Heinz Kimmerle, Zoetermeer (NL)

Was heißt ‚Rückkehr ins Eigene‘ im Zusammenhang

eines hermeneutischen Zugangs zur interkulturellen Philosophie?

Zusammenfassung

Interkulturelle Philosophie vollzieht sich im wesentlichen in den Dialogen zwischen Philosophen und Philosophien verschiedener Kulturen oder im kritischen Nachvollzug solcher Dialoge. Innerhalb der europäisch-westlichen Philosophie steht sie somit in der Tradition der Hermeneutik. Deshalb ist von Gadamer viel zu lernen. Der universale Verstehensanspruch der Hermeneutik im Gadamerschen Sinn muss indessen relativiert werden. Wenn es um das Verstehen der Philosophie einer anderen Kultur geht, gilt im Unterschied zu Gadamers Auffassung die Devise: den anderen anders verstehen. In der Praxis der interkulturellen Philosophie zeigt sich, dass die Methodologie des Hörens intensiviert werden muss, dass Unverstandenes zu akzeptieren und unter bestimmten Bedingungen zu respektieren ist und dass die Offenheit für gänzlich unerwartetes Neues größer zu sein hat.

Bei den interkulturell philosophischen Dialogen gibt es verschiedene Stadia: auf das Hinausgehen in eine fremde Kultur, dessen Bedingungen nur in der Praxis voll zu begreifen sind, folgt die Rückkehr ins Eigene, die eine fortgesetzte Bewegung des Zurückkehrens ist und das Eigene nie als ein reines unvermischtes Eigenes erfährt. Die Dialoge gehen weiter. Aber jetzt steht im Vordergrund zu inventarisieren, was sie im eigenen Denken bewirkt und verändert haben. Auch dies lässt sich nur an Hand von praktischen Beispielen erkunden. Solche Beispiele sind unter anderen: die Konzentration auf den Lebensbegriff bei Hegel in den Jahren 1800-1802, die Frage, was genau Nietzsche mit seinem ‚übereuropäischen Auge‘ gesehen hat.

Einleitung

Als die primäre Vollzugsform der interkulturellen Philosophie haben sich Dialoge zwischen den Philosophen und Philosophien verschiedener Kulturen erwiesen. Für solche Dialoge gilt zunächst einmal, was das Wesen aller Dialoge ausmacht. Ich fasse die Hauptpunkte einer solchen Wesensbestimmung hier noch einmal in aller Kürze zusammen.1 Die Dialogpartner sind dem Rang nach gleich. Sie sprechen mit einander auf gleichem Niveau. Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist ein Dialog im vollen Sinn dieses Wortes nicht möglich. Aber in der Sache, um die es in den Dialogen geht, haben die Dialogpartner verschiedene Auffassungen. Wenn das nicht so wäre, wäre ein Dialog nicht notwendig. Die Dialoge sollen klären, in welchen Punkten Übereinstimmung erreichbar ist und in welchen Punkten unterschiedliche Auffassungen bestehen bleiben. Im Idealfall sind die Dialogpartner körperlich anwesend. Nur dann können Aspekte des Sprechens wie Tonhöhe, Lautstärke, Eindringlichkeit oder auch Unsicherheit voll zur Geltung kommen und außersprachliche Informationen, die durch Gestik und Körperhaltung zum Ausdruck kommen, hinreichend vermittelt werden. Das ist bei Dialogen mit Texten, die häufig genug an die Stelle direkt zwischen zwei oder mehr lebenden Partnern geführte Dialoge treten, so weit es geht durch die Vorstellungskraft der lebenden Dialogpartner zu ersetzen. Wichtig ist der Unterschied der Dialoge von Diskursen im Sinn der Habermas-Apelschen Diskursphilosophie. Sie gelingen nicht auf Grund der überall vorauszusetzenden allgemeinen Menschenvernunft, sondern auf Grund der Offenheit dafür, dass die anderen mir etwas zu sagen haben, das ich mir auf keine Weise auch selbst hätte sagen können. Die Achtung vor dem Anderen im Dialog ist etwas anderes als seine ‚Einbeziehung‘ in einen universal konzipierten diskurstheoretischen Rahmen.2

Hans-Georg Gadamer beschreibt in Wahrheit und Methode die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften als ‚Dialog mit der Geschichte‘. Seine Hermeneutik hat somit einen dialogischen Charakter. Dieser soll in Paragraph 1 als Ausgangspunkt genommen werden. Sofern bei interkulturell philosophischen Dialogen noch andere Voraussetzungen ins Spiel kommen als bei Dialogen im Rahmen der eigenen Überlieferung, heißt dieser Paragraph ‚Die anderen anders verstehen‘. Das bezieht sich im Hinblick auf Gadamer indessen nur auf seine Ausführungen zur Methodenlehre der historischen Geisteswissenschaften, nicht auf seine Hermeneutik-Konzeption insgesamt. Die Figur des ‚hermeneutischen Zirkels‘, wie sie nach Gadamer dem Verstehen zugrundeliegt,3 wird sich jedoch unter den genannten besonderen Voraussetzungen des interkulturellen Verstehens nicht durchhalten lassen.

In seinem Buch Martin Heideggers Angang der interkulturellen Auseinandersetzung unterscheidet Florian Vetsch bei Heidegger ‚zweiundeinhalb Schritte‘ des Verstehens anderer Kulturen, die sich für Heidegger aus Texten Hölderlins ergeben.4 Diese zweiundeinhalb Schritte lassen sich als zwei Stadien in den de facto zu führenden Dialogen zwischen Philosophen und Philosophien verschiedener Kulturen vollziehen. Als erstes Stadium wird in Paragraph 2 das Hinausgehen aus der Philosophie der eigenen in die einer fremden Kultur erörtert. Dass dies nicht auf rein theoretischem Weg, gewissermaßen am Schreibtisch oder vor dem PC, in zureichender Weise zu erfassen ist, habe ich früher bereits – am Beginn meiner Beschäftigung mit interkultureller Philosophie – als die ‚Methodologie der Tat‘ bezeichnet.5 Es wird an konkreten Beispielen aufzuzeigen sein, wie die Dialoge im einzelnen aussehen, die ein westlicher Philosoph in der Fremde einer anderen Kultur oder mit den Fremden aus einer anderen Kultur zu führen hat.

Ein besonderer Schwerpunkt der hier vorzulegenden Erörterungen wird im Paragraphen 3 die nähere Kennzeichnung des zweiten Stadiums sein, das ich ‚Rückkehr ins Eigene‘ nenne. In den Einleitungen zu drei kleinen Bänden der ‚Interkulturellen Bibliothek‘ habe ich dargelegt, dass es um eine unabschließbare Bewegung des Zurückkehrens geht und dass das Eigene nie ein reines Eigenes ist, sondern dass in ihm lediglich Verschiebungen in den Mischungen von Eigenem und Fremdem stattfinden.6 Ferner bieten diese drei kleinen Bände Beispiele dafür, wie sich das eigene, stark von westlichen Ausgangspunkten geprägte Denken verändert hat, wie die Aufnahme einer interkulturellen Dimension ins Denken konkret jeweils aussieht. Dafür wird hier nach einer Lektüre bestimmter Texte von Hegel und von Nietzsche verwiesen, die in dieser Weise ohne die Prägung durch zahlreiche interkulturelle Dialoge nicht denkbar wäre.

In einer Schlussbemerkung wird eingeräumt, dass die beiden Stadien in den interkulturell philosophischen Dialogen mit wechselnden Akzenten mehrfach vorkommen können und dass beide dem Ziel dienen, um es mit Heideggers Worten zu sagen, nicht ‚wirre Vermischung, sondern fügende Unterscheidung’ von Eigenem und Fremdem zu erreichen.7

1. Die anderen anders verstehen8

Zunächst möchte ich einige markante Aspekte der Hermeneutik Gadamers herausstellen, wie er sie in Wahrheit und Methode dargestellt hat, um die methodischen Ausgangspunkte der interkulturellen Philosophie, wie ich sie verstehe, davon absetzen zu können. Ganz wesentlich ist Gadamers Analyse der ‚hermeneutischen Erfahrung’. Gegen Hegel entwickelt er den Gedanken einer ‚Dialektik der Erfahrung’, die sich gerade nicht ‚im Wissen’ oder in der ‚Wissenschaft’ vollendet, sondern die ‚ihre eigene Vollendung […] in jener Offenheit für Erfahrung hat, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird’. Wenn Erfahrung heißt, sich selbst und sein bisheriges Wissen aufs Spiel zu setzen, hat sie kein definitives Ergebnis. Sie bleibt vielmehr offen für neue Erfahrung.9 Das gilt auch für die Erfahrung, die der Verstehende beim Verstehen und durch das Verstehen macht. Insofern kann Gadamer mit Schleiermacher und auch mit Dilthey übereinstimmen, die das Verstehen als eine ‚unendliche Aufgabe’ beschreiben.

Die Dialoge, die der Geisteswissenschaftler mit Texten aus der eigenen Geschichte führt, sind Dialoge eines Ich mit einem Du. Denn diese Texte sind Sprache, das heißt sie sprechen ‚von sich aus so wie ein Du’. Die Überlieferung, die in diesen Texten dokumentiert ist, ist ‚ein echter Kommunikationspartner, mit dem wir ebenso zusammengehören wie das Ich mit dem Du’. Für das Du der Überlieferung gilt wie für jedes Du, dass ich es nie ganz verstehe, weil ein solches totales Verstehen auch bedeuten würde, dass ich es manipulieren kann. Das ‚historische Bewusstsein’ bringt die Verfremdung zwischen dem heutigen Verstehenden und dem Text aus der Geschichte durch den ‚Zeitenabstand’ zur Geltung, zu dessen Überwindung bestimmte Vorkehrungen notwendig sind, die aber immer möglich ist. Das historische Bewusstsein weiß also um die ‚Andersheit des Anderen’.10

Die sogenannte ‚Rehabilitierung des Vorurteils’ ist ein viel diskutiertes Motiv der Gadamerschen Hermeneutik. Beim Vorurteil, das nicht nur im Kauf zu nehmen, sondern eine Bedingung der Möglichkeit des Verstehens ist, handelt es sich bekanntlich um ein vorläufiges Urteil, das wegen seiner Vorläufigkeit auch immer zum Teil ein falsches, ein noch nicht adäquates Urteil ist. Man kann es besser als Vor-urteil mit Bindestrich schreiben. Es entspricht dem Vorverständnis, das nach Rudolf Bultmann bei jedem Verstehen vorausgesetzt ist. Der ‚hermeneutische Zirkel’, der traditionell für das Hin- und Hergehen zwischen den Teilen und dem Ganzen eines Textes steht, bedeutet bei Gadamer ein Hin- und Hergehen zwischen dem vorläufigen Urteil und dem Text. Dieses führt zu einem immer besseren oder adäquateren Verständnis des Textes, das aber auch eine Veränderung im Verstehenden bedingt. Dabei stellt sich schließlich die Erfahrung des Verstandenhabens ein, die indessen wie jede Erfahrung etwas Vorläufiges behält.11

Der Dialog des Geisteswissenschaftlers mit der Überlieferung folgt der ‚Logik von Frage und Antwort’. Dabei ist nach Gadamer der Vorrang der Frage entscheidend. ‚Am Anfang steht […] die Frage, die uns der Text stellt, das Betroffensein von dem Wort der Überlieferung’. Die Frage, die der Verstehende an den Text stellt, auf die der Text eine Antwort geben soll, ‚steht selbst innerhalb eines Fragens’, das den Verstehenden in Frage stellt, sein bisheriges Sich-verstehen in die Schwebe bringt. Daraus folgt ein Primat des Hörens auf die an den Verstehenden gestellte Frage. Die dabei zu praktizierende Offenheit macht es möglich, dass es schließlich zu einer Verschmelzung des Horizonts des Textes mit dem des Verstehenden kommt. Es entsteht eine Einigkeit, in der beide die ursprüngliche Position verlassen und eine gemeinsame dritte Position einnehmen. Dies alles vollzieht sich in der Sprache und als Sprache. Das Gespräch zwischen dem heutigen Verstehenden und dem Text der Überlieferung ‚bildet eine gemeinsame Sprache heraus’.

So kann es im dritten und letzten Teil von Wahrheit und Methode zu der ‚ontologischen Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache kommen’, die in dem Satz kulminiert ‚Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache’ und die den Universalitätsanspruch der Hermeneutik begründet.12 Damit ist der Problemhorizont einer Methodenlehre der Geisteswissenschaften deutlich überschritten. Jürgen Habermas hat gegen die Universalität des sprachlich vermittelten Verstehens eingewandt, dass damit die Machtverhältnisse zwischen den Menschen nicht hinreichend erfasst werden können. Gadamer sucht sich dagegen zu verteidigen, indem er darauf verweist, dass Machtansprüche auch in der Sprache und durch die Sprache geltend gemacht werden.13 Er kann auf diese Weise jedoch der vielfältigen gesellschaftlichen Mechanismen nicht gerecht werden, die bei der Ausübung von Macht ins Spiel kommen. Insofern ist die Kritik an seiner Konzeption als ‚Sprachidealismus‘ nicht ganz von der Hand zu weisen.

In späteren Schriften hat Gadamer indessen sowohl innerhalb als auch außerhalb der ‚Denkgeschichte des Abendlandes’ die Andersheit des Anderen radikaler aufgefasst. Einerseits hat er durch mehrfache Gespräche mit Jacques Derrida sehen gelernt, dass dessen Arbeitsweise der Dekonstruktion verdeckte und vergessene Motive in der Geschichte der europäisch-westlichen Philosophie aufzuspüren und kritisch zu interpretieren vermag. Das führt über seinen anfänglichen Versuch hinaus, dieser Arbeitsweise in seinem hermeneutischen Universum einen bereits vorgesehenen Ort anzuweisen.14 Andererseits folgt Gadamer der Tendenz der Globalisierung und der weltweiten Wechselwirkungen zwischen den Kulturen. Mit dem Gedanken der ‚Oikumene’ erweitet er den Problemhorizont der Hermeneutik über das Abendland hinaus.15 Das Fremde anderer Kulturen stellt das Verstehen vor neue Schwierigkeiten. Trotzdem bleibt Gadamer beim universalen Anspruch des Verstehens in der Sprache und durch die Sprache. Denn die Sprache umfasst ‚das Ganze der Fremdheit, die zwischen Mensch und Mensch sich auftut […] Man muß das Wort suchen und kann das Wort finden, das den anderen erreicht, man kann […] die fremde, seine, des Anderen Sprache lernen. Man kann in die Sprache der Anderen übergehen, um den Anderen zu erreichen. All das alles vermag Sprache als Sprache.’16

Im Unterschied zu dieser These Gadamers suche ich Erfahrungen interkulturell philosophischer Dialoge geltend zu machen, in denen das Verstehen an seine Grenze stößt. Von Anfang an habe ich betont, dass es das Hören auf den Anspruch des anderen wesentlich zu intensivieren gilt. Es gilt, auch für gänzlich unerwartetes Neues offen zu sein. Es zeigt sich, dass man neben erhellendem und unerwartetem Verstehen mit unaufhebbarem Nichtverstehen konfrontiert wird. An die Stelle der Einigkeit durch Horizontverschmelzung tritt die kritische Unterscheidung gemeinsamer und verschieden bleibender Standpunkte. Sofern es dabei um Erfahrungen geht, die zu neuen Standpunkten führen, wird Gadamer ihnen gegenüber – wie gegenüber jedweder Erfahrung – offen sein. Er bleibt dem ‚Vorbild der platonischen Dialektik’ verpflichtet, die im ‚Nichtfestgelegtsein der Antwort’ besteht und die ‚immer ins Offene weist’.17

2. Das Hinausgehen aus dem Eigenen und die Begegnung mit dem Fremden

Die ‚Struktur der zweiundeinhalb Schritte’, die Vetsch für die ‚interkulturelle Auseinandersetzung’ Heideggers aus dessen Hölderlin-Auslegungen der Jahre 1941-43 erarbeitet, beginnt damit, dass der Hinausgehende ‚vor seinem Aufbruch in die Fremde […] noch im Eigenen befangen’ ist.18 Diese Befangenheit, die in der europäisch-westliche Philosophie seit der Aufklärung als Eurozentrismus in Erscheinung tritt, kann kaum schwerwiegend genug eingeschätzt werden. Sie ist bis zu Heidegger vor den genannten Hölderlin-Auslegungen und seinen Gesprächen mit japanischen und anderen Philosophen aus dem Fernen Osten äußerst virulent, und sie bleibt bei Gadamer bis zu seinem Oikumene-Gedanken maßgebend. Das konkrete Hinausgehen in die Fremde oder die konkrete Konfrontation mit dem Fremden bzw. den Fremden ist offenbar erforderlich, um diese Befangenheit zu durchbrechen.

Was beim späten Heidegger und beim späten Gadamer zu beobachten ist, zeigt sich auch bei einigen französischen Philosophen. Maurice Merleau-Ponty wird durch die konkreten Untersuchungen von Claude Lévi-Strauss über Das wilde Denken südamerikanischer Indianer dazu veranlasst, eine ‚wilde Region’ in den präreflexiven Schichten des menschlichen Bewusstseins anzunehmen.19 Und Derrida gelangt in Verbindung mit den Auffassungen von Georges Bataille durch die Kenntnisnahme genauer Analysen der Sitte des ‚potlatsch’ bei nord- und mittelamerikanischen Indianervölkern durch Marcel Mauss zu einer Überschreitung der abendländischen Ökonomie des Gebens und Nehmens, die dem do ut des verhaftet bleibt.20

Das Hinausgehen aus dem Eigenen und die Begegnung mit dem Fremden, das in der genannten Darstellung von Florian Vetsch als der zweite Schritt auf den ersten folgt, hier indessen als das erste Stadium interkulturell philosophischer Erfahrungen introduziert werden soll, ist nicht in kurzen allgemeinen Worten zu beschreiben. Zwei Beispiele müssen genügen, um von dem Gemeinten einen Eindruck zu geben. Ich beziehe mich auf zwei Tagungen afrikanischer und europäischer Philosophen, an denen ich beteiligt war und in denen sich eine rein theoretisch nicht zu antizipierende Konfrontation des eigenen mit fremdem Philosophieren ereignet hat. Bei der ersten handelt es sich um eine in Zusammenarbeit mit Herta Nagl-Docekal und Franz Wimmer 1993 in Wien und in Rotterdam gehaltene Doppel-Tagung zum Thema Philosophy and Democracy in Intercultural Perspective. Die zweite, die 1996 in Dakar stattfand, habe ich gemeinsam mit Jürgen Hengelbrock und Souleymane Bachir Diagne vorbereitet und geleitet. Sie behandelte das Problem Temps et développement dans la pensée de l’Afrique subsaharienne. Die Akten beider Tagungen sind in den ‚Studien zur interkulturellen Philosophie‘, Band 3 und Band 8, veröffentlicht.21

Im Jahr 1989 hat sich weltweit so etwas wie ein Sieg der Demokratie ereignet. Die Demokratisierungsbewegung in den osteuropäischen Völkern, die damals einsetzte, hat sich auch auf dem afrikanischen Kontinent südlich der Sahara fortgesetzt. Derrida hat in dieser Zeit eine wesenhafte Verbindung von Demokratie und Philosophie aufgezeigt. Indem er das Recht auf Philosophie jedem Menschen zubilligt, bringt er es in eine Parallele zu dem Recht auf politische Selbstbestimmung aller Bürger eines Staates.22 Eben diese wesenhafte Verbindung von Philosophie und Demokratie lag auch der Doppel-Tagung von 1993 in Wien und in Rotterdam zugrunde, an der elf afrikanische Philosophen und elf Kollegen aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden teilgenommen haben. Es war kein Zufall, dass an vielen Nationalen Kongressen in Afrika, auf denen demokratische Verfassungen für einzelne Länder erarbeitet wurden, auch Philosophen beteiligt waren. Yacouba Konaté aus Abidjan erfasste die Begründung demokratischer Verhältnisse in seinem Staat Elfenbeinküste als das Sprachmündigwerden der afrikanischen Menschen, die in der kolonialen Zeit kein Recht, selbst zu sprechen, besessen hatten. Von verschiedenen Rednern wurden zahlreiche demokratische Elemente im politischen Leben und in der Philosophie der traditionellen afrikanischen Völker aufgewiesen. Demgegenüber wurde die Tradition der westlichen Philosophie von Ernest Wamba dia Wamba aus Dar es Salaam dafür kritisiert, dass sie sich immer wieder mit den Königen und den Herrschenden statt mit der Masse des Volkes verbündet hat. Und die Frage, ob die westliche Demokratie die Antwort auf das afrikanische Problem sei, wurde von Marie Pauline Eboh aus Port Harcourt mit einem klaren ‚Nein‘ beantwortet. Die afrikanischen Kollegen gingen im Oktober 1993 davon aus, dass im Unterschied zur westlichen Welt in Afrika eine bessere, demokratischere Demokratie notwendig auch möglich sei. Der Mehrheitsdemokratie des Westens stellten sie das Ideal einer afrikanischen Konsensusdemokratie gegenüber.

Von der Seite der europäisch-westlichen Philosophen wurde mit Nachdruck auf die kulturelle Bedingtheit der politischen Ideen und Lebensformen hingewiesen, auf die Verwundbarkeit der Demokratie, die den Faschismus als undeutlichen Schatten mit sich führt, sowie auf die Ambivalenz der Willensäußerungen der Masse. Was für die westlichen Teilnehmer an diesen Dialogen unverständlich blieb, war die Antwort auf die Frage, wo die afrikanischen Philosophen ihren Optimismus, ihre auf das Höchste gerichteten Erwartungen hernahmen. Die politische Praxis ihrer Länder hatte mit den Folgen der Kolonialisierung zu kämpfen. Aber sie hatte in der nachkolonialen Zeit doch auch zu tiefen Enttäuschungen durch afrikanische Politiker geführt. Was ist es es in der Mentalität afrikanischer Menschen, das einen Optimismus und eine freudige Erwartung bedingen, welche die gegenwärtige Praxis so weit hinter sich lassen? Diese Frage blieb unbeantwortbar. Und das Scheitern demokratischer Politik, das seitdem in den meisten afrikanischen Ländern offenkundig geworden ist, kann keineswegs als eine einfache Widerlegung der damaligen Erwartungen gelten. Vielleicht ist für das Verhältnis von Theorie und Praxis im afrikanischen Denken ein ganz anderer Zeithorizont anzunehmen, als dies im Westen denkbar oder auch nur vorstellbar ist.

Die Probleme der Entwicklung, die im Kontext der afrikanischen Politik und Ökonomie unübersehbar sind, hängen aus philosophischer Sicht weitgehend mit dem Zeitdenken und dem Zeiterleben der afrikanischen Menschen zusammen. Die 24 Teilnehmer aus zehn afrikanischen Ländern an der Tagung von 1996 in Dakar und auch die 11 Teilnehmer aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden erhofften sich von der Klärung des Zusammenhangs von Zeitdenken und Zeiterleben mit den Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung einen wesentlichen Aufschluss darüber, wie diese Schwierigkeiten zu bewältigen sind. Es ergab sich für das afrikanische und für das westliche Zeitdenken und Zeiterleben ein sehr differenziertes Bild. Als ein gemeinsamer Nenner des afrikanischen Zeitdenkens schälte sich heraus, dass es immer konkret ist, an den Inhalt der Zeit gebunden. Es ist Zeit des Säens oder Zeit des Erntens, Regenzeit oder Trockenzeit, Zeit der Arbeit oder Zeit des Feierns bestimmter Feste. Für das westliche Zeitdenken erwies sich der abstrakte Charakter als vorherrschend. Zeit wird als ,sukzessive Synthesis‘ gedacht, um es mit Kant zu formulieren, als das Aufeinanderfolgen gleicher Einheiten: Sekunden Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre usw. Heidegger spricht im Hinblick auf dieses Zeitdenken auch von ‚chronometrischer Zeit‘, die mit dem Zeiterleben oft merkwürdig kontrastiert. Warten wird auch in der westlichen Welt oft als unendlich lang erfahren, ein spannendes Ereignis scheint allermeist rasend schnell vorüber zu gehen.

Die afrikanische Zeitauffassung ist an unterschiedlichen Abläufen des Lebens und deren jeweiligen Rhythmen orientiert. Sie verbindet die Orientierung an natürlichen Parametern, sowohl des Kosmos als der irdischen Natur, mit solchen des menschlichen Lebens, sowohl im gemeinschaftlichen als auch im individuellen Bereich. Das chronometrische Zeitdenken in der westlichen Welt ist von der Gesamtheit natürlicher und menschlicher Parameter abgelöst. Es hängt eng mit der industriellen Produktionsweise der gesellschaftlichen Arbeit zusammen. Pünktlicher Beginn, gleichmäßiger Einsatz während des Verlaufs und ein deutlich bestimmtes Ende des Arbeitstages sind unerlässliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche industrielle Produktion.

Im Ergebnis waren Vor- und Nachteile der kulturell und geschichtlich unterschiedlichen Weisen des Zeitdenkens und des Zeiterlebens gegen einander abzuwägen. Das führte zwar nicht zu einer ‚Verschmelzung der Horizonte‘, aber doch zu einer Annährung der Standpunkte sowie zu der Bereitschaft, gegenseitig von einander zu lernen. Sofern in Afrika Entwicklung hin zu industriell organisierter Arbeit gewünscht wird, ist in gewissen Grenzen eine Übernahme abstrakt chronometrischer Zeitparameter unvermeidlich. Umgekehrt lassen sich die Hektik und auch die gesundheitlichen Folgen des westlichen Zeitdenkens vermindern, wenn mehr auf die Rhythmen des natürlichen und menschlichen Lebens geachtet wird. Bei aller Annäherung blieben deutlich unterschiedliche Akzente in der Art und Weise, wie Zeit gedacht und erlebt werden oder werden sollten.

Die hermeneutische Bewegung, die in solchen interkulturell philosophischen Dialogen stattfindet, kann man nicht mehr mit Hilfe die Figur eines ‚Zirkels‘ beschreiben. Das Verstehen rundet sich nicht zu einem Ergebnis, in dem Einigkeit erzielt wird. Stattdessen möchte ich von einem ‚nicht ganz geschlossenen Oval‘ sprechen, um anzuzeigen, dass unterschiedliche Standpunkte bestehen bleiben. Darüber hinaus gibt es auch die Erfahrung eines unaufhebbaren Nichtverstehens. Es gibt bestimmte Auffassungen, die zum Beispiel in traditionellen afrikanischen Kulturen allgemeine Zustimmung gefunden haben, die sich indessen trotz allen Bemühens nicht in einen europäisch-westlichen Verstehenshorizont einfügen lassen. Sie bilden einen ‚Block‘, der durch das Hin- und Hergehen des Verstehens nicht aufgelöst werden kann. Dazu gehört die Sitte bei den Fanti im heutigen Ghana, von der ich als Gastprofessor an der Universität in Legon gehört habe, dass beim Tod eines Familienoberhaupts eine seiner Frauen lebend mit ihm begraben wurde. Das wurde nicht als Strafe aufgefasst, auch von den Betroffenen nicht, sondern als eine Art von Belohnung, die dankbar angenommen wurde. Ähnlich verhält es sich ja bei den weithin bekannten Witwenverbrennungen im traditionellen Hinduismus.

3. Was heißt: Rückkehr ins Eigene?

Das Hinausgehen aus dem Eigenen und die Begegnung mit dem Fremden, welche konkreten Formen es auch immer annimmt, ist ein erstes Stadium des interkulturellen Verstehens. Von einem bestimmten Augenblick an kommt es zu einer Umkehrung der Bewegungsrichtung. Die Formel ‚Rückkehr ins Eigene‘, die ich für das darauf folgende zweite Stadium vorschlagen möchte, kann jedoch leicht missverstanden werden. Es geht nicht um einen Abschluss des ersten Stadiums, sondern um die Fortsetzung der interkulturell philosophischen Dialoge, bei denen aber nun der Akzent auf das gegenüber Liegende gelegt wird. Die Frage steht im Vordergrund: Was ist mit dem eigenen Denken passiert, wie lassen sich die Veränderungen erfassen, die darin passiert sind und weiterhin passieren, wenn mit anderen Philosophen und Philosophien Dialoge geführt werden? Das Eigene war auch vor dem Hinausgehen in das Fremde nicht ein unvermischtes reines Eigenes. Jeder war und ist Betroffener von den Begegnungen, Konfrontationen und Vermischungen, die ständig zwischen allen Kulturen in irgendeiner Form stattfinden. Die Konzentration auf das Verstehen der Philosophien anderer Kulturen hat indessen Rückwirkungen auf das eigene Denken und Philosophieren, die das Fremde im Eigenen deutlich verstärken.

Um solche Veränderungen festzustellen, um sie zu erfassen und gewissermaßen zu inventarisieren, gehe ich methodisch ebenso vor wie beim ersten Stadium der Konzentration auf das Fremde. Das heißt ich folge weiterhin der ‚Methodologie der Tat‘. An der Praxis der philosophischen Arbeit ist abzulesen, was nach langjährigen interkulturell philosophischen Dialogen mit dem Schwerpunkt auf dem Verstehen der und des anderen nunmehr konkret anders geworden ist. Allgemein kann man sagen, dass das eigene Denken eine ‚interkulturelle Dimension‘ bekommen hat. Die Ergebnisse der interkulturellen Erfahrungen führen dazu, dass nun ‚das Eigene anders gesehen‘ wird, und zwar in einem deutlich verstärkten Maß anders gesehen wird. Die Fragen und Problemstellungen, mit denen der Verstehende in diesem Stadium beschäftigt ist, werden am Denken der anderen philosophischen Traditionen gespiegelt, auf die er sich lange Zeit konzentriert hat. Dabei wirkt die eigene Arbeit weiterhin auch auf die Partner aus anderen Kulturen ein. Es kommt zu ‚Spiegelungen‘, in denen man in den Spiegel der anderen blickt, aber auch für die anderen als Spiegel fungiert.

In den drei Bändchen, in denen ich die Umkehrung der Bewegungsrichtung bei den interkulturell philosophischen Dialogen dokumentiert habe, sprechen zwei Beispiele in besonderem Maß für sich. So habe ich bei einer Interpretation der Hegelschen Philosophie, bei der es um die Phase seines Denkens geht, in welcher der Lebensbegriff im Zentrum steht (1800-1802), dieses Denken mit dem Animismus der traditionellen afrikanischen Philosophie in Verbindung gebracht. Das ist für europäisch-westliche Leser ebenso befremdlich wie es für afrikanische Philosophen einen ganz anderen Hegel als den der Rechtsphilosophie oder der Berliner Vorlesungen ins Blickfeld rückt. Dann geht es nicht mehr um die Leugnung jeglicher geschichtlicher Prozesse, religiös hochstehender Auffassungen und des Vorhandenseins von Philosophie in Afrika, sondern um Gedanken Hegels, mit denen er ihnen mit einem Mal sehr nahe steht.

Von asiatischen Philosophen und von europäisch-westlichen Vertretern der Vergleichenden Philosophie wird Nietzsches Hochschätzung der indischen Philosophie und seine Vorliebe für die Islam-Kultur häufig und mit Nachdruck herausgearbeitet. Das ist ein wichtiger Schritt in die Richtung einer interkulturell philosophischen Lektüre der Philosophie Nietzsches. Eine genauere und mehr umfassende Analyse seiner Texte zeigt ferner, dass er die Vorteile primär mündlich kommunizierender Kulturen durchaus zu schätzen weiß, sofern sie im Übergang zur antiken griechischen Literatur für Lebendigkeit und Plastizität sorgen. Die Bedeutung, die er der Übernahme des Gottes Dionysos aus vor- und außergriechischen Kulturen im klassischen Griechentum beigemessen hat, ist allgemein bekannt. Er kann sich bei dieser relativen Öffnung für außereuropäische philosophische Motive aber nicht von dem Denken des Bildungsbürgertums seiner Zeit befreien, das angeblich gänzlich schriftlose Kulturen oder solche, die den Dionysoskult ohne die Verbindung mit dem Apollinischen zelebrieren, als ‚primitiv‘ und – in der Terminologie der alten Griechen selbst – als ‚barbarisch‘ qualifiziert. Aus der Perspektive der primär mündlich betriebenen traditionellen afrikanischen Philosophie muss man sagen, dass das ‚übereuropäische Auge‘ Nietzsches, das im West-Ost-Vergleich viel gepriesen wird, doch auch einseitig und vorurteilsbeladen war.

Schlussbemerkung

Aus Zeitgründen muss ich mich auf diese beiden Beispiele beschränken, an denen abzulesen ist, was ‚Rückkehr ins Eigene‘ im Rahmen des interkulturell philosophischen Verstehens heißt. Eine Reihe von Dialogen, die zwischen afrikanischen, und zwar ost- und westafrikanischen Philosophen, einerseits und europäisch-westlichen Philosophen aus verschiedenen Ländern andererseits über ‚das Verhältnis von Person und Gemeinschaft‘ geführt worden ist, könnte noch verdeutlichen, wie das Sich-Aneinander-Spiegeln interkulturell verschiedener Auffassungen vor sich geht. Das führt hier indessen zu weit. Damit würden wir auch gewissermaßen in ein drittes Stadium interkulturell philosophischer Dialoge übergehen. Lassen Sie mich so viel andeuten, dass es zwischen Positionen zu erstaunlichen Konvergenzen gekommen ist, die – nicht nur auf afrikanischer Seite – von vorherrschendem Kommunalismus oder Kommunitarismus und – nicht nur auf westlicher Seite – von der konstitutiven Rolle des Individuums ausgegangen sind. Bei allen konvergierenden Entwicklungen sind freilich die weiterhin bestehenden Divergenzen nicht vergessen worden.23

Solche Spiegelungs-Effekte treten am ehesten nach dem zweiten Stadium des interkulturellen Verstehens auf. Sie setzen wiederholte Bemühungen um dieselben Fragen voraus. Wenn man so will, bilden sie ein drittes Stadium. Sie können aber auch im ersten oder zweiten Stadium bereits vorkommen. Sie sind ein Strukturmoment interkulturell philosophischer Dialoge. In meiner interkulturell philosophischen Arbeit hat mich zu allen Zeiten die Frage nach der Bedeutung des Gegensatzdenkens mehr oder weniger intensiv beschäftigt, das in der europäisch-westlichen Tradition eine so prominente Rolle spielt, das indessen in der traditionellen afrikanischen Philosophie so gut wie abwesend ist.

Auch das hier ausführlicher beschriebene erste und zweite Stadium müssen nicht notwendig in der Zeit auf einander folgen. Während beim Hinausgehen in eine fremde Kultur und Philosophie diese im Vordergrund steht, wird dabei auch die Reflexion auf Veränderungen im eigenen Denken immer wieder eine kleinere oder größere Rolle spielen. Und die Rückkehr ins Eigene kann und soll in sich die Aufmerksamkeit auf neu zu Verstehendes in der anderen Kultur und Philosophie ab und an wieder stärker betonen. Im Grunde hat jeder seinen eigenen Weg zu finden, wie diese Stadien oder Strukturmomente des interkulturellen Verstehens in seiner interkulturell philosophischen Arbeit in ihrer Unterschiedenheit zusammen gehören.

Das Hinausgehen aus dem Eigenen und die Begegnung mit dem Fremden, die Rückkehr ins Eigene und die Spiegelungen des Eigenen im Fremden und umgekehrt sind aber nicht nur besondere Stadien oder Strukturen einer speziellen philosophischen Arbeit, die dann interkulturelle Philosophie heißt. Sie sind vielmehr notwendig, um den Menschen ‚heimisch‘ werden zu lassen in seiner Welt. Das hat Hölderlin nach Heidegger in seinen Stromhymnen dichterisch ausgedrückt. Wer an einem Ort bleibt, erfährt nicht, wer er selbst ist. Das Strömen, die Wanderschaft, ist dazu unvermeidlich. Denn das Eigene kann nur sein, was es ist, wenn es aus ‚der überlegenen Anerkennung des Fremden‘ herkommt. Durch das Zusammenfügen von Eigenem und Fremdem kann der Mensch heimisch werden in seiner Welt. Das kann gelingen und auch misslingen. Erst ‚durch den Schmerz des Opfers‘, den das Hinausgehen aus dem vermeintlich Eigenen bereitet, wird der Mensch reif für das wirklich Eigene, das das Fremde in sich aufgenommen hat. Der ‚Durchgang durch das Fremde‘ führt zur ‚Einigung‘ mit ihm, nicht im Sinn einer Vereinheitlichung und schon gar nicht als ‚wirre Vermischung‘, sondern als ‚fügende Unterscheidung‘.24

Ebenso wenig wie die Rückkehr ins Eigene abschließbar ist, kommt an das Heimischwerden des Menschen in seiner Welt jemals ein Ende. Und auch in diesem Geschehen bleiben fremde Elemente, die für eine fügende Unterscheidung zu sperrig sind. Dafür ist auf das zu verweisen, was beim Hinausgehen in die fremde Kultur und Philosophie als ‚Block‘ bezeichnet worden ist. Die Bewegung des Verstehens ist hier wie beim Hinausgehen aus dem Eigenen und der Begegnung mit dem Fremden nicht als ‚Zirkel‘ zu beschreiben, der sich schließt, sondern als ein ‚nicht ganz geschlossenes Oval‘. Da die Blickrichtung bei der Rückkehr ins Eigene umgekehrt ist, indem primär die Veränderungen im eigenen Denken durch die Begegnung mit dem fremden registriert werden, wäre das nicht ganz geschlossene Oval bildlich gesprochen nach der anderen Seite hin offen. Wenn man nun beide nicht ganz geschlossenen Ovale auf einander zu bewegt, so dass sie sich berühren, erhält man eine liegende Acht, das Zeichen für das Unendliche. Das soll bedeuten: Unter veränderten Bedingungen bleibt das Verstehen in der interkulturellen Philosophie in seinen verschiedenen Stadien oder Strukturen eine unendliche Aufgabe.

1 Vgl. dazu im einzelnen H. Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie, in: I. Därmann/St. Hobuß/U. Lölke (Hg), Konversionen. Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive, Amsterdam/New York 2004, S. 171-190, sowie in: Kimmerle, Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, Nordhausen 2005, S. 97-117.

2 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, S. 7-9.

3 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 250-261.

4 F. Vetsch, Martin Heideggers Angang der interkulturellen Auseinandersetzung, Würzburg 1992, S. 61 und 68-90.

5 Kimmerle, Afrikanische Philosophie als Weisheitslehre? in: R.A. Mall/D. Lohmar (Hg), Philosophische Grundlagen der Interkulturalität, Amsterdam/Atlanta, GA 1993, S. 159-180, s. bes. S. 178, Anm. 1.

6 Kimmerle, Rückkehr ins Eigene. Die interkulturelle Dimension in der Philosophie, Nordhausen 2006, S. 7-22; Das Eigene – anders gesehen. Ergebnisse interkultureller Erfahrungen, Nordhausen 2007, S. 9-12; Spiegelungen westlichen und afrikanischen Denkens, Nordhausen 2008, S. 7-12.

7 M. Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, in: Gesamtausgabe. II. Abteilung. Vorlesungen 1923-1944, Band 33, Frankfurt/M. 1984, S. 68.

8 Diese Formulierung übernehme ich von dem Titel eines Vortrags, den Suzanne Metselaar am 20.05.2009 bei einem Symposium im Lloyd Hotel in Amsterdam über meine neueren Arbeiten gehalten und in dem sie die Methodologie meiner interkulturell philosophischen Dialoge im Unterschied zu Gadamers Hermeneutik dargestellt hat.

9 Gadamer, a.a.O. (in Anm. 2), S. 337-338.

10 Ebenda, S. 342.

11 Ebenda, S. 261-268 und 275-283.

12 Ebenda, S. 449-465, s. bes. S. 450.

13 J. Habermas, Zu Gadamers ›Wahrheit und Methode‹, in: K.-O. Apel/C. von Bormann/R. Bubner/H.-G. Gadamer/H.J. Giegel/J. Habermas, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971, S.45-56; Gadamer, Replik, in demselben Band, S. 283-317.

14 Ph. Forget (Hg), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Laruelle, München 1984; Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion (1985), in: Wahrheit und Methode II. Ergänzungen. Register, Tübingen 1986, S. 361-372; Dekonstruktion und Hermeneutik (1988), in: Hermeneutik im Rückblick, Gesammelte Werke, Band 10, Tübingen 1995, S. 138-147.

15 Gadamer, Europa und die Oikumene (1993), in: Hermeneutik im Rückblick, a.a.O. (in der vorigen Anm.), S.267-284.

16 Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, a.a.O. (in Anm. 13), S. 364.

17 S. Wahrheit und Methode, a.a.O. (in Anm. 2), S. 344-345 und den im Anhang dieses Artikels abgedruckten, bisher unveröffentlichten Brief Gadamers vom Januar 2001.

18 Vetsch, Heideggers Angang, a.a.O. (in Anm. 3), S. 68.

19 C. Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962; M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964.

20 M. Mauss, Essai sur le don, Paris 1950; Derrida, De l’économie restrainte à l’économie générale. Un hegelianisme sans réserve, in: L’écriture et la différence, Paris 1967, S. 369-407; Donner le temps, I. La fausse monnaie, Paris 1991; vgl. G. Bataille, La part maudite. Essai de l’économie générale. I. La consumatiom, Paris 1949; Le coupable, Paris 1961.

21 H. Kimmerle/F.M. Wimmer (Hg), Philosophy and Democracy in Intercultural Perspective, Amsterdam/Atlanta, GA 1993; S.B. Diagne/H. Kimmerle (Hg), Temps et développement dans la pensée de l’Afrique subsaharienne, Amsterdam/Atlanta, GA 1998.

22 Derrida, Du droit à la philosophie, Paris 1990.

23 Kimmerle, The Concept of Person in African Thought: A Dialogue between African and Western Philosophies, in: H. Wautischer (Hg), Ontology of Consciousness. Percipient Action, Cambrigde, MA/London 2008, S. 507-524.

24 Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, a.a.O. (in Anm. 7), S. 67-69.