Heinz Kimmerle


Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie


1. Einleitung: Von Hegels eurozentrischem Philosophiebegriff zum Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie


Die interkulturelle Philosophie läßt sich nicht dem Philosophiebegriff subsumieren, der für die europäisch-westliche Philosophie von Platon und Aristoteles bis zu Hegel und darüber hinaus bestimmend gewesen ist. Um diesen Philosophiebegriff vom Denken in anderen Kulturen, besonders vom indischen und chinesischen Denken abzugrenzen, spricht Hegel von ›echter‹ oder ›eigentlicher‹ Philosophie, die allein als Philosophie anerkannt wird. Eine Analyse dessen, was Hegel damit gemeint hat, kann als Ausgangspunkt und gewissermaßen als Folie dienen, wovon der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie abgesetzt werden soll. Die Erweiterung und neue Präzisierung des Philosophiebegriffs, die damit angestrebt wird, bezieht sich direkt auf den Hegelschen Philosophiebegriff und indirekt auf den der gesamten europäisch-westlichen philosophischen Tradition. Hegels Philosophiebegriff kann im Rahmen der Philosophie der Aufklärung als eine eurozentrische Zuspitzung des europäisch-westlichen Philosophieverständnisses seit Palron und Aristoteles aufgefaßt werden.

Eine Hauptschwierigkeit, die Hegel mit einem Denken hat, das ›Vorformen‹ der Philosophie, aber keine ›eigentliche‹ Philosophie hervorbringt, wie zum Beispiel das frühe indische Denken, warum er dieses Denken nicht als Philosophie gelten läßt, ist seine Einbettung in religiöse und mythische Zusammenhänge, sowie seine häufig vorkommenden poetischen Ausdrucksformen. Im Kontext der europäisch-westlichen Geschichte der Philosophie nach Hegel hat Karl Jaspers das Verhältnis der Philosophie zu den ›ursprünglichen Anschauungen‹ in Religion, (bildender) Kunst und Dichtung neu bestimmt. Die Philosophie ist grundsätzlich vor allem durch ihre Methode von diesen ursprünglichen Anschauungen unterschieden. Diese Methode kann im Sinn Hegels als logisch-begriffliches Denken umschrieben werden. Dennoch benötigt die Philosophie die genannten ursprünglichen Anschauungen als Voraussetzung und Gegenüber ihrer selbst, ist von ihnen ›unabtrennbar‹.

Daß die Philosophie sich poetischer Ausdrucksformen bedient, wird nach Hegel vor allem bei Nietzsche deutlich. Ferner werden Werke der Dichtung in der Philosophie von Heidegger, Gadamer, Derrida und anderen herangezogen und genau interpretiert. Das geschieht nicht als eine Zugabe zur Philosophie, sondern als integraler Teil ihrer Arbeit.

Eine weitere Schwierigkeit sieht Hegel darin, daß das indische und das chinesische Denken nicht systematisch verfahren, sondern die philosophisch-gedanklichen Inhalte oft beiläufig oder zufällig mitteilen. In diesem Punkt hat die europäisch-westliche Philosophie den Hegelschen Philosophiebegriff bereits selbst erweitert, indem Nietzsche, Horkheimer und Adorno, sowie der spätere Wittgenstein und andere ihre Philosophie als aphoristische und/oder bewußt fragmentarische Texte dargestellt haben.

Sofern diese Abgrenzungen Hegels von nicht-europäischem Denken, insbesondere dem indischen und chinesischen, in der Geschichte der europäisch-westlichen Philosophie nach Hegel aufgehoben worden sind, besteht kein Grund mehr, diese Denktraditionen wegen der Einbettung der philosophischen Gedanken in religiöse und mythische Zusammenhänge, des Gebrauchs poetischer Ausdrucksformen oder des unsystematischen Charakters als nicht philosophisch oder nicht eigentlich philosophisch aufzufassen.

Als Gegenentwurf zum streng systematischen Denken wird von Bloch und anderen die Offenheit des Systemdenkens, von Heidegger und im Gefolge von Heidegger von Weischedel und anderen der Fragecharakter des philosophischen Denkens herausgestellt. Es geht darum, daß die Philosophie durch ihre Arbeit keine endgültigen Antworten erreichen kann, sondern in der Haltung des radikalen Fragens verharrt. Diesem in der europäisch-westlichen Philosophie nach Hegel hervorgetretenen Charakter des philosophischen Denkens entspricht die dialogische Form der interkulturellen Philosophie. Sie nimmt die Tatsache ernst, daß die Philosophien anderer Kulturen zur europäisch-westlichen oder jeder anderen regional begrenzten Philosophie im globalen Kontext gedankliche Inhalte hinzufügen können, die nicht von eigenen Voraussetzungen aus erfaßt werden können, für die philosophische Arbeit aber unentbehrlich sind.

Merleau-Ponty und Derrida haben den Philosophiebegriff innerhalb der europäisch-westlichen Tradition dahingehend erweitert, daß sie ein offeneres Wirklichkeitsverständnis begründet und für eine Öffnung für das/den/die andere/n plädiert haben. Von hier aus ist es nur ein weiterer Schritt, sich den Philosophien andere Kulturen auch konkret zuzuwenden.

Am Beispiel der traditionellen Philosophie im subsaharischen Afrika läßt sich zeigen, daß Sprachformen, die den europäisch-westlichen Sprichwörtern ähnlich sind, aber besser Maximen oder Epigramme genannt werden können, die Funktion erfüllen, die in der europäisch-westlichen Philosophie der logisch-begrifflichen Argumentation zukommt. Das Gemeinsame beider Diskursarten ist, daß sie aus sich selbst überzeugend sind und keine außer sich liegende Instanz als Autorität anerkennen.

Damit ist ein Philosophiebegriff gewonnen, der sowohl für die europäisch-westliche als auch die nicht-westlichen Philosophien gültig ist. Von der interkulturellen Philosophie aus ist so ein erweitertes und neu präzisiertes Philosophieverständnis eröffnet worden. Der Weg von Hegels Philosophiebegriff, der für den größten Teil der europäisch-westlichen philosophischen Tradition paradigmatisch ist, über die genannten Zwischenstufen zum subsaharisch-afrikanischen Philosophiebegriff, von dem aus ein neues Paradigma des Philosophierens formulierbar wird, soll im folgenden etwas genauer aufgezeigt werden.

Dem Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie entspricht ein neues Verständnis der Philosophiegeschichte, die in viele verschiedene Geschichten auseinander zu legen ist. Dabei verschiebt sich auch die Bedeutung der Geschichte für die eine Weltphilosophie beziehungsweise die Philosophien der verschiedenen Kulturen.