissenschaftlichen Paradigmas in den 1960er und 1970er Jahren, das der Geschichte keine große Bedeutung beimißt, sucht Michel Foucault nach neuen wissenschaftstheoretisch und philosophisch begründeten Zugängen zur Geschichte. Wie im 5. Kapitel gezeigt werden wird, knüpft er dafür nicht bei den bisherigen Formen der europäisch-westlichen Philosophie an. Man kann sagen, daß er gegen Hegel und weithin mit Nietzsche neue Wege des Denkens und des Umgehens mit der Geschichte beschreitet. Er setzt keine geschichtliche Kontinuität voraus und folgt nicht zeitlich linearen Verläufen. Er versteht seine Arbeitsweise als Archäologie, die Zusammenhänge zwischen aufgefundenen Bruchstücken herzustellen sucht. Die Abtrennung der Wahnsinnigen von den Vernünftigen, ihre Unterbringung in bestimmten Einrichtungen, erfolgt nach Foucaults Untersuchungen im klassischen Zeitalter, das er von 1650 bis 1800 ansetzt. Als ein vergleichbares Geschehen in derselben Zeitperiode, derselben episteme, das heißt demselben Wissenssystem zugehörig, analysiert er die Entstehung der Klinik. Dann wendet er sich den Humanwissenschaften zu, insbesondere den Wissenschaften der Lebewesen, der Sprache und der Ökonomie. Hauptsächlicher Gegenstand der Untersuchungen sind ›diskursive Praktiken‹, nicht denkende und handelnde Subjekte. In der modernen Zeit, das heißt nach 1800, kommt es nach Foucaults Darstellung zu einschneidenden Veränderungen gegenüber der klassischen Periode, die in die politische Ökonomie, die allgemeine Sprachwissenschaft und die Genetik ausmünden. Bei Foucault folgt dann eine systematische Darstellung dessen, was er ›Diskurs‹ nennt, dessen Untersuchung die archäologische Arbeitsweise ablöst. Den Diskursregeln liegen Machtverhältnisse zugrunde, die bestimmen, was und wie etwas gesagt und was verschwiegen wird. Methodisch gesehen tritt die Genealogie an die Stelle der Archäologie. Der Wille zum Wissen als Wille zur Wahrheit sucht die Zusammenhänge von Wahrheit und Macht aufzudecken. Dabei zeigt sich exemplarisch auf dem Gebiet des Gefängniswesens, daß die Machtverhältnisse normierend wirken. Für verschiedene Epochen seit der Antike hat Foucault dies auf dem Gebiet der Sexualität ausführlich analysiert.

Jacques Derrida schließt in vielfacher Hinsicht bei Heidegger an, verdankt aber auch Foucault entscheidende Einsichten, obwohl er sich im Blick auf dessen Umgang mit der Psychoanalyse auch kritisch geäußert hat. Das Programm einer ›Destruktion‹ der europäischen Philosophiegeschichte bei Heidegger setzt Derrida um in eine umfangreiche Arbeit des ›Dekonstruierens‹ von Autoren und Strömungen der europäischen Philosophie. Dabei sucht er das Positive oder Konstruktive sichtbar zu machen, das durch die immanente Kritik oder Destruktion ans Licht gebracht wird. Vom Phonozentrismus bei Platon, Rousseau, Hegel und Husserl schließt er auf eine solche Tendenz in der gesamten europäischen Philosophie, die er dem Logozentrismus zur Seite stellt, der von Aristoteles bis Hegel offenkundig ist.

Durch die Konzeption eines neuen Schriftbegriffs, der nicht mehr von der Zeichentheorie ausgeht, sondern Schrift als ›lesbare Spur‹ auffaßt, kann er den europäischen Horizont überschreiten und die europäische Philosophie, die das gesprochene Wort höher einschätzt als die Schrift, aber schriftlose Kulturen auf niedrigem Niveau situiert, des Ethnozentrismus überführen. Mit der These, daß Schrift im Sinn des Hinterlassens lesbarer Spuren ebenso wie erste gesprochene Worte in der Geschichte der Menschwerdung ihren Ursprung haben, gelangt Derrida zu einer genealogischen Geschichtsbetrachtung, wie sie in Nietzsches ›Genealogie der Moral‹ und in Foucaults genealogischer Arbeitsweise als Historiker ihre Vorbilder hat.

In Derridas Dekonstruktionen spielt der Begriff der ›Anwesenheit‹ immer wieder eine wichtige Rolle. Er sucht das Abwesende im Anwesenden zu denken. Ein prominentes Beispiel ist für ihn das Verschwinden der Theorien von Marx und dem Marxismus aus den öffentlichen Debatten nach dem Fall der Mauer in Berlin im Jahr 1989. Die Bewußtmachung der bleibenden Bedeutung dieser Theorien führt Derrida zu dem Gedanken des ›Messianismus‹, mit dem er das uneingelöste emanzipatorische Potential des Marxismus zur Geltung bringen will. Er weist den ›Kosmopoliten aller Länder‹ die Aufgabe zu, eine ›neue Internationale‹ zu bilden, die dieses Potential weiter trägt.

Wie Gerechtigkeit, auf die er im Gespräch mit Rechtsphilosophen eingeht, sind und bleiben Freundschaft und Demokratie für Derrida ›im Kommen‹. Die ›Idee der Demokratie‹, die mit ihren europäisch-westlichen Verwirklichungen nicht identisch ist, bildet ein Versprechen Europas an die gesamte Welt, die ein neues, nicht mehr ethnozentrisches Verhältnis zu den nicht-europäischen Teilen der Welt und eine neue ›Verantwortlichkeit‹ ihnen gegenüber voraussetzt.

Obwohl Nietzsche über Europa und seine Philosophiegeschichte hinausblickt, Heidegger ein planetarisches Denken initiiert, Foucault gegenüber der bisherigen europäischen Philosophiegeschichte neue Wege der Geschichtsbetrachtung einschlägt und Derrida die europäisch-westliche Philosophie des Ethnozentrismus bezichtigt, beschränken sie sich wie schon Hegel und Marx im wesentlichen auf Europa, seine Philosophie, sein Geschichtsbild und seine Philosophiegeschichte. Damit ist nicht gesagt, daß dies in der europäischen Philosophiegeschichte vor Hegel auch so war. Das ist hier jedoch nicht unser Thema. Im Zeitalter der Globalisierung, in dem auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik, Technologie, Wissenschaft und Kunst weltweite Vernetzungen entstehen, auch wenn zugleich Tendenzen der Regionalisierung aufkommen, kann die Philosophie sich nicht auf Europa beziehungsweise die europäisch-westliche Welt beschränken. Die Philosophien Indiens, Chinas und Japans werden in spezialisierten Forschungen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts thematisiert, aber lange Zeit, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Europa und der europäisch-westlichen Welt nicht in den eigentlich philosophischen Diskurs aufgenommen. Mit dem Aufkommen der interkulturellen Philosophie in den 1980er Jahren werden nicht nur die Philosophien der genannten fernöstlichen Länder, sondern das Denken in allen Kulturen in ihrer Relevanz für die europäisch-westliche und die Weltphilosophie erfaßt. Das macht eine Erweiterung und neue Präzisierung des Philosophiebegriffs erforderlich, dem eine erweiterte Konzeption der Philosophiegeschichten in allen Kulturen entspricht. Die Philosophien aller Kulturen und der Gedankenaustausch zwischen ihnen lassen eine in sich differenzierte Weltphilosophie entstehen. Damit kommt die Philosophie wieder mit den Geschichtswissenschaften auf Augenhöhe, die schon seit längerer Zeit ein differenziertes Bild der Weltgeschichte entwirft. Die Konstellation Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte wird wieder – wie bei Hegel – aber in ganz neuer Weise in ihrer vollen Struktur gedacht.


1 Das vorliegende Buch bildet die ausführlichere, überarbeitete Fassung eines Aufsatzes mit demselben Haupttitel: Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte, der für den von H.R. Yousefi herausgegebenen Band Wege zur Geschichte (Nordhausen 2009) geschrieben worden ist.