Der hier folgende Text ist für einen Kongress am Department of Germander University of Mumbai in Indien vom 11.-15.3.2002 geschrieben. Der Kongress hat den Titel: Toleranz im Kontext der Interkulturalität und Globalisierung’. Der hier dargebotene Beitrag bildet eine genauere Ausarbeitung von Kapitel IV,Abschnitt 1 des Textes Interkulturelle Philosophie zur Einführung’, der in erster Fassung auf dieser Website zu lesen ist.

 

Sollen wir Partner im Dialog tolerieren und/oder achten?

 

Ein Beitrag zur Theorie der interkulturellen Philosophie
und eine Rückfrage bei Platon

1. Interkulturelle Philosophie als dialogische Philosophie

 

In der Theorie und Praxis der interkulturellen Philosophie hat sich die Kommunikationsform der Dialoge als nützlich und adäquat erwiesen. Interkulturelle Philosophie ist ihrer bisherigen Vollzugsform nach dialogische Philosophie. Dabei werden Dialoge zwischen den Philosophien aller Kulturen angestrebt. Eine Begrenzung auf westliche und östliche Philosophien erscheint als unangemessen. Denn jede Kultur gerät in Situationen, in denen ihr eigenes Bestehen fraglich wird. Man kann auch sagen, dass in jeder Kultur Anlässe der Selbstvergewisserung entstehen, bei denen nach der Art und Weise gefragt wird, wie in ihr und durch sie dem menschlichen Leben in der eigenen Gemeinschaft inmitten anderer Gemeinschaften und der Natur eine bestimmte Form gegeben wird.

            In diesen beiden Punkten unterscheidet sich die interkulturelle Philosophie von der bereits länger bestehenden Vergleichenden oder Komparativen Philosophie. [1] Sie überwindet die methodischen und regionalen Begrenzungen dieser Art von Philosophie. Beim Vergleichen bleiben die Gegenstände der verschiedenen Philosophien einander äußerlich. Wer Fragen und Argumentationszusammenhänge verschiedener Philosophien neben einander stellt, wird nicht vermeiden können, dass sie auch auf einander einwirken. Übereinstimmungen und Unterschiede stellen sich heraus. Und wer wollte die Philosophie davon abhalten, die Wahrheitsfrage zu stellen, beziehungsweise heraus zu finden, welche Philosophie in welchen Punkten für die jeweilige Situation mehr Recht hat und welche im Blick darauf weniger scharf oder adäquat argumentiert? So entstehen gewissermaßen von selbst die Bedingungen dialogischer Philosophie.

            Bei der regionalen Begrenzung zeigt sich, dass die Vergleichende Philosophie sich in ihrer bisherigenGeschichte auf westliche und östliche Philosophien beschränkt. Die Darstellung der Vergleichenden Philosophie, die sich auch für andere als diese Philosophien am weitesten öffnet, ist das komparative Modell’ von Ulrich Libbrecht. Dieser Autor will in das Spannungsfeld von chinesischer, indischer und westlicher Philosophie alle anderen möglichen Philosophien einschreiben. Als seinen Ausgangspunkt’ gibt er dabei selbst an: eine gleichwertige Behandlung aller Kulturen mit einer geschriebenen Geschichte’. [2] Mit diesem Ausgangspunkt ist indessen erneut eine Begrenzung angegeben, die sich nicht rechtfertigen lässt. Wer sagt denn, dass es Philosophie nur in Kulturen mit einer geschriebenen Geschichte’ gibt? Seit etwa 50 Jahren hat sich die Philosophie des subsaharischen Afrika, die primär auf mündlicher Überlieferung beruht, Anerkennung zu verschaffen gewusst.

            Wenn wir uns entschließen, die Philosophie des subsaharischen Afrika als Philosophie anzuerkennen, wird auch die von Libbrecht genannte Begrenzung obsolet. In diesem Kulturraum hat es primär schriftliche Formen der Kommunikation und Überlieferung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor der Kolonisierung nicht gegeben. Trotzdem ist afrikanische Philosophie, seitdem ihr auf dem Weltkongress für Philosophie in Düsseldorf im Jahr 1978 zum erstenmal eine eigene Sektion gewidmet worden ist, in den internationalen philosophischen Diskurs eingeführt. Mit der Anerkennung des Vorhandenseins von Philosophie in Kulturen, die primär mündliche Formen der Überlieferung praktizieren, ist ein wichtiger Schritt vollzogen. Dieser Schritt bedeutet letzten Endes, dass es keinen Grund mehr gibt, warum nicht allen menschlichen Kulturen Philosophie zuerkannt wird, denen dann eine gleichwertige Behandlung’ zusteht.

            Innerhalb der westlichen philosophischen Tradition können wir auf Sokrates verweisen, der das dialogische Philosophieren in die diese Tradition eingeführt und selbst nicht geschrieben hat. Auf diese Weise ist er gewissermaßen in doppelter Hinsicht für unser Thema relevant. Dialogisches Philosophieren und primär mündliche Formen der Kommunikation scheinen wesentlich zusammen zu gehören. Die Schrift soll damit nicht abgewertet oder auf den zweiten Platz verwiesen werden. Ihre Bedeutung für die Kulturentwicklung insgesamt und auch für die Philosophie steht außer Zweifel. Wenn sich für die interkulturelle Philosophie Dialoge als angemessene Vollzugsform erweisen, und zwar Dialoge zwischen den Philosophien aller Kulturen, wird eine Rückfrage bei Platon und eine Analyse der sokratischen Gesprächsführung aller Voraussicht nach nützlich sein. Das soll der Auftakt zu einer umfassenderen Fragestellung sein: Welche Aspekte gehören zu Dialogen? Wodurch sind Dialoge als solche definiert? Dabei behalten wir von Anfang an im Auge, wie das Verhältnis der Dialogpartner zu einander zu bestimmen ist, inwiefern der Begriff der Toleranz hierfür geeignet oder zureichend ist.    

           

2. Analyse der sokratischen Gesprächsführung

 

Der historische Sokrates ist ein Philosoph, der nicht geschrieben hat. Stattdessen hat er vor rund 2400 Jahren auf dem Marktplatz in Athen, vorzugsweise mit schönen jungen Männern, philosophische Gespräche geführt. Dies ist schon fast alles, das sich mit historischer Zuverlässigkeit über ihn sagen lässt. Das Sokrates-Bild in der Geschichte der westlichen Philosophie ist weitestgehend von den schriftlich festgehaltenen Dialogen Platons geprägt, in denen es meistens Sokrates ist, der die philosophischen Auffassungen Platons darlegt. Es geht uns hier, bei dem Bemühen, die Prinzipien des dialogischen Philosophierens darzulegen, nicht um die historische Gestalt des Sokrates, sondern um die platonischen Dialoge, in denen er auftritt. Wir richten uns auch nicht auf die unterschiedlichen inhaltlichen Fragen, die in den Platonischen Dialogen geklärt werden sollen. Aber wir gehen davon aus, dass Platon seine philosophischen Auffassungen in Dialogform aufgeschrieben hat, weil er so der Weise des Philosophierens seines Lehrers Sokrates gerecht zu werden suchte.

            Mit der schriftlichen Aufzeichnung von Dialogen, in denen Sokrates seine und Platons philosophische Auffassungen darlegt, geht freilich ein entscheidender Aspekt des Philosophierens im Gespräch verloren, wie Sokrates es praktiziert hat. Ich meine den Geschehenscharakter der philosophischen Wahrheit, der in den schriftlich festgehaltenen Dialogen nur indirekt zur Geltung gebracht werden kann. Gernot Böhme nennt dies in seinem Buch Der Typ Sokrates die Philosophie als Ereignis’, und er betont, dass nur in ihr die Einheit von Wissen und Person’, die das philosophische Wissen seitdem bleibend kennzeichnet,in adäquater Weise zum Ausdruck kommt. [3] Im Dialog drückt sich also ein entscheidender Wesenszug des philosophischen Wissens aus, der sich so in schriftlichen Texten nicht durchhält. Ohne auf die Vor- und Nachteile der Schriftlichkeit des Philosophierens näher einzugehen, wird sich sagen lassen, dass schriftliche Dokumente des Philosophierens versuchen sollten, das Dialogische im Medium der Schrift festzuhalten und zur Geltung zu bringen, wie Platon es beispielhaft getan hat. Im übrigen wird die geschriebene Philosophie nach eigenen Wegen suchen können und müssen, dem Geschehenscharakter der philosophischen Wahrheit gerecht zu werden.

            Das philosophische Wissen ist nicht der Besitz irgendeiner Person. Die sokratische Gesprächsführung zeigt, dass es sich entfaltet, indem die philosophisch entscheidende, das Gespräch leitende Person ihre ganze Kompetenz in das Stellen der richtigen Fragen verlegt. Böhme beschreibt das sokratische Gespräch als asymmetrisch’, sofern dem Fragenden, also Sokrates, der höhere Rang zukommt’. Es zeigt sich: der Fragende beherrscht deutlich das Gespräch’. Dabei darf man nicht indessen vergessen, dass es im Spiel von Fragen und Antworten zu der sokratischen Umkehrung’ kommt. Sokrates verhaart in der Haltung des Fragens, er behauptet selbst nichts. Das heißt, er stellt sich nicht über den jeweils Gefragten oder Befragten, sondern unter ihn. Damit sucht er die Asymmetrie, die durch seine überragende Kompetenz, sein längeres und tieferes Nachdenken in aller Regel zweifellos vorhanden ist, so viel wie möglich weg zu nehmen und eine Situation gleicher Gesprächspartner herzustellen. Es wäre dann nicht einfach der Ausdruck einer ironischen Einstellung, dass er selbst keine Ansichten hat, nichts lehrt, sondern nur fragt und seine Gesprächspartner veranlasst, ihre Ansichten darzulegen und bestimmte Behauptungen aufzustellen, die dann begründet und kritisch hinterfragt werden. Es wären notwendige Vorkehrungen, um, so weit es irgend geht, die Gleichheit der Gesprächspartner zu ermöglichen.

            Die Kunst seiner Gesprächsführung, die meines Erachtens nicht so sehr ein Typ von Pädagogik’ ist, sondern vielmehr der Klärung von Sachverhalten dienen soll, vergleicht Sokrates im Dialog Theaitetos bekanntlich mit dem Vorgehen einer Hebamme, wobei diese im Fall des philosophischen Gesprächs für gebärende Seelen Sorge trägt, und nicht für Leiber’. Und es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen der Gesprächsführung des Sokrates und der Hebammenkunst, wie seine Mutter sie ausgeübt hat. Dass die Gesprächspartner im Lauf des Gesprächs durch die Art der Fragestellung und den kritisch weiter fragenden Umgang mit den Antworten alles, was zur Klärung der Sachverhalte beiträgt, nur aus sich selbst entdecken’, sagt etwas über den intersubjektiven, vom Einzelnen, auch von Sokrates nicht machbaren Status des werdenden Wissens. Deshalb sagt er: die Geburtshilfe’, die zur Formulierung und Erfassung kluger und schöner Einsichten führt, leisten der Gott und ich’. [4]   

            Diese den einzelnen Menschen transzendierende Bedeutung des Wissens zeigt sich auch, wenn Sokrates selbst ausnahmsweise einmal inhaltliche Auffassungen darlegt. Er präsentiert sie dann und nun wirklich in ironischer Einstellung als etwas Aufgeschnapptes’ oder aber als Mitteilung von Priesterinnen, Dichtern und alten Weisen. Das bekannteste Beispiel ist die Rede über den Eros im Symposion, bei der Sokrates sich auf die Belehrung durch die Wahrsagerin und Seherin Diotima beruft. [5] Das wahre Wissen ist nicht vorzeigbar, es erscheint im Gespräch, es setzt sich aus solchen Mitteilungen besonderer Personen und den verschiedenen Beiträgen zum Dialog zusammen und verteilt sich auch wieder auf diese. Wenn es hierfür eines besonderen Beispiels bedarf, könnte man auf den Dialog Kratylos verweisen, in dem es um das Wesen der Sprache geht. Ist sie onomatopoetische Nachbildung wirklicher Geschehnisse, willkürliche Bedeutung, die bestimmten Sprachzeichen durch Verabredung und Übereinkunft’ zuerkannt wird, oder der letztlich geheimnisvolle Prozess des Namengebens? Sie ist dies alles, aber nicht jedes einzelne für sich, sondern alle richtigen Aspekte zusammen genommen. [6]

            Es ist nicht zufällig, dass Böhme in seiner Darstellung der sokratischen Gesprächsführung als Beispiel den Dialog Menon wählt, in dem der entscheidende Gesprächspartner ein Sklave ist, der nicht bereits durch Erziehung und Ausbildung über bestimmte Wissensinhalte verfügt. Dabei zeigt sich auch mit besonderer Deutlichkeit, dass die Aporie ... der entscheidende Effekt’ in diesen Gesprächen ist, die Verlegenheit’ und Verwirrung’, die durch das Verwerfen vermeintlichen Wissens entstehen. Es geht eben nicht um fertige Antworten, sondern darum, sich selbst etwas zu fragen’. Dass der Sklave so befähigt wird, mathematische und geometrische Fragen zu lösen, ist freilich nur in Grenzen ein relevantes Beispiel dafür, dass das Wissen um das menschliche Gutsein’, die Tugend und Tüchtigkeit des Staatsbürgers, um das es eigentlich geht, kein Wissen von etwas’ ist, sondern ein Bewusstseinszustand, ein Sich-bewußt-werden.  

            In seinem neuen Platon-Buch fasst Böhme die Platonische Lehre vom Dialog als Weg zum Wissen, die ja auch die Platonische Dialektik heißt, so zusammen, dass es dabei um ein Doppeltes geht: einerseits um das lógon didónai, das Rechenschaft ablegen’, das durch die Fragen ausgelockt wird, und andererseits das apodéchesthai, das Rede entgegennehmen’. Das letztere ist indessen nicht passiv gemeint. Der entgegennehmende Teil, in der Regel Sokrates, ist (vielmehr) der eigentlich aktive’. In seinem Entgegennehmen liegt ein Akt der Billigung, durch die ein möglicher Konsensus konstituiert wird’. Entscheidend ist, dass das so gewonnene Wissen sich nicht auch als systematisches Lehrgebäude der Philosophie Platons darstellen lässt. Damit würde man die trotz aller Strenge immer wieder spürbaren spielerischen und tentativen Züge seiner Philosophie’ verkennen. [7]

            Auch wenn es nicht um ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geht, setzt die Rolle des Sokrates in den Platonischen Dialogen eine überlegene Sachkompetenz voraus. Es handelt sich ja eher um die Sublimierung von Liebesverhältnissen zwischen Sokrates und den von ihm befragten Jünglingen. Dass sich dabei im Gespräch jeweils eine Umkehrung’ ergibt, soll heißen, dass Sokrates sich und seine überlegene Position in der Gesprächssituation stets wieder zurück nimmt, indem er darauf besteht, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht die seinen sind, sondern von den Gesprächspartnern eingebracht werden und an den Vollzug des Dialogs gebunden sind.

            Man kann in dieser Art der Gesprächsführung eine Minimierung der bestehenden Machtverhältnisse sehen. Wenn Sokrates die Gespräche so führt, das er seine Partner dem Rang nach sich selbst gleich stellt, könnte man dies als eine tolerante Haltung bezeichnen. Denn diese Gleichheit entsteht, obwohl ein gravierender Unterschied in der sachlichen Kompetenz bestehen bleibt. Da Sokrates diese Gleichheit durch eine radikale Umkehrung in der Gesprächsführung erzeugt, die dem gemeinsamen Ziel, dem Suchen nach Erkenntnis, dient, wäre es vielleicht angemessener zu sagen, dass Sokrates seine Gesprächspartner respektiert. Denn ohne ihren Beitrag, ohne die spezifische Rolle, die sie in den Dialogen spielen, wäre das gemeinsame Ziel nicht erreichbar. Die Verschiedenheit in der Verteilung der Rollen des lógon didónai und des apodéchesthai bleibt also durchaus bestehen. Diese Mischung aus gleichem Rang und verschiedenen Rollen ruft eine Spannung hervor, die die Dialoge zu dem macht, was sie sind.

            Wenn wir bedenken, dass in der sokratischen Gesprächsführung eine Umsetzung der Liebesbeziehung zwischen Sokrates und den Jünglingen in die Liebe zur Wahrheit, zum gemeinsamen Suchen nach der Wahrheit, stattfindet, ist der Begriff Respekt vielleicht noch nicht wirklich treffend. Denn er betont auch den Abstand, die kühle Distanz zwischen den dem Rang nach Gleichen. Der Kantische Begriff der Achtung scheint mir für die Charakterisierung diese Verhältnisses besonders geeignet. Darin kommt die gefühlsmäßige Seite dieser Beziehung besser zum Ausdruck. Achtung ist bei Kant das Gefühl, das eine rein auf die Vernunft bezogene Haltung begleitet. Dieses Gefühl richtet sich bei Kant freilich nicht auf einen Anderen als Gesprächspartner oder als was auch immer, sondern auf das Sittengesetz. Als solche wird sie zur Triebfeder’ des moralischen Handelns. [8] Es ist mein Eindruck, das zwischen Sokrates und seinen Partnern im Lauf des Gesprächs Achtung im Sinn eines solchen rationalen Gefühls entsteht.

 

3. Aspekte des dialogischen Philosophierens

 

Indem wir von dem bisher Gesagten ausgehen, von der Praxis interkulturell philosophischer Dialoge und von der Analyse der sokratischen Gesprächsführung, lassen sich eine Reihe von Aspekten angeben, die dazu gehören, damit von Dialogen gesprochen werden kann. Dabei wird auf die Interkulturalität der Dialoge weiterhin ein besonderes Augenmerk gerichtet. Der erste oder Hauptaspekt ist die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit (a). Sodann ist die Offenheit im Blick auf die zu erreichenden Ergebnisse von Dialogen zu erörtern (b). Ferner ist es wichtig zu untersuchen, welche nicht diskursiv-sprachlichen Mittel der Verständigung zu Dialogen gehören (c). Schließlich sollen die Ansätze zu einer Dialogik oder dialogischen Dialektik von der Diskurstheorie abgesetzt werden, die von den Partnern im Dialog nur Beiträge erwartet, die sich auch in der allgemeinen Menschenvernunft finden lassen (d).

 

a) Gleichheit und Verschiedenheit

  

Dialoge können nur zustande kommen, wenn bei den Gesprächspartnern Gleichheit und Verschiedenheit vorausgesetzt wird. Damit ist die Grundbedingung für Dialoge genannt. Nur wenn die Partner einerseits dem Rang nach gleich sind oder sich auf Grund der gemeinsamen Suche nach Erkenntnis als Gleiche anerkennen, andererseits aber ihre Rollen im Gespräch und ihre inhaltlichen Auffassungen verschieden sind, wird es zu einem Dialog kommen.

            Das Beispiel Sokrates hat gezeigt, dass dieses Verhältnis der Dialogpartner zu einander durch den Begriff der Toleranz nicht treffend umschrieben ist. Zweifellos wird Intoleranz jede Art von Dialog verhindern. Insofern ist hier wie auch sonst Toleranz besser als Intoleranz. Aber ist es genug zu sagen, dass die Gesprächspartner sich gegenseitig tolerieren? Setzt Toleranz nicht immer irgendwie ein Verhältnis von Höherstehenden zu solchen voraus, die eine niedrigere Position einnehmen? Die Bereitschaft der ersteren von ihrer höheren Position keinen Gebrauch zu machen, wäre dann Toleranz. Umgekehrt würde es tolerant heißen, den Niedrigerstehenden wie einen Gleichen zu behandeln, obwohl er es nicht ist.

            Herbert Marcuse hat deutlich gemacht, dass Toleranz in Verbindung mit einer liberalistischen Theorie repressiv’ werden kann. Er analysiert die Möglichkeit von Minderheiten einer Mehrheit gegenüber in einem sich liberal verstehenden Staat im Zeitalter der fortgeschrittenen Industriegesellschaft’, ihrem Bestreben zu folgen, das Ganze selbst zu ändern’. Man wird solchen Minderheiten durchaus gestatten, Erwägungen anzustellen und zu diskutieren, zu sprechen und sich zu versammeln’. Dies kann als ein Ausdruck von Toleranz gewertet werden. Indessen werden diese Minderheiten angesichts der überwältigenden Mehrheit, die sich einer qualitativen gesellschaftlichen Änderung widersetzt, harmlos und hilflos dastehen’. Der Änderungswille der Minderheiten verpufft auf diese Weise, die Mehrheit lässt ihn gewissermaßen ins Leere laufen. So wird die tolerante Haltung zu einem Mittel der Repression, das heißt hier der Ausschaltung der Effektivität der politischen Betätigungsmöglichkeit von Minderheiten. [9]

            Die Analyse Marcuses, die sich auf die inneren gesellschaftlichen Verhältnisse der westlichen Welt richtet, lässt sich auf die Beziehungen zwischen Industrieländern und weniger industriell entwickelten Ländern übertragen. Hierbei ist wichtig, dass die Industrieländer ihren Partnern’ den Spielraum vorgeben innerhalb dessen sie ihren eigenen Beitrag zur Bestimmung der Beziehung zu diesen Ländern einbringen können. Der westliche Typ von Demokratie mit mehreren politischen Parteien und Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheiten und die westliche Form von freier Markwirtschaft bilden ein Dogma oder haben jedenfalls lange Zeit ein solches Dogma gebildet, an sich die industriell weniger Länder zu orientieren haben. Wenn diese Haltung der Industrieländer den Namen Toleranz überhaupt verdient, handelt es sich um repressive Toleranz’.     

            Auch der Umgang der Religionen mit einander, der sich seinem eigenen Selbstverständnis nach als Dialog vollzieht, ist daraufhin zu untersuchen, inwiefern er auf der Grundlage von Toleranz stattfindet und ob diese Grundlage tragfähig ist. Traditionell ist das Verhältnis zwischen den Religionen durch den Absolutheitsanspruch belastet, den viele von ihnen für sich erheben. Wie wir wissen, hat dies in der Geschichte dazu geführt, dass die überwiegende Mehrzahl aller Kriege Religionskriege waren und sind. Dem stehen in der neueren Zeit die ökumenische Bewegung, die die christlichen Konfessionen zu einander zu führen sucht, und auch vielfache Bemühungen der Religionen um den Frieden in der Welt gegenüber. Darin zeigt sich das Doppelgesicht der Religionen’, wie der katholische Theologe Hans Küng es genannt hat. [10] Wenn ein Christ und ein Buddhist, ein Jude und ein Moslem oder ein Hindu und ein Anhänger des Daoismus nun den Schritt vollziehen, dass sie Dialoge mit einander führen wollen, genügt es nicht, dass sie sich gegenseitig tolerieren. Auch wenn sie ihren Absolutheitsanspruch, jeder die allein wahre Religion zu sein, nicht aufgeben, müssen sie darauf verzichten, sich gegenseitig missionieren zu wollen.

            Wenn wir das subsaharische Afrika hinzunehmen, ist die Übersicht der großen religiösen Stromsysteme’, die Küng in seinem Buch Projekt Weltethos gibt, ohnehin um den Animismus zu erweitern, dessen Bedeutung für die Kulturlandschaft dieser Erde’ noch nicht erfasst ist. Das subsaharische Afrika ist auch hier paradigmatisch für Kulturen, die keine primär schriftlichen Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen, aber wohl davon ausgehen, dass alle Dinge in der Natur und Menschenwelt beseelt sind oder zur Wohnstätte von Geistern werden können. Die Haltung der sogenannten großen Weltreligionen dem Animismus gegenüber ist erst langsam auf dem Weg von der Intoleranz zur Toleranz, und nur in ersten Anfängen von der Toleranz zur wirklichen Gleichstellung im Respekt. Der Schritt vom Respekt zur Achtung, die der Liebe verwandt ist, muss noch von der Zukunft erwartet werden.

            Es gibt ein Manifest Brücken in die Zukunft, das auf Initiative von Kofi Annan erarbeitet worden ist und an dem unter vielen anderen auch Hans Küng mitgewirkt hat. Darin findet sich folgende bemerkenswerte Passage: Christentum und Judentum, Islam und griechische Philosophie werden wichtige Quellen der Weisheit auch für die kommenden Jahrhunderte bleiben. Andere Lebenswege wie Hinduismus, Dschainismus, Konfuzianismus und Daoismus sind gegenwärtig ebenso lebendig und werden wohl auch in der Zukunft weiter gedeihen. Darüber hinaus haben Gelehrte, aber auch Politiker erkannt, dass Formen eingeborener Spiritualität etwa auf dem afrikanischen Kontinent, im Shintoismus, bei den Maoris, den Polynesiern, den Ureinwohnern Amerikas, den Inuit, den Mittelamerikanern, den Ureinwohnern der Anden und Hawaiis ebenfalls Quellen der Inspiration für das globale Dorf sind.’ [11]

            Wir wollen hier davon absehen, dass es in diesem Text ein merkwürdiges Gefälle gibt: von wichtigen Quellen der Weisheit’ über andere Lebenswege’ zu ebenfalls Quellen der Inspiration’ und dass die Gebiete in der Welt, die primär mündlich kommunizieren und die weitgehend animistisch sind, ebenso umständlich wie unbeholfen aufgezählt werden. Immerhin ist es ist das erste Mal, dass der Animismus unter dem Namen Formen eingeborener Spiritualität’ mit den sogenannten großen Religionen der westlichen, orientalischen und fernöstlichen Weltregionen zusammen genannt wird. Das ist zumindest ein Ausdruck der Toleranz dieser Religion gegenüber, die ja nicht nur der Anzahl ihrer Anhänger nach zu den großen Weltreligionen zu zählen ist.

            Im subsaharischen Afrika, besonders in Südafrika, wird ein weiterer Schritt von der Toleranz in die Richtung auf Achtung vollzogen, indem daran gearbeitet wird, die zahlreichen Vermischungen von Christentum und Islam auf der einen Seite und den einheimischen animistischen Religionen auf der anderen Seite theologisch ernst zu nehmen und den Anteil des Animismus in diesen synkretistischen Glaubensweisen positiv zu sehen. Der südafrikanische Theologe Gerrit Brand, der zur Bevölkerungsgruppe der Boeren gehört, nennt in seinem Artikel Salvation in African Christian theology: a typology of existing approaches’zahlreiche Werke von afrikanischen und westlichen Autoren, in denen die Befreiungstheologie oder Black theology’, sodann die Theology of inculturation’ und schließlich die Überwindung des Gegensatzes zwischen beiden dargestellt werden. Damit ist der Boden bereitet für eine positiv-kritische Würdigung der Bedeutung des traditionell afrikanischen Denkens für die afrikanische christliche Theologie. [12]

 

b) Offenheit im Blick auf zu erwartende Ergebnisse

Damit Dialoge zustande kommen, ist neben Gleichheit und Verschiedenheit ein gewisses Vorverständnis des zu behandelnden Themas vorausgesetzt. Man kann es auch vorsichtiger so ausdrücken, dass ein vorgeschlagenes Thema bei den Beteiligten eine gewisse Resonanz erzeugen muss, die nicht notwendigerweise bereits inhaltlich weitgehend artikuliert zu sein braucht. Wenn der Dialog beginnt, unterliegt er bestimmten Regeln, ist aber an diese nicht in einem äußerlichen verfahrensmäßigen Sinn gebunden. Es sind eher die Regeln der Höflichkeit, die ein spontanes Agieren und Reagieren nicht ausschließen. Und es ist wichtig, welche Art der Gesprächsführung am meisten Aussicht auf Erkenntnisgewinn verspricht. Die Gesprächspartner richten sich primär auf die Sache, um die es geht. Diese ist gewissermaßen das Zwischen’, das sie verbindet und in ihren Standpunkten auch frei lässt.

            Martin Buber hat in seinen Schriften zum dialogischen Prinzip’ eindringliche Analysen zu diesem ,Zwischen’ vorgelegt. Es geht ihm um den Dialog des Ich mit dem Du, der durch eine Instanz zwischen beiden vermittelt wird. Diese Instanz ist unverfügbar, und die Begegnung, die sie ermöglicht, wird von den Beteiligten als Geschenk erfahren. [13] An den interkulturellen Dialogen, die hier besonders thematisiert werden, sind in der Regel mehrere Personen beteiligt. Dementsprechend ist das Zwischen von etwas anderer Art als bei der Begegnung eines Ich mit einem Du, es ist vielleicht weniger intim und wohl auch weniger intensiv. Ferner sprechen wir bewusst von Dialogen in der Mehrzahl oder mit Franz M. Wimmer von einem Polylog’, da interkulturelle Verständigung eine vielfältige und häufig zu wiederholende Anwendung des dialogischen Prinzips’ erfordert. [14]     

            Dennoch lässt es sich nicht vermeiden, dass auch bei Dialogen dieses Typs Machtpositionen im Spiel sind, die auf Lebensalter, Energie und Kompetenz der Beteiligten beruhen und die zu dem zwanglosen Zwang’ des besseren Arguments, von dem Aristoteles spricht, hinzutreten. Freilich kann und soll in Dialogen so viel wie möglich argumentiert werden. Aber man muss sich irren können, und man muss beschämt sein können, ohne dass dies zum Abbruch des Dialogs führt. Die Meinung des Einzelnen muss sich nicht vor der Instanz eines herrschenden Diskurses oder gängiger Auffassungen rechtfertigen. Wer überhaupt etwas meint, meint auch immer etwas Richtiges’, hat Hans-Georg Gadamer einmal gesagt. Das Ergebnis eines Dialogs beruht deshalb nicht auf der überlegenen Position des einen oder anderen der Beteiligten. Es ist auch nicht als Verschmelzung der Horizonte’ der Beteiligten zu charakterisieren, wie es bei Gadamer geschieht. [15] An den Platonischen Dialogen kann man ablesen, dass ihr Ergebnis in ihrem Vollzug zur Erscheinung kommt.

            Wie bei der sokratischen Gesprächsführung verlangt die Offenheit für die zu erwartenden Ergebnisse auch generell in allen Dialogen, die unterschiedlichen Machtpositionen zu minimieren. Dies ist in philosophischen Dialogen, die auf eine gemeinsame Klärung von Sachverhalten gerichtet sind, am ehesten möglich und lässt sich auch in interkulturell philosophischen Dialogen praktizieren. Dieser Aspekt von Dialogen, wegen ihrer soeben genannten Eigenschaft insbesondere philosophischen Dialogen, hat eine unmittelbare politische Konsequenz. Er enthält die Aufforderung an andere Formen der Kommunikation in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft Technologie, die stärker von bestehenden Machtverhältnissen ausgehen, diese dialogischer zu machen. Man kann auch sagen, dass Dialoge eine Gegeninstanz der stärker auf Machtunterschieden beruhenden Kommunikationsformen bilden.

            Zur Offenheit von Dialogen, gerade auch interkulturellen Dialogen, gehört, dass es in ihnen bleibende Elemente des Nichtverstehens gibt. Ein Dialog ist nur, was er ist, wenn er auch scheitern kann. Wichtig ist, dass ich die Auffassungen des Anderen gelten lasse, auch wenn ich sie im eigenen Verständnishorizont nicht unterbringen kann. Dieses Gelten-lassen beruht auf dem Vertrauen zu dem Partner, der sich der Situation des Dialogs ausgesetzt hat. Es ist Ausdrucks der Achtung, welche die Dialogpartner für einander empfinden, die weiter geht als eine tolerante Haltung und auch als die des Respekts, die auf Abstand bedacht bleibt. Freilich haben Respekt und Achtung auch eine Grenze, die sich aus ihrem eigenen Wesen ergibt: Respekt und Achtung verdient nur, wer selbst respektiert und achtet. Schließlich muss klar sein, dass die Kommunikationsform der Dialoge eine Zugangsmöglichkeit zur interkulturellen Philosophie ist, die von europäisch-westlicher Seite aus konzipiert und angeboten wird. Damit ist zugleich gesagt, dass in den Dialogen die Offenheit eingeschlossen ist, zu anderen Kommunikationsformen überzugehen, wenn sich diese als angemessener erweisen.

 

c) Nicht diskursiv-sprachliche Mittel der Verständigung

 

Nicht nur bei interkulturell philosophischen Dialogen, sondern bei Dialogen allgemein ist es wichtig, dass die Personen, die am Dialog teilnehmen, im Idealfall leiblich anwesend sind. Dabei findet bereits vorsprachlich vielfacher Austausch statt. Das Antlitz des Dialogpartners qualifiziert ihn als solchen. Hier ist auf Emmanuel Levinas zu verweisen, der die authentische Spur des Anderen’ im Erscheinen der Nacktheit seines Antlitzes sieht. Die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen geht jeder Lehre von einer Weltordnung voraus und enthält einen unmittelbaren ethischen Appell. Dies ist eine Haltung die nicht auf eine Kategorie zurückgeführt werden kann. Sich der Verantwortung nicht entziehen können, kein Versteck der Innerlichkeit haben, in dem man in sich zurückgeht, vorwärts gehen ohne Rücksicht auf sich’.Das ist es, wozu diese Begegnung auffordert. Es zeigt die Bedeutung der leiblichen Anwesenheit der Partner des Dialogs. Wo sie nicht möglich ist, hilft es mir vielleicht, wenn ich mir das Antlitz des und der Anderen vorzustellen suche, mit denen ich dialogisieren will. [16]

            Wenn jemanden der Blick des/der Anderen trifft, sind darauf unterschiedliche Antworten möglich. Die Blicke der Dialogpartner können sich positiv begegnen, indifferent bleiben oder sich ausweichen. Jean-Paul Sartre hat gezeigt, dass mir der Subjekt-Andere’, den ich nicht nur als ein Objekt sehe, phänomenologisch und ontologisch durch die permanente Möglichkeit’ gegeben ist, durch ihn gesehen zu werden’. Aber wie ich den Anderen zunächst als Objekt-Anderen’, als ein anderes Exemplar der Gattung Mensch sehe, blickt er mich auch nicht nur als Subjekt-Anderen, sondern objektivierend an. Das bildet für Sartre den Grund für das Phänomen der Scham. Die Scham ... ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt’. Sofern ich mich jedoch als Subjekt-Anderer als erblickt erfahre, realisiert sich nach der Darstellung Sartres für mich, wie dies auch durch Levinas beschrieben wird, eine weltjenseitige Anwesenheit des Anderen’. [17]

            Levinas findet indessen, dass Sartre hier die Analyse zu früh beendet’, weil er primär die gewaltförmige Anwesenheit des Subjekt-Anderen’ herausarbeitet [18] und nicht sagen kann, was der Andere in einem ethischen Sinn für mich bedeutet. In der Situation des Dialogs, besonders wenn es darum geht, kulturell bedingte gesteigerte Fremdheit zu überwinden, wird vor allem der Ansatz von Levinas hilfreich sein. Aber es ist sicher auch von Nutzen, sich mit Sartre die Schwierigkeiten vor Augen zu führen, die durch den objektivierenden Blick entstehen. Der Mensch kann auch nach Sartre den objektivierenden Blick überschreiten und seine Für-sich seiende Subjektivität zurückgewinnen’. Er betont indessen, dass mein Objekt-Ich ... Bedingung meiner Selbstheit gegenüber dem Anderen und der Selbstheit des Anderen mir gegenüber’ ist. [19] Das kann man als Ausdruck eines einseitig auf sich selbst gerichteten Subjekts betrachten, der für den Dialog nicht förderlich ist.       

            Außer dem Blickkontakt gibt es eine Reihe anderer multisensorischer Wechselbezüge. Dazu gehören auch die Gestik und der Tonfall, die den sprachlich geführten Dialog begleiten und im Prozess des gegenseitigen Verstehens eine Rolle spielen. Sie stimulieren die Aufmerksamkeit und vermitteln Gefühlsaspekte des Gesagten, die sehr wichtig sein können. Nach Gadamer gehört es zur Disziplin der Rhetorik, die durch Platons Kritik zu sehr in Misskredit gebracht worden ist, dass sie die Bedingungen und auch die Mittel und Wege aufzeigt, wie eine Rede Überzeugungskraft bekommt. Sie kann zeigen, wie dem Gesagten Nachdruck zu verleihen ist, so dass seine Wirksamkeit gesteigert wird. Insofern hat sie etwas mit den Machtverhältnissen zu tun, die auch Dialoge durchziehen. Dabei soll der kritische Impuls Platons nicht ganz verloren gehen. Die Rhetorik, wenn sie sich selbst richtig versteht, tritt der Verzauberung des Bewusstseins durch die Macht der Rede’ entgegen. Darin ist sie der Ideologiekritik verwandt, sofern diese zur Entlarvung der Täuschung durch die Sprache’ dient. [20]       

 

d) Der spezifische Erkenntnisgewinn in Dialogen

 

Unsere Rückfrage bei Platon hat ergeben, dass Dialoge in besonderer Weise geeignet sind, dem Geschehenscharakter der Wahrheit gerecht zu werden. Dass ein bestimmtes Wissen über einen Sachverhalt in philosophischen Dialogen erscheint, sagt auch etwas über die Personen, die daran teilnehmen. Keiner von ihnen könnte dieses Wissen aus sich hervorbringen. Indem sie mit einander sprechen, bringen sie es zur Erscheinung. Sie haben sich etwas zu sagen, das sich nicht ein jeder von ihnen auch selbst hätte sagen können. Für jeden Gesprächsteilnehmer ist es letztlich unerwartet, was die jeweils Anderen sagen, sofern sie eben Andere sind und von anderen Voraussetzungen und Betrachtungsweisen aus reden. Sofern der/die Andere/n aus einer anderen Kultur kommen, ist das Maß des Unerwarteten um so größer.

            Bernhard Waldenfels arbeitet in seiner Topographie des Fremden heraus, dass es Steigerungsgrade des Fremdseins’ gibt, bei denen die Erscheinungen, die aus dem Kontext einer fremden Kultur stammen, ein bedeutsame Rolle spielen. Strukturelle Fremdheit’ geht weiter als alltägliche und normale Fremdheit und kann auf interkulturellen Ausdrucksdifferenzen’ beruhen. Die strukturelle Fremdheit wird noch durch die radikale Fremdheit’ überboten, die uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße (das heißt prinzipiell jede) Interpretationsmöglichkeit in Frage stellt’. [21] Ähnlich argumentieren Herfried Münkler und Bernd Ladewig in der Einleitung zudem von ihnen und Karin Meßlinger herausgegebenen Band: Die Herausforderung des Fremden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Fremdheit gradualisierbar ist’, wobei den Stufen der Fremdheit bestimmte Stufen des Verstehens’ zugeordnet sind. Dabei kann es im Extremfall zu definitiver Fremdheit’ kommen, auch wenn diese in unserer sich vereinheitlichenden globalen Kultur selten, wenn nicht gar unmöglich geworden’ ist. [22]

            Wir werden also für interkulturell philosophische Dialoge in besonderer Weise davon ausgehen können, dass der/die Andere/n mir etwas zu sagen hat/haben, das ich mir auf keine Weise auch selbst hätte sagen können. Dieser Typ von Dialog berechtigt deshalb zu der Erwartung eines ganz besonderen, spezifischen Erkenntnisgewinns. Die Problemlage der heutigen Welt bedarf solcher Erkenntnismöglichkeiten. Für die Fragen einer gerechten Verteilung der Ressourcen dieser Erde gibt es bisher keine überzeugenden oder praktikablen Lösungsvorschläge, für den adäquaten Umgang mit den ungeheueren Energien, die durch Kernspaltung freigesetzt werden, sind noch keine verlässlichen Regeln gefunden oder eingeführt, für die Beeinflussung des erblichen Materials von Menschen sind die Grenzen noch nicht bestimmbar und erst recht nicht durchsetzbar. Diese bisher ungelösten Probleme haben entscheidende philosophische Dimensionen. Um ihrer Lösung näher zu kommen, müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, und sicher auch die interkulturell philosophischer Dialoge.

            Diesen Ausgangspunkt der interkulturellen Philosophie möchte ich abschließend abheben von den Grundannahmen der diskurstheoretischen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat’ mit ihren universalistischen Prämissen und der daraus abgeleiteten Einbeziehung des Anderen’. [23] Schon in der Theorie des kommunikativen Handelns beruft sich Jürgen Habermas auf die universale Instanz nicht einer inhaltlich bestimmten Vernunft, sondern einer prozeduralen Vernunft’. Dem Geltungsanspruch des vernünftigen Argumentierens könne sich keiner entziehen, weil der Versuch dies zu tun, sich selber vernünftiger Argumente bedienen müsse. [24] Diese Weichenstellung’ in der Ansetzung bestimmter Grundbegriffe führt in der Moral- und Rechtstheorie’ zu einem Universalismus, der nach Habermas eigener Auffassung für Differenzen hochempfindlich’ bleibt.

            Habermas möchte zeigen, dass sich von den Voraussetzungen seiner Grundbegriffe aus der gleiche Respekt für jedermann ... nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen als Anderen’ erstreckt. Dabei hält er an der These fest, dass der Andere seine Andersartigkeit auf der Grundlage und mit den Mitteln des universal gültigen republikanisch-demokratischen Rechtsstaats zu artikulieren hat, da dieser auf dem Grundprinzip der Entscheidungsfindung durch vernünftiges Argumentieren aufgebaut sei. So möchte er der Herausforderung des Multikulturalismus’ begegnen. Dieser Ansatz wird jedoch dem Anderen nicht in seiner Andersartigkeit gerecht. Er läuft darauf hinaus, dass der Andere die gleiche vernünftige Argumentationsweise mit mir zu teilen hat. Er kann mir nicht etwas sagen, dass ich mir als vernünftig argumentierendes Wesen nicht auch selber hätte sagen können. Demgegenüber möchte ich an der Auffassung festhalten, dass im Dialog, anders als im Diskurs, der Andere in einem radikalen oder jedenfalls strukturellen Sinn anders ist und mir etwas zu sagen hat, dass ich nicht letztlich auch von meinen eigenen Argumentationsvoraussetzungen aus hätte finden können. Im Vollzug der interkulturell philosophischen Dialoge sind diese Anderen die Mitglieder von Kulturen, die nicht primär schriftliche Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen.

            Es ist bemerkenswert, dass Habermas vom Respekt’ für den Anderen spricht, genauer vom gleichen Respekt für jedermann’.Im Rahmen seiner Konzeption wäre Toleranz meines Erachtens ausreichend. Denn der Andere kann seine Andersartigkeit unter der Bedingung zur Geltung bringen, dass er dies in der Weise des vernünftigen Argumentierens tut, die auch die meine ist. Das verrät auch schon die Formulierung vom gleichen Respekt für jedermann’, die jeden Andern mir selbst oder jedenfalls der von mir bevorzugten Weise des vernünftigen Argumentierens gleich zu machen sucht. Respekt für den Anderen setzt wohl doch mehr Offenheit voraus, wie wir sie als einen wesentlichen Aspekt von Dialogen herausgestellt haben. Die Untersuchung dieser Aspekte hat aber schließlich ergeben, dass die Anderen in ihrer Andersartigkeit zur Geltung kommen, wenn ich ihnen gegenüber Achtung empfinde.

           



[1] Dieser Typus von Philosophie entsteht am Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts mit der ‘Entdeckung’ und Übersetzung von Texten aus der indischen und chinesischen Tradition. In Deutschalnd sind vor allem August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt an dieser Arbeit beteiligt.

[2] U. Libbrecht, Inleiding. Comparartieve Filosofie I. Opzet en ontwikkeling van een comparatief model, Assen 1995; II.Culturen in het licht van een comparatief model, Assen 1999; s. Band I, S. 16.

[3] G. Böhme, Der Typ Sokrates, Frankfurt/M. 1988, S. 131, s. zum Folgenden S. 132-141.

[4] Platon: ‘Theaitetos’, 150a-d, in: Platon, Sämtliche Werke, Berlin/Heidelberg: Lambert Schneider, o.J., Bd 2, S. 574-575.

[5] Platon, ‘Das Gastmahl’, 201c-d, in: Platon, a.a.O., Bd 1, S. 697.

[6] Platon, a.a.O., Bd 1, S. 541-616.

[7] Böhme, Platons theoretische Philosophie, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2000, S. 100-109. (Hinzufügung in Klammern im Zitat von mir, HK.)

[8] I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin: De Gruyter 1968, BdV, S. 71-89.

[9] H. Marcuse, ‘Repressive Toleranz’, in: R.P. Wolff/B. Moore/H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, S. 91-128, siehe S. 105.

[10] H. Küng, Projekt Weltethos, München/Zürich 1990, S. 98-103; siehe zum folgenden Absatz S. 159-160.

[11] Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen, Eine Initiative von Kofi Annan, aus dem Englischen übersetzt von K. Kochmann und H. Schickert, Frankfurt/M.: Fischer 2001, S. 51.

[12] G. Brand, ‘Salvation in African Christian theology: a typology of existing approaches’, in: Exchange 23: 8, 1999; G. Wilmore/J. Cone (eds), Black theology; a documentary history. 1966-1979, Maryknoll: Orbis Books 1979; St. J. Munga, Beyond the controversy: a study of African theologies of inculturation and liberation, Lund: Lund University Press 1998; D.R.K. Nkurunziza, Bantu philosophy of life in the light of the Christian message: a basis for an African vitalistic theology, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1989.

[13] M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, 5. Aufl. (1954, 1. Aufl.)

[14] F.M. Wimmer, ‘Polylog der Traditionen im philosophischen Denken’, in: R.A. Mall/ N. Schneider (Hg), Ethik und Politik aus interkultureller Sicht, Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi1996, S. 39-54.

[15] H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr-Siebeck 1961, S. 359-360.

[16] E. Levinas., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von N. Krewani, Freiburg/München: Alber 1983, S. 225-235; siehe auch zum übernächsten Absatz.

[17] J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, aus dem Französischen übersetzt von T. Koch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 463, 471 und 485.

[18] R. Olschanski, Phänomenologie der Mißachtung. Studien zum Intersubjektivitätsdenken Jean-Paul Sartres, Bodenheim: Syndikat 1997, S. 76-82.

[19] Olschanski, a.a.O., S. 83-85, Sartre, a.a.O., S. 511.

[20] Gadamer, ‘Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode”’, in: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Tübingen: Mohr-Siebeck 1986, S. 232-250, siehe S. 236-237 und 241.

[21] B. Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 35-37. (Hinzufügung in Klammern im Zitat von mir, HK.)

[22] H. Münkler/B. Ladewig, ‘Einleitung’, in: H. Münkler/K. Meßlinger/B. Ladewig (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 12-23, siehe S. 23.

[23] J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 7-9, siehe auch zum Folgenden.

[24] Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, Bd 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 44-71.