Der Diskurs der hier folgenden Darstellung ist einführend. Damit ist die Absicht bezeichnet, an die Philophien der Differenz heran- und in sie einzuführen. Das heißt indessen nicht, dass keine eigene Interpretation geboten und keine Position bezogen wird. So werden die Leser gleich zu Anfang mit dem Paradox konfrontiert, dass eine Einführung in die Philosophie oder ein Gebiet der Philosophie selbst philosophisch sein muss. Nach der weiter unten (in Teil II, Kapitel 4, Abschnitt d) näher erläuterten Auffassung, die G. Deleuze und F. Guattari in ihrem Buch: Was ist Philosophie? (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; Französische Originalausgabe: Paris 1991, S. 115 und 126) vertreten, bedeutet dies, dass Philosophie in sich selbst politisch ist, da sie, in der Tradition Th. W. Adornos und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, aus dem ‘Widerstand gegenüber der Gegenwart’ hervorgeht. Dieser Auffassung möchte ich mich anschließen. Wogegen sich die Philosophien der Differenz primär richten, was also die kritische Zuspitzung der ‘Politik der Differenz’ ausmacht, soll kurz umrissen werden. In erster Linie gilt es, nicht nur die massive Unterdrückung von Minderheiten zu kritisieren und zu bekämpfen, sondern auch bereits die subtilen und oft verdeckten Formen der Geringschätzung des anderen Geschlechts, der damit angezeigten anderen Weisen des Denkens und Fühlens und der Mitglieder anderer Kulturen innerhalb der heutigen westlichen Kultur. Der/die/das Andere/n soll/en nicht nur toleriert, sondern als gleichrangig respektiert werden. Ferner ist die Kritik an der Technik und ihrer Eigendynamik, wie sie von Adorno und M. Heidegger entwickelt werden, auf die Tele-Technologie auszudehnen. Insbesondere deren uniformisierende Tendenz gibt dem Denken der Differenz Anlass zu kritischen Reflexionen und zu einer Gegenstrategie. Dabei geht es nicht um die Tatsache, dass sich die Medien der Computertechnik und der Telekommunikation universaler Symbolsprachen bedienen, die den Unterschied von realen und nur scheinbaren virtuellen Welten aufzuheben scheinen. Diese Gegebenheit wird vielmehr von den Differenzphilosophien als Kennzeichen des heutigen Denkens und Fühlens ernst genommen. Aber es ist notwendig zu zeigen, dass die digitalen Medien nicht alles sind, dass sie in ihrer begrenzten Funktion und Bedeutung erkannt und eingesetzt werden müssen. Es geht, mit einem Wort, darum, die erweiterte Rolle des Symbolischen, aber auch seine Grenzen aufzuzeigen. Das letztere unternimmt D. Mersch in dem ebenso eindringlichen wie umfangreichen Text seiner Habiltationsschift: Materilität, Präsenz, Ereignis. Untersuchungen zu den Grenzen des Symbolischen (Darmstadt: Technische Universität 2000). Was die positive Seite des Philosophierens und deren politisches Pendant betrifft, möchte ich Deleuze und Guattari mit ihrer Weiterführung des Ansatzes der Kritischen Theorie nicht folgen, da sie zur Annahme einer Utopie mit quasi endzeitlichen Erwartungen (einer ‘neuen Erde’ und eines ‘neuen Volkes’) führt. Was die Philosophie tun kann, wenn sie ernst nimmt, dass vom Sein nur das Anderssein behauptet werden kann, und gewiss auch wenn sie einführend bleibt, ist meines Erachtens bescheidener. Wer die Kritik an der systematischen Philosophie konsequent zu Ende denkt, wird in Bezug auf die Ablehnung der Hegelschen These: ‘Das Wahre ist das Ganze’ nicht - wie Adorno - in der Geste der Umkehrung verharren und sagen: ‘Das Ganze ist das Unwahre’. Aus dem einfachen Satz J. Derridas: ‘Es gibt Zukunft’, der an die Stelle utopischer Erwartungen tritt, auch wenn diese negativ dialektisch formuliert werden, möchte ich die Folgerung ableiten: Die Philosophien der Differenz sind in der Lage und in der Pflicht, im Horizont allgemeiner Fragestellungen begriffliche Mittel zu erarbeiten, die dazu beitragen, bestehende gesellschaftlich-politische Probleme besser durchdenken und an ihrer Lösung mitwirken zu können. Das gilt ebenso für die Suche nach Wegen für die Beherrschung zerstörerischer Energien wie für die Erhaltung der Umwelt oder für den verantwortlichen Umgang mit dem genetischen Material des Menschen. Angesichts der Gefahren, die mit diesen Problemen verbunden sind, ist es notwendig und ratsam, die Proliferation, das heißt die möglichst vielfältige begrifflich-theoretische Unterstützung von Lösungsvorschlägen in der weitestgehenden Breite und Tiefe, zu fördern, indem die Philosophien aller Kulturen genutzt und eine regelmäßige Zusammenarbeit von Philosoph/in/nen nicht nur aus verschiedenen Disziplinen, sondern auch aus verschiedenen Kulturen angegangen werden. 1. Einführung in die Thematik Jede soziale Beziehung geht als eine abgeleitete darauf zurück, dass der Andere sich dem Selben zeigt, ohne jede Zwischenkunft eines Bildes oder Zeichens, durch den einfachen Ausdruck seines Antlitzes. E. Levinas: Totalité et infini, Den Haag/Boston/Lancaster: Nijhoff 19844, S. 188. Innerhalb der westlichen Traditionen des Denkens sind wir es gewohnt, Differenz nicht in ihrer eigenen spezifischen Bedeutung zu denken, sondern nur als Gegenseite der Identität. Mit dem Begriff Differenz wird dabei ein Bedeutungsfeld angegeben, zu dem auch Verschiedenheit, Besonderheit und Andersheit gehören, die als Gegenseite der Gleichheit, Allgemeinheit und Selbigkeit gedacht werden. Im Blick auf diese Begriffe wird sich zeigen, dass es angemessener ist, von Verschiedenem, Besonderem und Anderem zu sprechen. Th.W. Adorno hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, als Gegenseite zu Identität den Begriff des Nicht-identischen zu verwenden. Für die Hauptlinie der westlichen Denktraditionen ist es kennzeichnend, dass Begriffe von ihrem Gegensatz aus näher bestimmt werden. Weiß ist nicht schwarz, groß ist nicht klein, schön ist nicht hässlich usw. Man spricht deshalb auch vom Denken in Gegensätzen oder Oppositionen bzw. von binärem Denken, das jeweils von einer Zweiteilung ausgeht. (Das lateinische bi- bedeutet in Zusammensetzungen zwei-, bini je zwei, paarweise.) Dieser Sachverhalt ist im dialektischen Denken G.W.F. Hegels, das unten (in Abschnitt a der Einführung in die Thematik und in kritischer Sicht im 2. Kapitel in den Abschnitten a. und b.) genauer erklärt wird, am konsequentesten dargestellt und begründet. Wenn man die erwähnten Begriffspaare schematisch neben einander stellt, wird sichtbar, dass sich Verschiedenes, Besonderes, Anderes und Nicht-identisches der Binarität (paarweisen Anornung) der abstrakten Gegensätze entziehen und dass der Begriff ‘Differenz’, um den es hier gehen soll, gänzlich außerhalb des Gegensatzdenkens zu situieren ist: Gleichheit - Verschiedenheit, Verschiedenes Allgemeinheit - Besonderheit, Besonderes Selbigkeit - Andersheit, Anderes Identität - Differenz, Nicht-identisches ‘Differenz’ So zeigt sich bereits am Anfang unseres Diskurses über das Denken der Differenz, wie sehr die genannte Denkgewohnheit unseren Sprachgebrauch prägt. Offensichtlich können wir Verschiedenes, Besonderes, Anderes und dementsprechend auch Nicht-identisches nicht in adäquater Weise genauer bezeichnen. Das zeigt sich am deutlichsten beim Anderen. Oft ist nicht erkennbar, ob von einem männlichen, weiblichen oder sächlichen Anderen bzw. von einem oder mehreren Anderen die Rede ist und ob in dieser Hinsicht ein Unterschied gemacht werden soll. Im Zusammenhang des Differenzdenkens ist es üblich geworden, in diesem Fall den gängigen Sprachgebrauch zu durchbrechen. Die genauere Bezeichnung wird angebracht, indem das Geschlecht des (männlich und sächlich) bzw. der (weiblich) Anderen genauer angegeben wird, und auch ob es sich um Einzahl (der,die,das Andere) oder Mehrzahl (die Anderen) handelt. Dabei werden zwischen diese Angaben Schrägstriche / gesetzt, und der/die/das Andere/n wird beziehungsweise werden mit einem großen A geschrieben. Die Schreibweise des/der Anderen hat Folgen für die Selbigkeit des/der Selben, die dann ebenfalls abweichend vom gängigen Sprachgebrauch genauer bezeichnet werden muss. Dass mit dem Denken der Differenz in ihrer eigenen spezifischen Bedeutung ein neues Gebiet der Philosophie erschlossen wird, lässt sich nicht in einer oder der Philosophie der Differenz ausdrücken. Wenn Differenz und Verschiedenheit ernstgenommen werden, wird auch die Ausarbeitung des Denkens dieser Begriffe different und verschieden sein. Um dieser Verschiedenheit gerecht zu werden, sprechen wir im Titel dieser gesamten Darstellung in der Mehrzahl von Philosophien der Differenz. Die Philosophien der Differenz unterscheiden sich von der Hauptlinie der Traditionen der westlichen Philosophie auch im Stil des Denkens und des Schreibens. Mit der Erschließung eines neuen Gebiets der Philosophie sind andere Denk- und Schreibstile verbunden. Das zeigt sich bereits bei F. Nietzsche, der auf einem konsequenten Weg zu einer eigenen Weise des aphoristischen Philosophierens findet. Auch bei Adorno, Derrida und vor allem bei J.-F. Lyotard finden sich zahlreiche aphoristische Texte. Im übrigen gelangen Adorno, Heidegger, Lyotard und Derrida auf verschiedenen Wegen und auf Grund vielfacher Versuche in einigen ihrer Werke zu eigenen, sich von der Tradition der westlichen Philosophie absetzenden Denk- und Schreibstilen. Dazu gehören neben dem Verfassen von Aphorismen kurze Essays, philosophische Gedichtinterpretationen oder auch die Wiedergabe vorn zwei und mehr Texten in verschiedenen Spalten eines Buches. G. Deleuzes eigener, aber nicht äußerlich sichtbar aus der westlichen Tradition ausbrechender Stil des Philosophierens wird im Abschnitt d. dieser Einführung in die Thematik näher erläutert. L. Irigaray und J. Kristeva wählen eine Schreibweise, die écriture feminine, die ebenfalls auf eine subtile Weise von dem gängigen, aber freilich in sich auch sehr vielfältigen Stil des Philosophierens in der Hauptlinie der westlichen Traditionen verschieden ist. Für die hier gebotene Darstellung ist bewusst ein traditionell anmutender Stil gewählt. Dieser ist indessen von der didaktischen Absicht des Schreibens einer allgemein verständlichen Einführung bedingt. Mit dem Denken der Differenz in diesem neuen Sinn ist auch ein verändertes Wirklichkeitsverständnis verbunden. Die symbolische Dimension der Wirklichkeit, besonders die Symbolsphären der Sprache und der Kunst erhalten eine konstitutive Bedeutung. In diesem Punkt liegen die Differenzphilosophien mit anderen Strömungen der zeitgenössischen Philosophie, wie etwa E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929), Heideggers Unterwegssein zur Sprache, L. Wittgesteins philosophischen Untersuchungen der Sprachspiele, H.-G. Gadamers auf die Sprache bezogener Verstehenslehre oder auch J. Habermas’ am Diskurs orientierter Theorie des kommunikativen Handelns (1981), auf derselben Linie. Mit dem Ernstnehmen von ‘Trugbildern’ (simulacra), ‘Phantomen’ und auch ‘Gespenstern’ (spectres) ist ferner eine Affinität zur virtuellen Welt der Tele-Technologie und der elektronischen Kommunikation gegeben. In diesem Zusammenhang ist besonders auf Deleuzes philosophische Bemühung um den Film und Derridas Beteiligung an Diskussionen über das Phänomen Fernsehen sowie seine Ansätze zu einer neuen ‘Spektrologie’ zu verweisen. Es ist jedoch wichtig, von dem neuen Begriff der Differenz aus auch die Grenzen des Symbolischen aufzuzeigen. Die symbolische Dimension der Wirklichkeit wird bei J. Kristeva im Anschluss an S. Freud und J. Lacan nachdrücklich im Semiotischen verankert, das heißt im Zeichenhaften des Vor- und Unbewussten, das in seiner Bedeutung nicht oder nicht vollständig erschlossen werden kann. Ferner zeigen die Begriffe des ‘Ereignisses’ und der ‘Gabe’, wie Heidegger und Derrida sie verwenden, eine Instanz an, die als nicht verfügbarer Ausgangspunkt, man kann auch sagen: ‘Stiftung’ des Sinnhaften und Symbolischen diesem vorausliegen, also nicht darin aufgehen. In einer ersten Einführung, in der die Thematik der Philosophien der Differenz erläutert wird, sollen zunächst (im Abschnitt a. dieses 1. Kapitels) die historischen Voraussetzungen aufgezeigt werden, die es ermöglichen, sei es auch mit Vorbehalten, von dem westlichen Denken als einer Einheit zu sprechen. (Deshalb ist im folgenden nicht mehr jedesmal ausdrücklich in der Mehrzahl von den Traditionen des westlichen Denkens oder der westlichen Philosophie die Rede.) In einem prinzipiellen und systematischen Sinn ist die westliche Philosophie zuerst von G.W.F. Hegel als in sich zusammenhängende Einheit bestimmt worden, wobei er freilich die westliche Philosophie als die Philosophie überhaupt aufgefasst hat. Sie beginnt in der griechischen Antike, nimmt im Mittelalter christliche Gedanken auf und kulminiert in Hegels eigenem Denken. Dabei ist das Motiv eines Fortschritts in der Geschichte der Philosophie von entscheidender Bedeutung, der in der eigenen Gegenwart seinen Höhepunkt erreicht. Diese Motiv wird von Nietzsche in gewissem Sinn umgekehrt. Der ‘christliche Platonismus’, der nach Nietzsches Auffassung die westliche Philosophie in ihrer Systematik kennzeichnet, hat entschieden negative Aspekte (wie z.B. die Leibfeindlichkeit und das Ressentiment gegen den Willen zur Macht). Dass die Werte dieser Philosophie nicht mehr allgemein anerkannt werden, führt zu der Erwartung einer Radikalisierung und offenen Anerkennung des Nihilismus in Europa. Adorno und Heidegger übernehmen auf je verschiedene Weise den Gedanken der Einheit der westlichen Philosophie als der Philosophie, die von den antiken griechischen Denkern über den Einfluss christlicher Motive im Mittelalter bis in die eigene Gegenwart reicht. (Siehe Abschnitt b. dieser Einführung in die Thematik und die Kapitel 2 und 3 von Teil I.) In der Nachfolge Nietzsches sehen beide Philosophen diesen Zusammenhang durchaus kritisch. Während Adorno das systematische Philosophieren von innen heraus aufbrechen will, sucht Heidegger nach einem anderen Anfang des philosophischen Denkens. Das Besondere als das Nicht-identische und die Differenz, die nicht länger innerhalb der Identität als deren Gegenseite gedacht wird, sind dabei die Leitbegriffe. Die französischen Philosophen, die sich mit dem neuen Begriff der Differenz beschäftigen, arbeiten mehr oder weniger direkt in dem von Adorno und Heidegger erschlossenen Gebiet des Denkens. Neben der Linie, die von Hegel über Nietzsche zu Adorno und Heidegger führt, ist für ihre Denkarbeit indessen ein kombinierter Einfluss der Theorien von S. Freud und F. de Saussure von großer Bedeutung. Freuds Unbewusstes ist gewissermaßen das Andere, Fremde in uns selbst. Und de Saussures allgemeine Sprachwissenschaft dringt in eine Dimension des Denkens vor, die auf dem Gebiet der Sprache nicht mehr primär historisch ist, wie es im 19. Jahrhundert stets der Fall war, sondern sich hauptsächlich auf synchrone (gleichzeitige) Strukturen richtet. Dabei steht der Begriff des Zeichens deutlich im Vordergrund. Dies ermöglicht es, im Denken nicht länger von den subjektiven Verhältnissen auszugehen, sondern einen anderen Ausgangspunkt zu wählen und der Erfassung allgemeiner, objektiver Strukturen Vorrang zu geben. Diese Denkrichtung findet viele Nachfolger in verschiedenen westlichen Ländern und ist in den 60er Jahren in Frankreich unter dem Namen ‘Strukturalismus’ weit verbreitet. F. Lacan verbindet die Probleme des Unbewussten und der Sprache im genannten primär objektiven Sinn. Dies führt ihn zu einer neuen Freud-Interpretation und zu einem veränderten Zeichenbegriff. Die meisten französischen Differenzdenker verdanken Lacan sehr viel. Von diesen Voraussetzungen aus arbeiten einige französische Philosophen den von Adorno und Heidegger aufgestellten neuen Begriff der Differenz in verschiedene Richtungen näher aus. Man kann auch sagen: das dadurch erschlossene neue Denk-Gebiet wird von ihnen genauer vermessen oder in einigen seiner Dimensionen ausgemessen. Im hier dargebotenen Text (zunächst im Überblick im Abschnitt d. dieser Einführung in die Thematik und später mit den notwendigen Einzelheiten in Teil II) werden drei französische Denker behandelt, die sich auf den Begriff der Differenz besonders konzentriert haben: Deleuze, Lyotard und Derrida. Andere, die ebenfalls wichtig wären, um das Bild der Philosophien der Differenz in verschiedenen Hinsichten zu vervollständigen, wie z.B. E. Levinas, M. Foucault, F. Guattari oder J. Baudrillard, können dabei nicht berücksichtigt werden. Einführend soll in Abschnitt e. bereits klargestellt werden, dass die Denkarbeit Adornos, Heideggers und der französischen Differenzphilosophen mit dem Ausdruck ‘postmodern’ nicht korrekt gekennzeichnet wird. Diese Klarstellung hat sich mit Lyotards Bezeichnung seiner Differenzphilosophie als ‘postmodern’ kritisch auseinanderzusetzen. Es gilt zu berücksichtigen, dass die Philosophien der Differenz sich nicht auf ‘die Moderne’ richten, was immer das philosophisch bedeuten mag, sondern auf den Zusammenhang (einer Hauptlinie) der westlichen Philosophie im Ganzen. Sofern man diesen Zusammenhang mit Heidegger als ‘Metaphysik’ benennen will, könnte man von nachmetaphysischem Denken sprechen. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass es nicht primär um ein ‘post’ oder ‘nach’ geht, sondern um neue Wege des Denkens. Obwohl im Denken der Differenz die Praxis nicht nachträglich zur Theorie hinzutritt, sondern von allem Anfang an mit dieser zusammengehört, kommt in einer Reihe von Texten die überwiegend praktische Seite dieses Denkens zum Ausdruck. In seiner traditionellen verengten Bedeutung innerhalb der westlichen Philosophie ist der Begriff der Differenz in konservativen bis extrem rechten politischen Zusammenhängen verwendet worden. Das hat sich nirgendwo deutlicher gezeigt als in der theoretischen Begründung der Apardheidspolitik Südafrikas bis 1994, die von den Voraussetzungen westlichen Denkens aus entwickelt worden ist. ‘You are different’ wurde als Begründung für die Absonderung, Geringschätzung und Unterdrückung der nicht-weißen Bevölkerungsgruppen gebraucht. Demgegenüber gehört zu dem neuen Differenzbegriff, der nicht mehr den Denkvoraussetzungen der westlichen Metaphysik verhaftet bleibt, gerade eine emanzipatorische Politik: kulturelles Anderssein wird eindeutig positiv gesehen. Differenz, die Vielfalt bedingt, gilt als Wert. Das Vorhandensein von Menschen aus verschiedenen Kulturen in dem Gebiet eines Staates bedeutet eine Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens in diesem Staat. Durch den regelmäßigen Austausch zwischen verschiedenen Kulturen, besonders auch auf dem Gebiet der Philosophie, ist eine Erweiterung des Horizonts und eine Verbesserung der Lösungsmöglichkeiten dringender interkultureller und weltweiter Probleme zu erwarten. Diese politische Konnotation des neuen Differenzdenkens ist Habermas bei seiner Verteidigung des ‘philosophischen Diskurses der Moderne’ gegen die ‘postmoderne’ Philosophie und ihre angeblich neokonservativen Bestrebungen leider entgangen. Die Denkbewegungen der Differenzphilosophen verlaufen anders als bei Habermas, der ja zweifellos der Emanzipation und der Sicherung der Freiheit verpflichtet ist, verfolgen aber in ihrer Art und Weise durchaus auch eine emanzipatorische Absicht. Das vernünftig zu Begreifende wird von den Differenzphilosophen so weit wie möglich aufgefasst, aber zugleich auch in seiner Begrenztheit erfahren. Auf diese Erfahrung wird dann wieder reflektiert, um einen vernünftigen Umgang mit dem Anderen der Vernunft möglich zu machen (s.u. Anm. 45). Auf diese Weise wird ein Gebiet erkundet und offengehalten, das sonst von unkontrollierten Irrationalismen (etwa faschistischen oder stalinistischen) besetzt wird. Mit der ‘Politik der Differenz’ und einigen Texten, in denen die überwiegend praktische Seite des Differenzdenkens dokumentiert ist, beschäftigen wir uns im Abschnitt f. der Einführung in die Thematik und sehr viel genauer in Teil III. Bei L. Irigaray wird die Differenz als Geschlechtsdifferenz gedacht und dadurch in ihrem Bedeutungshorizont sowohl erweitert als auch präzisiert. J. Kristeva hat die Bedeutung der Anzeichen des Unbewussten oder des Semiotischen in der bewussten, symbolischen Erfahrung der Welt untersucht und in diesem Rahmen den/die Andere(n) in der Rolle des Fremdlings thematisiert. Sie ist bemüht, Dimensionen des ‘Fremden in uns selbst’ aufzuzeigen, wie sie in bestimmten Unterströmungen der westlichen Philosophie und besonders in der Theorie des Unbewussten bei Freud angetroffen werden. Man kann die Texte dieser Autorinnen, aber z.B. auch Lyotards Untersuchungen über Das Patchwork der Minderheiten (Berlin: Merve 1977) oder das gemeinsam mit F. Guattari geschriebene Werk Deleuzes: Kapitalismus und Schizophrenie (2 Bände, Frankfurt: Suhrkamp 1974, Berlin: Merve 1992) als Konkretionsschritte im Denken der Differenz betrachten. Es lässt sich als eine Weiterführung dieser Linie auffassen, dass das Denken des/der Anderen auf dem Weg zu einem anderen Denken auch zur Beachtung des Denkens anderer Kulturen führt. Insofern sind die Philosophien der Differenz eine Vorbereitung des Sicheinlassens der westlichen Philosophie auf die Philosophien anderer Kulturen. Damit sind sie ein Weg zur interkulturellen Philosophie, für den sich gewiss keinerlei Anspruch auf Auschließlichkeit erheben lässt. (Siehe Abschnitt g. der Einführung in die Thematik und Kapitel 9. von Teil III.) In einer Schlussbetrachtung wird deutlich gemacht, dass die Philosophien der Differenz nicht zur Folge haben müssen, dialektische Verhältnisse zu leugnen oder zu übersehen. Der Universalitäts- und Absolutheitsanspruch der Dialektik wird konsequent bestritten und dekonstruiert, aber widersprüchliche Situation und Verhältnisse, die es gewiss weiterhin gibt und geben wird, müssen mit Hilfe des dialektischen Denkens erfasst werden. Der Widerspruch erweist sich als eine Form der Differenz neben einer Reihe anderer Weisen, Differenz zu denken. Deshalb gilt es klar zu stellen, dass dialektische Verhältnisse im Denken der Differenz ihren begrenzten, aber berechtigten Ort haben. Es wäre ein Irrweg dieses Denkens, nunmehr die Differenz als Gegenbegriff zu dem des Widerspruchs oder der Widersprüche, die in einer höheren Einheit versöhnt werden, zu universalisieren. Die Erfassung der westlichen Philosophie als Einheit bei Hegel und Nietzsche Es hängt mit dem Selbstverständnis der europäischen Aufklärung (1730-1830) zusammen, dass die eigene Zeit und Kultur als der Höhepunkt aller historischen Entwicklungen in allen Kulturen der gesamten bewohnten Welt aufgefasst werden. Durch alle Zeiten und Kulturen hindurch findet ein ständiger Fortschritt statt, der in der eigenen Gegenwart kulminiert. Diese Fortschrittstheorie hat eine doppelte Bedeutung. Darin liegt einerseits eine Vermessenheit, die dem spezifischen eigenen Wert und der spezifischen eigenen Bedeutung anderer Geschichtsepochen und anderer Kulturen nicht gerecht wird. Andererseits wird es dadurch möglich, die Welt im ganzen und die Gesamtheit der historischen Entwicklungen als eine Einheit zu begreifen und so etwas wie Weltgeschichte zu denken. Wenn indessen auf diese Weise die Geschichte aller Völker zur blossen Vorgeschichte Europas herabsinkt, ist es nicht verwunderlich, dass dabei bestimmte Verzerrungen und Ausblendungen entstehen im Blick auf die spezifischen eigenen Leistungen anderer Kulturen und ihres Beitrags zur Weltgeschichte. In den universalgeschichtlichen Entwürfen der französischen Aufklärer (F. M.A. Voltaire, M.J.A.N. de Condorcet, A.R.J. Turgot) ist die Entwicklung der Philosophie in aller Regel ein Teil des Fortschritts der Weltgeschichte, wie er sich auch auf den übrigen Gebieten der Kultur (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst) ereignet. Nach ihrer übereinstimmenden Auffassung beginnt diese Entwicklung, von Vorformen abgesehen, in Griechenland, das heißt im europäischen Mittelmeerraum. Turgot findet bei Sokrates, Platon und Aristoteles den Anfang der Philosophie dokumentiert. Im Orient hat es zwar bereits Wissenschaften gegeben. Aber sie wurden nach Turgots Auffassung ‘auf geheimnisvolle Weise’ betrieben und verkamen deshalb ‘meist zum Aberglauben’. Auch die Griechen haben sich davon nicht in ausreichendem Maß befreien können. Galilei und Kepler haben ‘durch ihre Beobachtungen einige Grundlagen für die wahre Philosophie gelegt’. Indessen hat auch Descartes, der das Joch abgeschüttelt hat, das die Autorität der Alten (das heißt der griechischen Philosophen) darstellte , ‘noch nicht genügend seinem ersten Wissen misstraut, das er von ihnen übernommen hat’. Das gelingt erst im Zeitalter der Aufklärung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) hat die Entwicklung der Philosophie und ihr Verhältnis zu anderen Kulturerscheinungen in einen umfassenden systematischen Zusammenhang gestellt. Wir beschränken uns hier auf den Zusammenhang der politischen Geschichte, die Hegel auch Weltgeschichte nennt, und der Geschichte der Philosophie. Eine Darstellung seines gesamten Systems der Philosophie und der Stellung, welche die Geschichte der Philosophie darin einnimmt, würde zu weit führen. Hegels Kernthese besteht darin, dass er die Weltgeschichte insgesamt von den alten ‘orientalischen Reichen’ über die ‘griechisch-römischen Reiche’ im Mittelmeerraum zu den Staaten in der ‘germanisch-christlichen Welt’ (im Europa nördlich der Alpen) als ‘Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit’ interpretiert. Wir lassen hier beiseite, dass große Teile der Welt (Afrika, Zentralasien, beide Amerikas, Ozeanien) an diesem Gang der Geschichte keinen Anteil haben. Dieser Sachverhalt wird uns am Ende der gesamten Darstellung wieder beschäftigen, wenn es um die Öffnung der westlichen philosophischen Tradition für die Philosophien anderer Kulturen gehen wird. Für Hegel ist die Geschichte der Philosophie die notwendige innere Linie der Weltgeschichte. Seine ‘Quellen’ sind einerseits die Werke der Philosophen selbst, andererseits die ‘Geschichtsschreiber’, welche die Gedanken der Philosophen gewissermaßen als die Tatsachen dieser Geschichte dokumentieren. Der Zusammenhang dieser Geschichte, ihr innerer Fortgang und ihre Einteilung sind indessen rein philosophisch zu erfassen und darzustellen. Wenn man die methodische Seite dieser Darstellung für sich betrachtet, kan man sagen, dass darin die Prinzipien der Dialektik zur Anwendung kommen. Für eine Erklärung der Prinzipien der Dialektik, die hier allerdings auf eine fast unerlaubte Weise kurz gehalten wird, ist von einem Dreischritt auszugehen, bei dem einer einmal eingenommenen Position (These) stets eine Negation (Antithese) entgegengesetzt und dieser Gegensatz in einer höheren Einheit (Synthese) wieder aufgehoben wird. Die Synthese bildet dabei eine neue These, der nach dem Grundprinzip des Denkens in Gegensätzen (Oppositionen oder auch binären Unterscheidungen) erneut eine Antithese gegenübergestellt wird, die dann beide wiederum in einer Synthese miteinander vereinigt werden. Aus der jeweils untersuchten Sache ergibt sich, dass anstelle der drei Schritte auch vier oder mehr Schritte nötig sein können und an welchem Punkt die Folge der Synthesen in einer letzten höchsten Synthese abgeschlossen wird. So folgt in der Philosophie der Weltgeschichte auf die in sich vielfältige These (die orientalischen Reiche) eine doppelte Antithese (das griechische und das römische Reich), und die endgültige Synthese kommt mit der vollen Verwirklichung des Bewusstseins der Freiheit (in den Reichen der christlich-germanischen Welt) zustande. In der Geschichte der Philosophie artikuliert sich das Bewusstsein der Freiheit, das den Gang der Weltgeschichte bestimmt, gewissermaßen in reiner Form. In der orientalischen Philosophie Chinas und Indiens ‘geht der Geist wohl auf’, aber diese Philosophie ‘ist nur mehr etwas Vorläufiges’. Wo nur einer frei ist, der Despot, und keine freie Verfassung existiert, kann ‘von eigentlicher Philosophie nicht die Rede sein’. Auch für die religiösen Vorstellungen dieser Epoche, die das Denken weitgehend bestimmen, ‘ist das Verhältnis so, dass das Subjekt, die Individualität nicht Person ist’. Von der Vielzahl der Götter in wechselnden Zuordnungen und Funktionen kann gesagt werden, dass darin das Subjekt ‘als untergehend im Objektiven bestimmt ist’. Das ‘substantielle Verhältnis’, als staatlich-politische Macht und als allgemein gehaltene, nicht in ihrer Bestimmtheit klar umschriebene religiöse Lehre, ‘ist das Herrschende.’ ‘Die eigentliche Philosophie beginnt erst im Abendland’, undzwar in Griechenland. Dort ‘geht die Freiheit des Selbstbewusstseins auf’. In den griechischen Stadtstaaten (Athen, Sparta, Syrakus) finden sich einige, die Bürger dieser Staaten, die ihre Freiheit bewusst organisieren. Obwohl dies nur einen Teil des Volkes betrifft, ist damit der Rahmen geschaffen, in dem die Grundlegung der Philosophie bei Sokrates, Platon und Aristoteles gelingen kann. Nach Hegel reicht diese erste Periode der Philosophie von Thales und den vorsokratischen griechischen Denkern bis zu Plotin und den neuplatonisch beeinflussten Kirchenvätern der christlichen Religion. Aber auch hier ist ‘die reale Freiheit noch mit einer Einschränkung behaftet, denn wie wir wissen, gab es in Griechenland (und im alten Rom) noch Sklaverei … Die Freiheit war also bedingt, beschränkt’. Deshalb wird das Prinzip der Subjektivität auch hier noch nicht als solches erfasst. Die Beschränkung der Freiheit auf einen Teil des Volkes (bei den Griechen) und ihre mehr äußere Organisationsform (bei den Römern) bedarf der Ausdehnung auf alle Mitglieder eines Volkes sowie der inneren Vertiefung und Festigung durch die christliche Lehre, die jeden einzelnen Menschen in seiner Unmittelbarkeit zu Gott versteht. Diese weltgeschichtliche Aufgabe wird nach Hegel von den Vertretern der christlichen Philosophie des Mittelaters erfüllt. Dabei stehen Augustinus, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin und Duns Scotus im Vordergrund, aber ‘es sind auch arabische und jüdische Philosophien zu erwähnen’. Im Mittelalter befindet sich indessen, ‘wie man es genannt hat, die Philosophie im Dienste der Kirche’. Deshalb ist sie, streng genommen, lediglich eine Zwischenstufe: ‘die Periode der Gärung und Vorbereitung zur neueren Philosophie’. Beide Aspekte des Freiheitsbewusstseins, das äußere substantielle und das innere subjektive, werden im neuzeitlichen konstitutionellen Staat miteinander vereinigt, der die Freiheit der Bürger gegen die Willkür der Herrschenden schützt. Dies wird den Prinzipien nach in der Philosophie seit R. Descartes in zunehmender Klarheit zum Ausdruck gebracht. Sowohl die allgemeine philosophische Entwicklung von Th. Hobbes über J. Locke zu D. Hume in England als auch die ausdrücklich politischen Konzeptionen von Ch.L. Montesquieu und J.-J. Rousseau in Frankreich (um nur die wichtigsten zu nennen) fügen sich dieser Tendenz ein. Dasselbe gilt von den unmittelbar bei Descartes anknüpfenden systematischen Entwürfen von G.W. Leibniz und B. Spinoza und von dem kritischen Neuansatz I. Kants. In Hegels System der Philosophie sind schließlich die substantiellen, staatlich-gemeinschaftlichen und die subjektiven, die einzelne Person betreffenden Aspekte der Freiheit vollständig miteinander vermittelt. Dieser Aufriss der Geschichte der westlichen Philosophie, die für die Philosophie insgesamt steht, ist bis zu Adorno, Heidegger und den französischen Differenzphilosophen gültig geblieben. Auch in anderen kontinentalen philosophischen Strömungen wie der Phänomenologie, Kritischen Theorie und Hermeneutik und in der angelsächsischen philosophischen Tradition (in Großbritannien, den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada), die primär als Analytische Philosophie betrieben worden ist, gilt bis heute ein ähnliches Gesamtverständnis der Geschichte der Philosophie. Freilich finden sich auch andere Auffassungen, die das westliche Denken weniger einheitlich sehen, innerhalb dieses Denkens andere Linien und Knotenpunkte annehmen und auch über die Grenzen dieses Denkens hinausblicken. Ich erwähne hier nur Kant, der in der westlichen Philosophie sich abwechselnde metaphysische und skeptische Positionen unterscheidet, bevor er zu seinem eigenen kritischen Standpunkt kommt, oder K. Jaspers, der ‘große Philosophen’ auch außerhalb der westlichen Tradition zu finden weiß, etwa im alten China oder in der arabischen Welt. Für die Differenzphilosophen, deren Denken hier zur Diskussion steht, ist das durch Hegel inaugurierte Bild der Geschichte der Philosophie und die Umwertung dieses Geschichtsbildes von großer Bedeutung, die durch Nietzsche vorgenommen worden ist. Friedrich Nietzsche (1844-1900) übernimmt zwar von seinem Lehrer A. Schopenhauer, auch nachdem er sich von ihm abgewendet hat, die Einsicht in die Bedeutung der Begriffe des Leidens und des Nichts in der buddhistischen Philosophie. Und er lässt die wichtigsten neuen Lehren seiner Philosophie von Zarathustra, dem Stifter der persischen Religion, verkündigen. Er scheint für außereuropäische Philosophien durchaus offen zu sein. Aber er ist - wie Hegel - der Auffassung, dass ‘die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen … zu philosophiren’. Obwohl sie bei vielen orientalischen Völkern gelernt haben, ist durch den griechischen Anfang die Philosophie ‘Ein- für Allemal … gerechtfertigt’. Philosophie ist Teil und Ausdruck ‘einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Kultur’. Was damit gemeint ist, ist auf andere Zeiten und Kulturräume, auch den der eigenen Gegenwart Nietzsches, nicht wirklich anwendbar. Griechisches und Christliches sind in der Geschichte der Philosophie miteinander vermischt worden. Dies hat im ‘christlichen Platonismus’ zur Hochschätzung der Idee und des Geistig-Seelischen geführt, die mit einer Verachtung der Materie und des Leibes zusammengehören. Gegen die ‘Verächter des Leibes’ führt er an: ‘der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne’ und die ‘kleine Vernunft’ oder der ‘Geist’ ist ein ‘Werkzeug des Leibes’. Die jüdischen und später die christlichen Priester haben sich dieser ‘Wertschätzungen’ bedient, um ihre Herrschaft über das Volk der Gläubigen zu begründen und zu festigen. Der religiösen Proklamation des schlechten Gewissens entspricht philosophisch die Tendenz zur Verinnerlichung, die schließlich in Hegels absolutem Idealismus kulminiert. Der Nihilismus, dessen ‘Heraufkunft’ Nietzsche für Europa vorhersagt, ist indessen nichts Neues in der Geschichte der Philosophie dieses Erdteils. Er wird lediglich in seine letzte radikale Phase gelangen. Im Rahmen seiner Erklärung der Entstehung der Moralbegriffe, die methodologisch als ‘Genealogie der Moral’ ausgeführt wird, unterscheidet Nietzsche einen aktiven Typus des Nihilismus, der zur ‘Vorgeschichte’ der europäisch-westlichen Begriffe des Guten und des Bösen gehört, und einen reaktiven Typus, der den ‘christlichen Platonismus’ der westlichen Geschichte der Philosophie kennzeichnet. Ursprünglich ist das Gute das Hohe, Vornehme, das auch die Kraft hat zu herrschen. Das Böse oder Schlechte ist demgegenüber das ‘Schlichte’ im Sinne des Niedrigen, Kraftlosen. Durch die merkwürdige Umkehrung des Willens zur Macht in der Priesterherrschaft, die sich des Mitleids und des schlechten Gewissens bedient, entsteht eine ‘Sklaven-Moral’. So können die reaktiven Kräfte durch eine List obsiegen, ohne selbst eine stärkere Macht zu sein. Bereits mit den Juden beginnt der ‘Sklavenaufstand in der Moral’, dessen ‘Sieg’ dazu führt, dass die Elenden, Armen, Leidenden allein die Guten, die ‘Vornehmen und Gewaltigen’ aber ‘in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen’ und damit auch ‘die Unseligen, Verfluchten’ sind. Und die Philosophen, insbesondere die neueren (seit Descartes), sofern sie Idealisten waren, bis hin zu Schopenhauers ‘Welt- und Willens-Verneinung’, haben mit dieser Religion unter einer Decke gespielt. Die Geschichte der Philosophie erweist sich als die Geschichte eines Irrtums. Wenn die ‘wahre Welt’ bei Plato ‘für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften’ erreichbar war, ist sie im Christentum ‘unerreichbar für jetzt, aber versprochen’, undzwar für den ‘Sünder, der Busse thut’. Ganz ‘unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar’ wird die ‘wahre Welt’ bei Kant, der dennoch ‘einen Trost, eine Verpflichtung, einen Imperativ’ daraus abzuleiten vermag. In der Metaphysik-Kritik des ‘Positivismus’ gilt sie ‘als unerreicht auch unbekannt’ und verliert ihren verpflichtenden Charakter. Damit ist sie ‘eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee’. Folglich wird sie abgeschafft. Was danach übrig bleibt, ist nicht etwa die ‘scheinbare Welt’. Denn ‘mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!’ Dieser Tiefpunkt in der Geschichte der Philosophie ist für Nietzsche zugleich ihr Umschlagpunkt. Das ‘Ende des längsten Irrthums’ ist gekommen und damit die Aussicht auf eine neue Periode der Grösse, der Lebensbejahung. Nietzsche bleibt also nicht bei einer Umkehrung oder Umwertung der westlichen Philosophie stehen. Er führt auch neue Motive des Denkens ein, die in der westlichen Tradition fehlen: ‘Lachen, Spiel, Tanz’ und den in seiner tiefen Bedeutung bis heute nicht ausgeloteten Gedanken der ‘ewigen Wiederkehr des Gleichen’. Sowohl seine kritische Wendung gegen die westliche Philosophie im ganzen als auch seine weiterführenden Gedanken haben das Denken der Differenz auf den Weg gebracht. Deshalb beziehen sich die Philosophen der Differenz, sowohl die hier genauer zu behandelnden, primär auf das neue gedankliche Motiv der Differenz gerichteten Philosophen, als auch andere, die in diesem Gebiet arbeiten und im folgenden Text nicht berücksichtigt werden können, vielfach auf das Denken Nietzsches. Ich gehe beispielhaft etwas näher ein auf Derridas Nietzsche-Buch: Sporen, das die verschiedenen ‘Stile Nietzsches’ behandelt, die auch für das Verständnis seines Wahrheitsbegriffs wichtig sind. Derrida macht deutlich, dass Nietzsches Texte nicht als direkte eindeutige Aussagen zu lesen sind, sondern allermeist eine ironische oder ästhetische Dimension haben, die ihren doppelten oder vielfachen Sinn konstituieren. Viele, die Nietzsche als Frauenhasser gelesen haben, ohne den Kontext des berühmten Zitats aus Also sprach Zarathustra zu beachten: ‘Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!’, haben diesen Charakter der Texte Nietzsches nicht berücksichtigt. Für Derrida, der in seinem Buch der Frage ‘Nietzsche und die Frauen’ ausführlicher nachgeht, ist ein anderes Zitat aus der Vorrede des Buches Jenseits von Gut und Böse wichtiger. Darin setzt sich Nietzsche nicht nur im Hinblick auf das Wahrheitsverständnis, sondern auch auf den Stil/die Stile seines Philosophierens von der Gesamtheit der bisherigen westlichen Philosophen ab: ‘Vorausgesetzt, dass die Wahrheit eine Frau ist -, wie? Ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf die Weiber verstanden? Dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen?’ Das heißt, die Wahrheit ist nicht einfach, und sie ist nicht in direktem Zugriff oder in direkter Aussage zu fassen. Die in der westlichen Philosophie vorherrschende Auffassung, Wahrheit sei die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein, wird ihrem Wesen nicht gerecht. Neue Weisen des Denkens und des Schreibens sind erforderlich, um sich der Wahrheit anzunähern. Ansätze zur Überschreitung der als Einheit gedachten westlichen Philosophie und Erschließung eines neuen Denkens der Differenz bei Adorno und Heidegger Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) und Martin Heidegger (1889-1976) folgen Nietzsche in der kritischen Einschätzung der westlichen Philosophie im Ganzen und in dem Bemühen, Ansätze zu ihrer Überschreitung vorzuschlagen. Die Motive ihrer Kritik an der auch von ihnen als Einheit gedachten westlichen Philosophie und die inhaltliche Bestimmung ihrer Ansätze, diese Einheit zu überschreiten, sind indessen überwiegend andere als diejenigen, die wir soeben bei Nietzsche aufgezeigt haben, und sie sind auch bei beiden Philosophen durchaus unterschiedlich. Adorno und Heidegger haben zu ihren Lebzeiten die gemeinsame Richtung ihres Denkens nicht gesehen und sich eher kritisch oder gar feindselig zu einander verhalten, so dass man von einer ‘philosophischen Kommunikationsverweigerung’ zwischen ihnen gesprochen hat. Es kann im Zusammenhang einer Darstellung der Philosophien der Differenz nicht darum gehen, Adornos und Heideggers Denken im Ganzen zu behandeln. Wir richten uns lediglich auf die Aspekte ihrer Denkarbeit, durch welche die Philosophien der Differenz initiiert worden sind. Als allgemeiner Ausgangspunkt für Adornos Denken ist wichtig, dass er sich am Philosophiebegriff und am Aufriss der Geschichte der Philosophie orientiert, wie er sie einerseits bei K. Marx und andererseits bei Hegel vorfindet. Man kann sagen, dass er einen durch Marx’sche Motive vermittelten kritischen Hegelianismus vertritt. Mit seiner Konzeption der ‘Negativen Dialektik’ sucht er die Position Hegels radikal ernstzunehmen und gerade dadurch zu überbieten. Das wird im 2. Kapitel dieses Teils (Abschnitt b.) näher ausgeführt. Von den Voraussetzungen seines Denkens aus, die durch Marx und andere Kritiker Hegels im 19. Jahrhundert (besonders S. Kierkegaard) wesentlich begründet sind, kann er Hegels Anspruch, ein umfassendes System der Philosophie aufzubauen, nicht mehr mitvollziehen. Wenn aber ein umfassendes System nicht möglich ist, ergibt sich daraus die Aufgabe, das systematische Philosophieren als solches zu kritisieren. Adorno richtet sich theoretisch und praktisch auf andere Stile der philosophischen Arbeit. Er schreibt Essays und Fragmente und er bevorzugt die Darstellung von Modellen und Konstellationen. In der systematischen Philosophie, die alles in eine Einheit zusammenzufassen sucht, wird das Besondere von einer höchsten Allgemeinheit oder Identität abgeleitet. Was dabei übersehen wird, ist das Besondere als das Nicht-identische, das sich dieser Allgemeinheit oder Identität nicht einfügen lässt. Adorno zeigt einen prinzipiellen Zusammenhang auf zwischen der systematischen Philosophie und dem hierarchischen oder Herrschaftsdenken. Es liegt in der Linie seiner kritisch-marxistischen theoretischen Arbeit (mit der zugehörigen emanzipatorischen Absicht), dass er ein Besonderes zu denken sucht, das sich dem Identitätsdenken entzieht. Die Schwierigkeit und das Paradoxe dieser Unternehmung sieht er darin, dass die Mittel des Denkens innerhalb der westlichen Tradition gerade die der systematischen, auf Identität gerichteten Philosophie sind. Der Zusammenhang totaler Beherrschung, der die Praxis der spätkapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet, lässt bei Adorno starke Zweifel am Fortschrittsbegriff aufkommen, der für die Aufklärung und auch noch für Hegel und Marx sehr wichtig war. Fortschritt kann er nur im Bereich der technischen Entwicklung der Menschheit, nicht aber im Bereich der Moral oder eigentlich menschlichen Werte erkennen. Der totale Beherrschungs- und Verblendungszusammenhang kann nur in der Kunst und von der Kunst durchbrochen werden. Angesichts einer radikal technisierten und instrumentalisierten Welt kann auch die Kunst ihren Protest und ihre Aussicht auf eine nicht entfremdete Welt selbst nur auf negativ-dialektische Weise artikulieren, indem sie diese Prinzipien noch einmal steigert und dadurch ad absurdum führt. Das geschieht nach Adorno in und durch die Zwölftonmusik Schönbergs und der Wiener Schule. Mit seiner Denkarbeit gelangt Adorno in die unmittelbare Nähe eines neuen Begriffs der Differenz, der auch terminologisch in seinen Texten anklingt, und zu einem Verfahren, das auf Derridas Unternehmen der Dekonstruktion vorausweist. Wie wir im folgenden Kapitel dieses I. einführenden Teils (Abschnitt d.) sehen werden, ergibt sich für ihn die Aussicht auf eine ‘Reflexion der Differenz’ als ein neuer nicht mehr der Dialektik von Marx oder Hegel geschuldeter Weg, eine ‘Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem’ zu denken. Und die ‘Kritik am System’ soll selber bereits begriffliche Mittel ins Blickfeld bringen, die dazu führen, ‘das Besondere zu begreifen’. Heideggers Kritik an der westlichen Philosophie ist von ihrem Ansatz her fundamentaler, wenn man das so sagen darf. Sie ist weniger aus sozialphilosophischen Motiven hervorgegangen, als vielmehr aus einer Frage nach dem Kern des westlichen Denkens. Heidegger vermisst in der ganzen westlichen Tradition die Frage nach dem Sein, die für ihn mit einem anderen Zeitverständnis als dem dieser Tradition verbunden ist. In ihrem Kern richtet sich die westliche Philosophie (Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der westlichen Metaphysik) seit ihren Anfängen bei Parmenides, Platon und Aristoteles nur auf Seiende und fragt nicht, was es überhaupt bedeutet, dass sie sind. Daran ändert sich auch nichts durch die Aufnahme christlichen Gedankenguts, denn Gott wird ebenfalls als Seiendes, sei es auch als höchstes Seiendes gedacht. Das Vergessen der Seinsfrage in der westlichen Metaphysik und wie sie am Ende dieser ‘Geschichte eines Irrtums’ neu gestellt werden kann, wird im 3. Kapitel genauer erörtert. Hier sei vorausgreifend nur soviel gesagt: Das Sein als Ermöglichung des/der Seienden ist/ereignet sich immer nur auf bestimmte Weise in einer bestimmten Zeitepoche. Deshalb ist auch die Seinsvergessenheit der westlichen Metaphysik eine Epoche in der Seinsgeschichte. Innerhalb dieser seinsgeschichtlichen Epoche kündigt sich deren Ende und Überschreitung an. Im Anschluss an Nietzsche spricht Heidegger in diesem Zusammenhang auch vom Nihilismus in der Geschichte der westlichen Philosophie, von der Zuspitzung des Nihilismus in der Gegenwart und seiner möglichen Überwindung auf Grund dieser Zuspitzung. Heidegger beginnt damit, auf die besondere Bedeutung des (menschlichen) Daseins hinzuweisen, die darin besteht, dass dieses Dasein sich in seinem Sein verstehen kann. Dies führt zunächst zu einer ‘Fundamentalontologie des Daseins’, in der das eigene Seinsverstehen des Daseins expliziert wird. (Siehe dazu Kapitel 3a.) Damit wird die Möglichkeit geschaffen, die Seinsvergessenheit der westlichen Metaphysik zu überwinden und sich für eine neue Epoche der Seinsgeschichte bereit zu machen, diese vorzubereiten. Die westliche Metaphysik ist in der Tat, wie es bei Adorno der Fall ist, als eine Art Herrschaftsdenken zu erfassen, aber in einem fundamentalontologischen Sinn. Das Vergessen der Seinsfrage führt zu einer Selbstmächtigkeit des Seienden, insbesondere des bewussten Seienden, das heißt des Menschen. Alles Seiende ist aus menschlicher Sicht herstellbar und beherrschbar. Dieses Verhältnis des Menschen zu den übrigen Seienden macht das Wesen der Technik aus. Dagegen setzt Heidegger sein Programm einer Destruktion der westlichen Metaphysik, die nicht auf deren Vernichtung hinausläuft, sondern auf die Freilegung ihres Grundes, auf dem sie beruht. Dieser fundamentalontologische Ausgangspunkt und der seinsgeschichtliche Denkhorizont seiner Technikphilosophie, der die Technik in ihrem Wesen als einen Teil der westlichen Metaphysik erklärt, entschuldigt keineswegs Heideggers verhängnisvollen politischen Irrtum in seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg im Jahr 1933. In dieser Rede begrüßt er den Nationalsozialismus als eine politische Kraft, die das Wesen der Technik in seine letzte Konsequenz treibt und damit den End- und Umschlagspunkt der Herrschaft der Technik vorbereitet. Wie immer man diesen Zusammenhang deuten mag, es fällt mir schwer, Heideggers Schweigen über das nationalsozialistische Deutschland und seine Rolle darin verständlich oder respektabel zu finden, wie Derrida in es in einem Aufsatz getan hat. Was sich der universalen Beherrschbarkeit oder dem Wesen der Technik entzieht, ist allein die Kunst. Sie kann in der Epoche der Seinsvergessenheit von einer anderen Art des Umgangs mit den Dingen Kunde geben. Auf diese Weise weist sie auch voraus auf eine Überschreitung des Horizonts der westlichen Philosophie. Und sie sagt etwas darüber, dass die Überschreitung der Epoche der universalen Machbarkeit nicht selber machbar ist. Ein anderes Denken und ein anderes Verhältnis zu den Dingen in der Welt ist erforderlich. In der Kunst wird ein vergessenes Wahrheitsverständnis wieder zugänglich: sie ist in der Weise der Griechen als Un-verborgenheit zu denken. Die Wahrheit ist ein Geschehen, in dem auf je verschiedene Weise in verschiedenen Geschichtsepochen zugleich ein ‘Entbergen’ und ein ‘Verbergen’ stattfindet. Die Andersheit dieses anderen Denkens und anderen Verhältnisses zu den Dingen ist aber nicht die einer Veränderung innerhalb des Horizonts des westlichen Denkens selbst. Das Sein, das wieder in Frage steht, ist von den Seienden nicht als ein anderes Seiendes zu unterscheiden, sondern ist in einem fundamentaleren, weitergehenden, radikaleren Sinn ein Anderes. Dieser Unterschied ist nicht mehr, wie stets in der Geschichte der westlichen Metaphysik innerhalb der Identität situiert, sondern ist eine neue Art der Differenz. Den Unterschied zwischen dem Sein und den Seienden nennt Heidegger ‘ontologische Differenz’. Die kleine Schrift Heideggers, in der diese als ein ‘zu Denkendes’ aufgezeigt wird: Identität und Differenz (Pfullingen: Neske 1957) wird so zum Gründungsdokument des neuen Denkens der Differenz. Einflüsse Freuds und de Saussures auf die französichen Differenzdenker Von den drei ‘Meistern des Misstrauens’ (Marx, Nietzsche, Freud), die für die theoretische Begründung des Studentenaufstandes von 1968 und den folgenden Jahren eine große Rolle gespielt haben, tritt Marx zunehmend in den Hintergrund. Nietzsches Bedeutung für das Differenzdenken, die weiter zurückreicht als 1968, ist im Abschnitt a. bereits beschrieben worden. Für die französischen Differenzphilosophen, die man zum ‘68er Denken’ rechnen kann, jedenfalls für die hier genauer zu behandelnden, ist der Einfluss Freuds ebenfalls sehr groß. L. Althusser, ein Marxist und Strukturalist, der in den 60er Jahren in Frankreich sehr wichtig war, hat davon gesprochen, dass Freud mit der Problematik des Unbewussten einen ‘neuen Kontinent’ des Wissens und der Wissenschaft entdeckt hat. Die Bedeutung Freuds liegt in diesem Zusammenhang vor allem darin, dass für ihn die bewussten subjektiven Absichten für die Erklärung von Neurosen (nicht auf abweichenden Gehirnfunktionen beruhenden psychischen Störungen), aber auch für das Verständnis der Antriebe des Handelns im allgemeinen, weniger wichtig sind als unbewusste Wünsche, Ängste, triebhaftes Verlangen. Diese unbewusste oder auch unterbewusste Tiefendimension des Bewusstseins ist dem Alltagsbewusstsein, das gewissermaßen an der Oberfläche operiert, nicht ohne weiteres zugänglich. Freud hat hierfür die ‘Technik’ der ‘freien Assoziation’ entwickelt, bei welcher der Patient auf der Couch in Anwesenheit des Psychologen bzw. Psychoanalytikers seinem Denken und Sprechen freien Lauf lässt. Wichtige Hilfsmittel sind ebenfalls die Interpretation von ‘Fehlleistungen’ und die ‘Traumdeutung’. Die neurotischen Störungen haben dabei für Freud ihre Ursache allermeist in frühkindlichen Erfahrungen, die insbesondere die Mutter-Kind-Dyade (das Mutter-Kind-Verhältnis in den beiden ersten Lebensjahren) betreffen. Eine schematische, auf das einzelne Subjekt beschränkte Erklärungsfunktion des ‘Ödipuskomplexes’ (der Wunsch des kleinen Jungen, den Vater zu töten, weil er die Liebe der Mutter auch für sich beansprucht) wird indessen von Deleuze in seinem gemeinsam mit dem Psychoanalytiker F. Guattari geschriebenen Werk Anti-Ödipus nachdrücklich bestritten. Zur Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse wählen sie einen anderen psychoanalytischen Ausgangspunkt, wie wir im Kapitel 1 von Teil II genauer zeigen werden. Die verschiedenen Topograhien des Bewussten, Unter- und Unbewussten, die Freud aufgestellt hat, sind von grundsätzlicher Bedeutung für die Differenzdenker. Dabei ist an das Verhältnis des Es (Un- und Unterbewusstes) zum Ich (Bewusstes) zu erinnern und an die Arbeit der Psychoanalyse, die das Ziel hat: Was Es war soll Ich werden. Ferner sind die Libido-Theorie, die dem Eros und der Sexualität eine fast alles umfassende erklärende Bedeutung zumisst, und die Bestimmung des nicht immer im Gleichgewicht befindlichen Verhältnisses von Eros (Lebenstrieb) und Thanatos (Todestrieb) für die Differenzphilosophen sehr folgenreich. Entscheidend ist jedoch, dass Lacan Freuds Theorien mit der allgemeinen Sprachwissenschaft de Saussures in Verbindung gebracht hat. De Saussure erarbeitet eine Theorie der Sprache, die nicht nur für bestimmte besondere Sprachen gilt, sondern für das Phänomen Sprache im allgemeinen. Er sucht Antworten auf Fragen der folgenden Art: Wie ist Sprache gebaut, welche Elemente dienen als Bausteine, wie können sie als Bedeutungsträger fungieren? Der einfachste Baustein ist das Zeichen, das aus einem Bezeichnenden (Lautbild) und einem Bezeichneten (Person oder Sache) besteht. Phoneme (isolierte Laute) werden zu Silben und Wörtern (Lautbildern) zusammengfügt, um eine Person oder Sache zu bezeichnen. Dass sich im Akt des Sprechens Zeichen bilden, ist nicht so sehr eine bewusste Leistung der einzelnen sprechenden Person, sondern es vollzieht sich in der Realisierung der Struktur der Sprache als eines Zeichensystems. Das Gemeinte der Sprache, ihre Bedeutung oder ihr Sinn, ist deshalb aus den gegenseitigen ‘Werten’ der sprachlichen Zeichen innerhalb dieses Systems abzuleiten. Der Ethnologe C. Lévi- Strauss hat das Verfahren der allgemeinen Sprachwissenachft auf die Völkerkunde übertragen und sucht die sozialen Verhältnisse in fremden Kulturen auf allgemeine, überall gültige Strukturen zurückzuführen, die mit der Umwandlung natürlicher in kulturelle Zusammenhänge gegeben sind. Es ist ein weiterer Schritt auf diesem Weg, wenn Lacan auch die Psychoanalyse von diesen Voraussetzungen aus neu durchdenkt. Seine bahnbrechende Leistung besteht darin, dass er das Unbewusste Freuds als Sprache auffasst: es ist mit Lacans Worten wie eine Sprache strukturiert. Nur deshalb kann das therapeutische Gespräch als solches zur Heilung von Neurosen führen. Das Ich soll sich in seiner Sprachfähigkeit begreifen und diese bewusst auszuführen lernen, das heißt es soll vom ‘leeren’ zum ‘vollen Sprechen’ gelangen. Dabei setzt er voraus, dass die Zeichen keine feststehenden Werte haben, sondern ihre Bedeutung (signification) sich ständig verschiebt. Einem Bezeichnenden entspricht nicht ein bestimmtes Bezeichnetes, sondern dieses ist ständig im Fluss. Es ist gleitend, so dass es seitens des Ich eines fortgesetzten Lernprozesses bedarf, um zum ‘vollen Sprechen’ gelangen zu können. Die Faszination der Vorlesungen Lacans an der École Freudienne in Paris bestand offenbar darin, dass er deutlich machen konnte, wie nicht nur in bestimmten Fehlleistungen, etwa dem Versprechem, sondern auf vielfache Weise die Sprache des Unbewussten im bewussten Sprechen erkennbar und vernehmbar wird. Genauere Ausarbeitung des neuen Denkens der Differenz bei Deleuze, Lyotard, Derrida Mit der Vorbereitung des Differenzdenkens bei Adorno und Heidegger ist philosophisches Neuland betreten worden; man kann auch sagen: ein neues Gebiet der Philosophie oder des Denkens ist erschlossen worden. Der neue Begriff der Differenz wird von einigen französischen Philosophen, die - wie wir soeben gesehen haben - auch von Freud und de Saussure stark beeinflusst sind, in verschiedenen Richtungen genauer ausgearbeitet. Wenn wir die Metapher der Erschließung eines neuen Gebiets beibehalten, können wir uns auch so ausdrücken, dass das neue Denk-Gebiet von diesen Philosophen vermessen wird oder - etwas bescheidener formuliert - dass verschiedene Dimensionen in diesem Gebiet ausgemessen werden. Es ist bereits gesagt worden, dass aus einer grösseren Anzahl französischer Philosophen, die man als Differenzdenker ansprechen kann, Deleuze, Lyotard und Derrida ausgewählt werden, weil sie sich auf die Begriffsbestimmung der Differenz konzentrieren. Auch die in späterem Zusammenhang zu behandelnden Philosophinnen, L. Irigaray und J. Kristeva, welche die überwiegend praktische Seite des Denkens der Differenz näher ausarbeiten, gehören mit ihrem Werk, obwohl sie ihrer Geburt nach aus Belgien bzw. Bulgarien stammen, dem französischen Sprach- und Kulturraum an. Das ist für die inhaltliche Problematik dieser Einführung in die Philosophien der Differenz indessen nicht entscheidend. Die relativ ausführliche Erörterung französischer Autoren und Texte dient im gegenwärtigen Kontext nicht oder jedenfalls nicht primär der besseren Bekanntmachung französischen Denkens im deutschen Sprachraum mit den zugehörigen ‘Verflechtungen’ und ‘Kreuzungen’. Dazu ist unter anderem von B. Waldenfels in seinem Buch: Deutsch-Französische Gedankengänge (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995) und in den beiden von J. Jurt herausgegebenen Bänden: Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz und Von Michel Serres bis Julia Kristeva (Freiburg i.B.: Rombach 1998 und 1999) Wichtiges geleistet worden. Die Auswahl französischer Philosoph/inn/en erfolgt hier unter dem inhaltlichen Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Klärung und Ausarbeitung des neuen Begriffs der Differenz. Gilles Deleuze (1925-1995) bezieht sich nicht direkt auf Adorno, wohl aber häufig auf Heidegger. Er hat eine für die französischen Differenzphilosophen maßgebende Nietzsche-Interpretation vorgelegt, die den inhaltlichen und methodischen Ausgangspunkt seines Denkens weitgehend bestimmt. Über M. Foucault, dem er viel verdankt und von dem er hoch geschätzt wird, gibt es auch eine Verbindung zu Adorno. Sein eigener neuer Stil des Philosophierens besteht indessen nicht darin, wie Nietzsche oder Foucault zu schreiben, sondern darin, sich der Bewegung des Denkens zu überlassen und die dabei gemachten Erfahrungen ‘als discours indirect libre oder “erlebte Rede”’ aufzuschreiben. So kann er in eine Dimension des Denkens eindringen, die sonst als Ungedachtes, Undenkbares diesem vorauszuliegen scheint. Er hat dies unter anderem in zwei großen Monographien zu Leibniz und Spinoza zur Anwendung gebracht, indem er eine Metapher (die ‘Falte’) bzw. einen eher beiläufig gebrauchten Begriff, dem aber unter der genannten Perspektive eine Schlüsselbedeutung zukommt (der ‘Ausdruck’), zum Angelpunkt seiner Interpretation macht. Die Kunst ist für ihn nicht - wie für Adorno und Heidegger - wegen ihres utopischen Potentials als Gegeninstanz zur Technik wichtig, sondern weil in ihr die Dimension des Ungedachten und Undenkbaren direkter gegeben ist. Seine Interpretation des Werks von Francis Bacon und seine Arbeiten zur Film-Ästhetik werden im Zusammenhang des 1. Kapitels von Teil II behandelt. Deleuzes denkerisches Anliegen wird deutlich, wenn man es von Hegels Dialektik absetzt, obwohl Deleuze selbst diese nicht immer adäquat wiedergibt. Man kann sagen, dass diese Dialektik, die in ihren sich wiederholenden Schritten von These, Antithese und Synthese (die auf höherer Stufe zu einer neuen These wird) inhaltlich oft hochkompliziert ist, in ihrer Bewegungsstruktur indessen einfach bleibt. Deleuze will demgegenüber komplexe Wiederholung denken. Was sich wiederholt, ist bei Deleuze nicht das Selbe (auf höherer Stufe), sondern ein Anderes, dessen Selbigkeit mit dem Ersten sich nicht konstruieren lässt. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, spricht er auch von ‘vertikaler’ anstelle von ‘horizontaler Wiederholung’. Sie ist nicht ableitbar, sondern kontingent. Sie ereignet sich, bricht herein, blitzt auf. Wenn man es so sieht, kann auch die reine Differenz eine Art von Wiederholung sein. Diese Differenz ist verschieden von der begrifflichen Differenz (dem ‘Begriff der eigentlichen Differenz’), wie sie ‘von Aristoteles über Leibniz bis Hegel’ gedacht worden ist. Der neue Begriff der Differenz lässt sich ‘nicht auf die blosse begriffliche Differenz reduzieren’. Deleuze spricht von der ‘Singularität’ der ‘Idee der Differenz’ und von der ‘Macht’ dieser Idee, deren Bedeutung in ihrer ‘Begegnung’ mit dem Begriff der nicht mehr diskursiv denkbaren ‘vertikalen Wiederholung’ näher auszuarbeiten ist. Die gesellschaftlich-politische Seite seines Differenzdenkens hat Deleuze vor allem in den beiden Bänden des gemeinsam mit dem Psychoanalytiker F. Guattari geschriebenen Werkes: Kapitalismus und Schizophrenie ausgearbeitet. Beide Autoren vertreten darin nicht nur einen kritischen Standpunkt gegenüber dem ‘Familialismus’ Freuds, sondern auch gegenüber der Freudinterpretation Lacans. Deleuzes Nietzschedeutung und sein gesellschaftlich-politisches Engagement kommen zusammen in dem Begriff des ‘nomadischen Denkens’. Die weit ausgreifenden historischen Prozesse der Kodierung, Überkodierung und Dekodierung des menschlichen Lebens und der Welt lassen schließlich keine festen Bedeutungen mehr bestehen, sondern nur noch ‘Intensitäten’. Sie münden in ein Nomadisieren, das man nicht nur als einen frühen ursprünglichen Zustand zu denken hat, sondern auch als ein Abenteuer, als einen Ruf nach außerhalb, nach Bewegung, durch die in bereits lange Zeit sesshaften und innerlich gefestigten Gruppen ein neues Nomadentum entsteht. Damit wendet sich Deleuze gegen die Verfestigung des Gesetzes, der Institution und des Vertrags, die bis in demokratische Verfassungen hinein zu einer despotischen Formation gehört. Der ‘Signifikant’ (der Bedeutungsträger im Zeichen) - auch im Denken Lacans - ‘ist die letzte philosophische Inkarnation des Despoten’. Jean-François Lyotard (1925-1998) bezieht sich in verschiedenen Schriften ausdrücklich auf Adorno und Heidegger, ebenso auf Marx, Nietzsche und Freud. Das gilt auch für sein Hauptwerk Le différend (Paris: Minuit 1983; Deutsche Übersetzung von J.Vogl: Der Widerstreit. München Wilhelm Fink 1987), in dem ferner Bezugnahmen auf Kant und Hegel sowie Platon und Aristoteles im Vordergrund stehen. Von den übrigen Differenzphilosophen erwähnt er vor allem Levinas und Derrida. Nachdem er zunächst von E. Husserls Phänomenologie ausgegangen ist, hat er sich den Schriften von Marx, Nietzsche und Freud zugewandt. In einigen wichtigen Aufsätzen in dem Band Intensitäten (siehe Fußnote 32) und dem Buch Ökonomie des Wunsches (Bremen: Impuls 1984; Französische Originalausgabe: Paris 1974) verabschiedet sich Lyotard vom Marxismus und akzeptiert an seiner Stelle keine andere Ideologie. Er radikalisiert Lacans Neuinterpretation der Freudschen Psychoanalyse, indem er nicht nur ‘gleitende’ Bedeutungen annimmt, sondern einen ‘Nullpunkt’ an Bedeutung konstatiert. Darin folgt er den Analysen, die Deleuze zusammen mit Guattari gemacht hat. Der Philosoph kann nichts anderes mehr tun, als die Intensitäten der libidinalen Energie eines Phänomens zu messen, die letztlich auf den Wünschen der sexuellen Phanatasie beruht. Auf diesem Weg gelangt er zu seiner Kritik an den Großen Erzählungen (grands récits), die in der Geschichte der westlichen Philosophie dem Leben und der Welt Bedeutung verliehen haben. Diese Kritik richtet sich ebensosehr gegen den Liberalismus wie gegen den Marxismus und ebensosehr gegen den Hegelianismus, Kantianismus, Platonismus wie gegen die christliche oder muslimische Theologie. Seine Arbeit an der näheren Bestimmung des neuen Differenzbegriffs setzt in der Sprache an. Wie für das menschliche Handeln gibt es nach Lyotard für das Sprechen keine Metaregeln (Regeln einer höheren Begründungsstufe), aus denen sich eine Rechtfertigung für das Geschehene ableiten ließe. Warum in einem Satz ein Wort dem anderen folgt oder in einem Diskurs ein Satz dem anderen folgt, lässt sich in der Praxis des Sprechens nicht befriedigend aus übergeordneten Prinzipien (etwa den Regeln der formalen Logik) erklären. Während wir sprechen, bilden wir unsere Sätze spielerisch (wir spielen Satzspiele, jeux de phrase), indem wir Wörter aufeinander folgen lassen. Die Nähe zu den ‘Sprachspielen’ des späteren Wittgenstein liegt auf der Hand. Sie ist für diesen Kerngedanken Lyotards von großer Wichtigkeit. Weil es für die ‘Satzspiele’ letztlich keine Metaregeln gibt, entsteht zwischen den Wörtern eines Satzes und den Sätzen eines Diskurses eine Kluft, ein theoretisch nicht zu schlichtender Widerstreit, eine irreduzible und insofern bleibende, fortdauernde Differenz, der Lyotard den Namen Le différend (Partizip Präsens von différer, verschieden sein, sich unterscheiden) gegeben hat. Ein direkteres Vorkommen dieser Differenz findet Lyotard nicht so sehr in der Kunst, wie sie in Kants ‘Analytik des Schönen’ seiner ‘Kritik der ästhetischen Urteilskraft’ behandelt wird, sondern in der Analytik des Erhabenen. Damit hat er diesen Teil von Kants Kritik der Urteilskraft ebenfalls für ästhetische Überlegungen fruchtbar gemacht. Das Schön-finden erfährt hier in sich selbst einen unauflöslichen Widerstreit. Im Fall des ‘Dynamisch-Erhabenen’ bedingt die überwältigende Grösse bestimmter Naturphänomene (die Weite des Meeres, die gigantischen Dimensionen des Hochgebirges, die Unendlichkeit des Sternenhimmels) nicht in erster Linie ein Gefühl der Lust als ‘interesseloses Wohlgefallen’, wie beim Anblick des Schönen, sondern ein Gefühl der Unlust, weil das Gesehene die ‘Einbildungskraft in der ästhetischen Grössenschätzung’ übersteigt. Der Mensch kommt sich klein und nichtig vor. Zugleich kann ihm aber die Übereinstimmung dieser Grösse mit dem ‘Absolut-Großen’ der Vernunftideen zum Bewusstsein kommen, die er in sich als vernünftigem Wesen anzutreffen vermag. Damit stellt sich doch auch das Gefühl der Lust ein. Diese Seite der Erfahrung des Erhabenen heißt auch: ‘des Geistes tapfere Gegenwehr’ gegen das Überwältigtsein. Wie das ‘Schlechthin-Große’ in der Natur sind die Vernunftideen im Geist (in der Vernunft), vor allem der ‘kategorische Imperativ’ (die Idee der reinen praktischen Vernunft, die moralisches Handeln gebietet), auch ein Erhabenes: ‘der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir’. Auch bei Lyotard ist die politisch-gesellschaftliche Seite seines Differenzdenkens deutlich ausgearbeitet. Die ‘großen Erzählungen’, die eine umfassende systematische Deutung der Welt und des Lebens zu bieten suchen, gelten konkret für eine Mehrheit, die ihnen im Namen der Gesellschaft im ganzen Gültigkeit verleiht. Wenn solche Gesamtdeutungen innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werden, bleiben nur Sinnfragmente übrig, auf die sich jeweils ein konkretes Wir einigen kann. Damit verschwindet das Verhältnis einer Mehrheit zu Minderheiten, die für diese mitentscheidet, und es entsteht ein ‘Patchwork der Minderheiten’. Der Kampf der Frauen für ihre Emanzipation spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Seine Philosophie des Politischen ist nach dem Erscheinen des Hauptwerks ebenfalls stark von seiner Lektüre der Kantischen Schriften bestimmt. Mit dem Sprachgebrauch Lyotards, dass er im Hinblick auf die neuen Formen der Weltdeutung, der politischen Orientierung und des Wissens überhaupt von einer ‘postmodernen Bedingung’ spricht, werden wir uns im folgenden Abschnitt der Einführung in die Thematik (d.) auseinandersetzen. Jacques Derrida (geb. 1930) knüpft auf vielfache Weise bei Heidegger an. Er sucht Heideggers Anliegen in seinem Kern: die Seinsfrage und die ‘Destruktion der Metaphysik’ wieder aufzunehmen und weiterzuführen. Aber auch Nietzsche ist sehr wichtig für Derrida. Seine Nietzsche-Interpretation impliziert nicht nur eine Wendung gegen die Hermeneutik P. Ricoeurs und H.-G. Gadamers, sondern auch eine Kritik an Heidegger. In seinem Bestreben, die Frage nach dem Sinn als einer umfassenden Welterklärung hinter sich zu lassen, spielt Derrida den radikalen Nihilismus Nietzsches gegen Heidegger aus, der die Seinsfrage noch als Frage nach dem ‘Sinn von Sein’ formuliert hat. Wie Lyotard beginnt auch Derrida seine philosophische Arbeit im Rahmen der Husserlschen Phänomenologie. Durch F. de Saussures Auffassung der Sprache als eines Systems aufeinander verweisender Zeichen, deren tiefenpsychologische Interpretation bei Lacan, Heideggers Interpretation der westlichen Metaphysik als Denken der Anwesenheit (des Präsens) und Freuds Analysen des Krankheitsbildes der ‘Selbstaffektion’ gelangt Derrida zu einer Kritik an Husserl. Er macht diese Kritik an der ‘eigentümlichen Autorität’ fest, die bei Husserl die Instanz der Stimme hat. Anders als in de Saussures allgemeiner Sprachwissenschaft ist die Stimme für Husserl reiner Ausdruck der Innerlichkeit des Bewussseins. Als solche macht sie das Phänomen in der Weise des Sich-hören-sprechens für den Sprechenden gegenwärtig. Darin zeigt sich, dass Husserls Philosophie dem Idealismus und der Metaphysik der Anwesenheit verhaftet bleibt. Diese kritische Auffassung über die privilegierte Bedeutung der Stimme bei Husserl bildet für Derrida den Ausgangspunkt zu einer neuen Bestimmung des Verhältnisses von gesprochener Sprache und Schrift. In verschiedenen Untersuchungen zur Hochschätzung der gesprochenen Sprache bei Platon, Rousseau und Hegel, der eine geringere Einschätzung der Schrift entspricht, gelangt Derrida zu der These, dass dem Logozentrismus der westlichen Philosophie, der in Hegels Begründung des gesamten Systems der Philosophie in der ‘Wissenschaft der Logik’ gipfelt, ein Phonozentrismus entspricht, das heißt eine einseitige Zuspitzung auf die Stimme (griechisch: phonè). Der Hierarchie von mündlicher Sprache und Schrift, in der die letztere nur als Gedächtnisstütze dient, um zu behalten, was mündlich gesagt wurde, setzt Derrida nicht eine Umkehrung dieses Verhältnisses entgegen, sondern die These der Gleichursprünglichkeit beider Arten von Sprache. Dabei ist ein völlig neuer Begriff der Schrift vorausgesetzt. Sie wird nicht länger als ein System von Zeichen aufgefasst, sondern als lesbare Spur, deren Bedeutung sich ständig verändert und in immer neuen Verweisungszusammenhängen erfasst werden muss. Zugleich wird damit der Schriftbegriff sehr viel weiter gefasst. Das Produzieren lesbarer Spuren im Sinne des Aufzeichnens von Piktogrammen oder Buchstaben sind nur Spezialfälle des Schreibens. Fussabdrücke im Sand, ein absichtsvoll gebrochener Ast oder Markierungen durch Steine sind ebensosehr lesbare Spuren. Wenn aber gesprochene Sprache und Schrift in diesem weit gefassten Sinn gleichursprünglich sind, gibt es nicht so etwas wie schriftlose Kulturen. Damit wird auch eine Rangordnung der Kulturen hinfällig, die von dem Unterschied von Schriftkulturen und schriftlosen Kulturen ausgeht. Es erweist sich als ein Paradox, dass gerade auch die westliche Philosophie, in der doch eine Hochschätzung der gesprochenen Sprache gegenüber der Schrift vorherrscht, nicht-westliche Kulturen, die keine Schrift im Sinne des Aufzeichnens von Buchstaben kennen, geringer einstuft. Dieses Paradox erklärt Derrida als einen Ausdruck des Ethnozentrismus der westlichen Kultur und Philosophie. Von hier aus wäre es nur ein weiterer Schritt, auch allen Kulturen eine eigene Philosophie zuzugestehen. Diesen Schritt hat Derrida indessen nicht gesetzt. Für Derrida ist entscheidend, dass er die westliche Tradition der Philosophie, die er mit Heidegger in ihrem Kern als westliche Metaphysik auffasst, von innen heraus aufbrechen und überwinden will. Er gerät dabei in eine ähnlich paradoxe Situation wie bereits Adorno, sofern er die westliche philosophische Tradition mit den Mitteln dieser Tradition selbst zu kritisieren und hinter sich zu lassen sucht. Er setzt immer wieder innerhalb der westlichen Metaphysik an, zeigt ihre Grenzen, Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten auf, um dadurch einen Weg aus dieser Tradition finden zu können. Die Dekonstruktion von Texten der westlichen Metaphysik (Platon, Montaigne, Rousseau, Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger) vollzieht sich in der Weise von ‘Randgängen’, das heißt Überschreitungen des Denkhorizonts dieser Texte in Randgebiete (marges), die nicht mehr metaphysisch und noch nicht nachmetaphysisch oder der bereits gelungene Ausdruck eines neuen anderen Denkens sind. Heideggers Bemühen, das Sein zu denken, das selbst nicht ein Seiendes und insofern Nichts ist, versucht Derrida klarer und bestimmter fortzuführen. Wenn alle Seienden untereinander verschieden (different) sind, ist die Instanz, die dies ermöglicht: das Hervorgehen von Verschiedenheiten (Differenzen). Das Hervorgehen der Differenzen ist dann nicht selbst eine Differenz, sondern ein Geschehen, das nicht als etwas Bestimmtes, ein Seiendes unter Seienden zu beschreiben ist. Das heißt, Derrida denkt dieses Geschehen in dem Sinn, in dem Heidegger von ontologischer Differenz spricht, die das Sein von den Seienden unterscheidet. Derrida nennt dieses Geschehen La différance, das heißt er verändert den Buchstaben e in dem Wort ‘différence’ in ein a. Diese Veränderung ist im Schriftbild sichtbar, aber in der gesprochenen Sprache nicht hörbar. Diese wichtige Eigenart des französischen Wortes ist in der deutschen Wiedergabe als ‘Differänz’ durchaus nachvollzogen. Dass der Buchstabe a für Derrida noch andere weittragende Konnotationen (damit verbundene Bedeutungen) hat, lässt sich in der deutschen Wiedergabe indessen nicht ausdrücken. Derrida verweist auf das Aleph, den ersten Buchstaben der hebräischen Schrift, der stumm ist, das heißt nicht ausgesprochen wird, und auf die Form des (Groß)Buchstabens A, die an ägyptische Pyramiden erinnert, in denen die Leichname von Pharaonen über Jahrtausende bewahrt werden. Deshalb behalte ich im folgenden Text die französische Schreibweise von ‘Différance’ bei. In einer früheren Arbeit habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Habermas unrecht hat, wenn er Heideggers Seinsdenken als eine Fundierung des Seienden versteht, die tiefer reicht als entsprechende Versuche der westlichen Metaphysik. Nachdem Heidegger in Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer 1927) eine Fundmentalontologie des (menschlichen) Daseins vorgelegt hat, vollzieht er eine ‘Kehre’, durch die er sich auf die Seinsfrage als solche konzentriert und sich damit von allem Fundierungsdenken abwendet. Deshalb macht es keinen Sinn, Derridas Différance, die auf der Höhe der Frage nach dem Sein gedacht ist, als ein Unternehmen zu erklären, in dem das Fundament für alles Seiende noch einmal ‘eine Etage tiefer’ gelegt wird. In dieser Interpretation wird die Schwierigkeit und das Aporetische der Denkarbeit Adornos, Heideggers und Derridas gerade nicht erfasst, dass sie von den Voraussetzungen der westlichen Metaphysik aus und mit den Mitteln dieser Metaphysik deren Denkgebiet verlassen und die Ausgangspunkte eines neuen anderen Denkens erreichen wollen. Beim späteren Derrida treten die politischen und ethischen Implikationen seines Ansatzes deutlicher ins Blickfeld. Er wendet sich den Phänomenen der Gerechtigkeit, Demokratie und Freundschaft zu, die nicht dekonstruiert werden müssen, da sie in ihrer vollen Bedeutung immer erst in der Zukunft verwirklicht werden können. Die heutige Situation enthält jeweils eine Frage an den Handelnden, auf die er antworten muß, um sich in ihr ver-antwortlich zu verhalten. Falsche Kennzeichnung des Differenzdenkens als ‘postmodern’ Das Denken der Differenz oder - wie wir bis jetzt häufig gesagt haben - das ‘neue’ Denken der Differenz ist als eine philosophische Arbeit zu verstehen, die sich auf den Zusammenhang der westlichen Philosophie im Ganzen richtet, wie er von Hegel und (mit ganz anderen Akzenten) von Nietzsche konzipiert worden ist. Dieser Zusammenhang erfasst nicht alle Strömungen und Verzweigungen der westlichen Philosophie. Aber er hebt eine wichtige Hauptlinie dieser philosophischen Tradition(en) heraus. Es geht darum, dass innerhalb dieser Tradition im ganzen das Identitätsdenken dominiert hat und Differenz in dem Sinn vernachlässigt oder unterdrückt worden ist, dass sie nicht in ihrer eigenen spezifischen Bedeutung gedacht worden ist. Dies ist indessen im Rahmen dieser Tradition nicht zu erreichen. Deshalb weist das Denken der Differenz in dem genannten Sinn über den Zusammenhang der (bisherigen) westlichen Philosophie hinaus. Dieser weit gefasste Kontext des Denkens der Differenz ist bei den hier behandelten Philosophen eindrucksvoll dokumentiert. Ich nenne nur einige hervorstechende Belege. Bei Heidegger ist klar, dass er sich neben seinen Arbeiten zu Kant, Hegel, Nietzsche und anderen neueren Philosophen stark auf die antike griechische Philosophie stützt und auch mittelalterliche Philosophen, besonders die Mystiker, sowie Descartes und Leibniz an wichtiger Stelle heranzieht. Bei Adorno steht zwar die Auseinandersetzung mit Husserl, Nietzsche, Marx, Hegel und Kant deutlich im Vordergrund, aber in der gemeinsam mit M. Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (Amsterdam: Querido 1947), auf die wir im 2. Kapitel genauer zurückkommen, finden sich auch wesentliche Bezugnahmen auf mythische Überlieferungen, vor allem bei den Griechen, sowie auf Xenophanes, M. de Montaigne, F. Bacon und Leibniz. Bei Deleuze ist neben Monographien zu Philosophen aus der Zeit der Aufklärung: Hume und Kant sowie zu Denkern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Nietzsche und H. bergson an die bereits erwähnten Arbeiten zu Leibniz und Spinoza und an seine Bezugnahmen auf Platon und die Stoiker zu erinnern. Bei Lyotard sind außer seinen Anknüpfungen bei Marx, Nietzsche und Freud und seinen häufigen Auseinandersetzungen mit Kant sowie seinen gelegentlichen Bezugnahmen auf Hegel seine Exkurse zu Protagoras, Gorgias, Platon und Antisthenes von großer Bedeutung. Und bei Derrida ist evident, dass er bei seinen Dekonstruktionen der westlichen Metaphysik nicht nur Rousseau, Kant, Hegel und Nietzsche berücksichtigt, sondern sich auch auf Platon, Meister Eckhart, Angelus Silesius und Montaigne richtet. In der Debatte über das Verhältnis von moderner und postmoderner Philosophie zueinander wird dieser breite Kontext auf die Periode seit der Aufklärung verengt. Nun kann man kann mit Recht darüber streiten, ob es ‘die Moderne’ als philosophisches Projekt, das es zu verteidigen oder zu vollenden gilt, jemals gegeben hat. Die am Anfang von Abschnitt a. genannten französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts oder in Deutschland Kant und G.E. Lessing haben sich als Philosophen der Aufklärung verstanden. Damit ist eine absolute Hochschätzung der Vernunft und der daraus zu erklärenden Rationalitätsstrukturen verbunden. H. und G. Böhme haben indessen deutlich gemacht, dass der Vernunftbegriff auch in der Aufklärung und insbesondere bei Kant eine vergessene und verdrängte Gegenseite hat. In einer psychoanalytischen Tiefendimension dieses Denkens zeigt sich: ‘mit der Realisierung der Vernunft wird die Unvernunft mitproduziert’. In diesem Sinn hat B. Latour die Geschichte der Wissenschaften interpretiert und schließlich für eine ‘symmetrische Anthropologie’ plädiert, in der neben den rationalen Strukturen auch deren immer mitproduzierte hybride Unterschichtungen ebenfalls berücksichtigt werden. Er kommt zu dem Ergebnis: Wir sind nie modern gewesen. Bei der sogenannten Moderne mit den zugehörigen historischen Begleiterscheinungen einer mythologisch-religiösen Vor- oder Prämoderne und einer willkürlich-irrationalen Postmoderne handelt es sich um einseitige Konstruktionen, die es notwendig machen, die brauchbaren Elemente aus jeder dieser Positionen auszufiltern und und im Rahmen einer ‘nichtmodernen Verfassung’ beizubehalten. Der französische Soziologe J. Baudrillard geht in dieser Hinsicht noch weiter. Nach seiner Auffassung ist ‘die Moderne’ nicht nur als philosophischer Begriff unbrauchbar. ‘Modernität’ ist ferner ‘weder ein soziologischer Begriff noch ein politischer Begriff, noch genau genommen ein historischer Begriff. Es ist eine charakteristische Form der Zivilisation, die sich selbst der Tradition entgegensetzt, das heißt allen anderen früheren oder traditionellen Kulturen’. Tatsächlich haben Hegel, aber auch andere idealistische Philosophen um und nach 1800, bereits ein sehr kritisches Verhältnis zum Aufklärungsdenken. Die dialektische Methode sucht das Negative, Böse, Schuldhafte in einer Weise in das Denken einzubeziehen, die den Horizont des Aufklärungsdenken überschreitet. Darin sind Marx und die Linkshegelianer Hegel nicht nur gefolgt, sondern sie haben dieses Bestreben durchaus verstärkt. Und Nietzsches Denken ist in einem sehr viel weiter ausgreifenden Sinn ‘als Drehscheibe’ aufzufassen, als dass sich darin der ‘Eintritt in die Postmoderne’ ereignet. Man kann mit Heidegger davon ausgehen, dass dieses Denken den Gipfelpunkt der Geschichte der westlichen Metaphysik bildet, bis zu dem die immer neuen, die vorigen mitumfassenden Systementwürfe aufsteigen, an dem aber auch bereits die abwärts führende Linie der Destruktion dieser Metaphysik beginnt. Oder man kann mit Derrida die These vertreten, dass bei Nietzsche dieser Gipfelpunkt bereits überschritten und die Serie der Dekonstruktionen der westlichen Metaphysik bereits eingesetzt hat. Sicher ist es nicht ‘die Moderne’ oder die Philosophie seit der Aufklärung, die in und durch Nietzsches Denken überschritten werden, sondern der hier herangezogene weitere Kontext der westlichen Philosophie im Ganzen. Deshalb muss man es bedauern, dass Lyotard sein eigenes Denken und auch den Umkreis des Denkens der Differenz zu wiederholten Malen als ‘postmodern’ gekennzeichnet hat. Er gelangt zu dieser Kennzeichnung auf der Grundlage der Übereinstimmung einzelner Motive des Denkens der Differenz mit Elementen des kulturdiagnostischen und kulturkritischen theoretischen Syndroms (vielfältigen Krankheitsbildes) des Postmodernismus. Solche Motive sind: (1) Der ‘Nullpunkt’ der Sinngebung, der in Lyotards philosophischem Werdegang und im Denken von Deleuze und Guattari eine entscheidende Rolle spielt, der aber auch bei Derrida anklingt, wenn er die Hermeneutik ablehnt, weil sie ein Sinnganzes zu erfassen sucht. (2) Die Zurückweisung (‘Delegitimierung’) der ‘großen Erzählungen’, die mit der vielfach von Differenzdenkern geäußerten Kritik an den metaphysischen Systemen der westlichen Philosophie zusammengehört. (3) Die Zerstreuung (dissémination) des Wissens in ‘heteromorphe’ Sprachspiele, ‘in der sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen scheint’. (4) Pragmatik und Performativität als neue Kriterien der Wahrheit des Wissens, mit denen sich Lyotard in der Nachbarschaft von Nietzsches, Heideggers und Derridas Neufassung des Wahrheitsbegriffs befindet. (5) Die Ästhetisierung der Weltdeutung, die Folgen hat für das Verständnis der moralischen Imperative; sie hat in der Bedeutung der Kunst für das Denken der meisten Differenzphilosophen eine deutliche Entsprechung. Die nicht namentlich genannten Herausgeber einiger Briefe Lyotards ‘zum Thema Postmoderne’ finden es nötig, die postmoderne Angelegenheit (l’affaire postmoderne) ‘vor gewissen Vorwürfen zu schützen - unter anderem dem Vorwurf des Irrationalismus, Neo-Konservatismus, intellektuellen Terrorismus, einfältigen Liberalismus, Nihilismus, Zynismus’. Und in den Moralités postmodernes, das sind Erzählungen, die wie Fabeln eine ‘Moral’ vermitteln wollen, sagt Lyotard selbst: ‘Nutzlosigkeit passt zum Postmodernen. Aber das hindert uns nicht, bestimmte Fragen zu stellen: Wie ist das Leben zu gestalten, und warum leben wir? Die Antworten werden aufgeschoben. Wie das natürlich immer war.’ Die fünfzehn Erzählungen dieses Bandes sind ‘Fussnoten zur postmodernen Ästhetisierung. Und dagegen!’ In seinem Buch Lyotard zur Einführung geht W. Reese-Schäfer zwar davon aus, dass Lyotards Denken durch seine Kennzeichnung als postmodern weltweit bekannt geworden ist (Hamburg: Junius 1988). Er betont jedoch gleich zu Beginn, dass dieses Denken ‘ausgesprochen klar und deutlich’ ist und zu einem ‘geradezu hyperrationalistisch argumentierenden, aufklärerischen Theoretiker’ zu gehören scheint. Daraus kann man schließen, dass Lyotard das Differenzdenken nur in einem eingeschränkten Sinn als postmodern gekennzeichnet hat. Jedenfalls hat er eine schematische Abgrenzung von Moderne und Postmoderne abgelehnt. Man kann sagen, dass er schließlich sein eigenes Denken in bestimmten Hinsichten von der ‘postmodernen Angelegenheit’, was immer damit im einzelnen gemeint sein mag, zu unterscheiden sucht. Es mag also im Sinne Lyotards sein, wenn W. Welsch und andere das Denken dieses Autors unter dem Begriff ‘postmodern’ in Deutschland einführen und vielfach diskutieren. Aber dabei sucht auch Welsch, eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne zu vermeiden. Das zeigt sich schon darin, dass er die erstere Unsere postmoderne Moderne (Weinheim: VCH 1987) nennt. Schließlich bezieht Welsch diese Problematik in einen weiteren Horizont ein, indem er den Begriff Vernunft und ‘die zeitgenössische Vernunftkritik’ in umfassender Weise erörtert und dafür ‘das Konzept der transversalen Vernunft’ verwendet. (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995; vergleiche zum Folgenden S. 367-371, besonders Anmerkung 42.) Transversale Verbindungen sind für ihn solche, die ‘bestehende Einteilungen überborden, sich gegen “Totalitäten und Hierarchien” richten, dem Geist der Pluralität verbunden bleiben’. Für den ersten Gebrauch dieses Begriffs verweist er auf F. Guattaris Artikel: Transversalität (in: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 39-55; französische Originalausgabe in Psychothérapie institutionelle 1, 1964/65). Er findet ihn aber auch bei Deleuze und - eher beiläufig - bei Lyotard und Derrida. Mit seinem eigenen Ansatz sucht Welsch sich freilich auch vom Denken der Differenzphilosophen zu unterscheiden. Spätestens seit der Heraushebung des Begriffs der ‘Gerechtigkeit’ und der ethisch-politischen Aspekte im Denken der Differenz, die bei Derrida zu umfangreichen rechtsphilosophischen und politiktheoretischen Erörterungen sowie einer Ethik des (Ver)Antwortens führen, erweist sich eine große innere Distanz zwischen diesem Denken und dem kulturgeschichtlichen Phänomen des Postmodernismus. Derrida weist es für das Verfahren der Dekonstruktion wie überhaupt für sein Denken ausdrücklich ab, dass sie in einen -ismus ‘verwandelt’ werden, weil bereits mit einem solchen Schritt und nicht erst wenn es sich um ‘Post-Ismen’ handelt, ein falscher Status von philosophischer ‘Theorie’ eingeführt wird. (Siehe Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. Übers. von S. Lüdemann. Berlin: Merve 1997 (Englische Originalfassung: Irvine, CA 1986), S. 42-43.) Deleuzes Arbeit wird von J. Marks als ein eigener und eigenständiger Beitrag zu ‘einer der fruchtbarsten und ungewöhnlichsten Perioden im europäischen und insbesondere französischen Denken’ charakterisiert, die mit einem gewissen Recht ‘strukturalistisch’, ‘poststrukturalistisch’ und ‘dekonstruktivistisch’, aber nicht als ‘postmodern’ bezeichnet werden kann. Deshalb trifft es nicht den Kern der Sache, wenn Lyotard von A. Wellmer in seinem Buch Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985), in dem Habermas für ‘die Moderne’ steht und Adorno als derjenige erscheint, der in die ‘Dialektik von Moderne und Postmoderne’ verstrickt ist, immer wieder als Kronzeuge für eine philosophische ‘Postmoderne’ herangezogen wird. Insgesamt halte ich es für falsch, dass Lyotard den engen Zusammenhang von Differenzdenken und Postmodernismus hergestellt hat, weil er damit von dem denkerischen Anliegen der Philosophien der Differenz ablenkt und diese in die Nachbarschaft zu einer blossen Modeerscheinung rückt. Wenn es schon fraglich ist, dass es ‘die Moderne’ als ein philosophisches Projekt je gegeben hat, möchte ich im Blick auf ‘die Postmoderne’ oder ‘den Postmodernismus’ feststellen, dass dies keine philosophischen Begriffe sind. Deshalb werde ich im Fortgang dieser Darstellung der Philosophien der Differenz diese Begriffe nicht mehr verwenden. Konkretionsschritte im Denken der Differenz bei Irigaray und Kristeva Die Politik der Differenz als Aspekt des Denkens der Differenz ist oben bei den ersten einführenden Bemerkungen in seiner allgemeinen Tendenz als kritisch, emanzipatorisch und ‘befreiend’ charakterisiert worden. Darin unterscheidet sich der ‘neue’ Begriff der Differenz von dem in der Tradition der westlichen Philosophie gängigen, der mit einer konservativen politischen Haltung zusammengehört. Es liegt in der Linie dieser überwiegend politisch-praktischen Seite des ‘neuen’ Differenzdenkens, dass Frauen, die sich für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts einzetzen, an der Problematik dieses Denkens mitarbeiten. Dabei will ich die Beiträge, in denen diese Seite des Differenzdenkens im Vordergrund steht, in keiner Weise als etwas Nachträgliches, nicht unmittelbar zur Sache selbst Gehörendes ansprechen. Es geht um Konkretionsschritte im Denken der Differenz, die dieses Denken auch im Kern seiner Problematik weiterbringen. Luce Irigaray (geb. 1930) bestimmt nach einer kritischen Betrachtung entscheidender Passagen der westlichen Philosophie als eines ‘Spiegels’ phallokratischer Tendenzen (das heißt durch den Phallus symbolisierter Herrschaftsansprüche des männlichen Geschlechts) die Frau in ihrem wesentlichen Anderssein. In dem wichtigen Buch über ‘Dies Geschlecht, das nicht eins ist’ macht sie klar, dass die Frau nicht das andere Geschlecht gegenüber dem ersten männlichen ist. Sie ist nicht die Gegenseite, das Umgekehrte des männlichen Geschlechts. Damit würde sie in ihrem Sein viel zu sehr von dem bestimmt sein, als dessen Gegenseite sie erscheint. Die Geschlechtsdifferenz ist radikaler: das weibliche Geschlecht lässt sich nicht nur nicht zureichend dadurch bestimmen, dass es die Gegenseite von etwas ist; es ist auch nicht ein Geschlecht, das in einem Verhältnis welcher Art auch immer zu einem anderen steht. Denn es ist in sich selbst vielfältig, das heißt different. Eins zu sein, ist selber Teil der männlichen Denk- und Handelweise, ebenso: dem Einen ein Anderes gegenüberzustellen. Durch die interne Vielfalt des weiblichen Geschlechts ist eine weitergehende Differenz zum männlichen Geschlecht und seinem Einsseinwollen ausgedrückt. Irigaray hat diese Problematik der ‘sexuellen Differenz’ auf vielen Gebieten näher ausgearbeitet: auf dem der Ethik und der Rechtsphilosophie, sowie der Natur- und der Religionsphilosophie. Vor allem arbeitet sie auf dem Gebiet der Sprache, auf dem sie praktische Beispiele der écriture féminine zu geben sucht, um damit die Grundlagen für eine ‘Kultur der Differenz’ zu schaffen. Indem auf diese Weise in verschiedenen Sprachen ‘Elemente einer communication sexuée’ zusammengetragen werden, wird konkret an einer culture sexuée gearbeitet. Getreu ihrer These: ‘Sprechen ist niemals neutral’, verlangt Irigaray, dass das Land der Geburt nicht nur Vaterland, sondern auch Mutterland heißen sollte und dass für die Weitergabe des Erbes und des Namens die Mutter-Tochter-Linie ebenso relevant zu sein hat wie die des Vaters auf den Sohn. Sie hält eine ‘Revolution unserer symbolischen Systeme’ für notwendig. Diese führt zu einem neuen Verständnis der ‘Liebe unter uns’ und des Eros in einem nicht primär chaotisch-triebhaften, vom Mann her konzipierten Sinn. Damit wendet sich Irigaray gegen zentrale Voraussetzungen der Freudschen Psychoanalyse und gegen eine politische Ethik, nach der das Verlangen (le désir) dem Tod, der Macht und dem Geld geopfert wird. Julia Kristeva (geb. 1941) produziert in ähnlicher Weise wie Irigaray im Rahmen des Denkens der Differenz und des Kampfes für die Emanzipation der Frauen philosophische, besonders sprachphilosophische und psychologische, besonders psychoanalytische sowie essayistische Texte. Sie ist als Sprachphilosophin stärker zeichentheoretisch orientiert und ihre Kritik an Freud, die sie als Psychoanalytikerin vorbringt, ist weniger radikal als bei Irigaray. Ihr starkes eigenes literarisches Engagement zeigt sich besonders deutlich in dem Roman über ‘Die Samoraïs’ und in dem Band mit ‘Liebesgeschichten’. ‘Weiblichkeit’ ist für sie eines der bedeutenden Phänomene, die im unbewusst Semiotischen wurzeln und in der bewusst symbolischen Erfahrung der Welt nur schwer und auf indirekte Weise zum Ausdruck kommen. Dabei betrachtet sie ‘Weiblichkeit’ als ein Moment jeder Art von Subjektivität, auch der männlichen. Als ein weiterer Schritt auf dem Weg der Konkretionen im Denken der Differenz ist Kristevas Buch: Fremde sind wir uns selbst besonders wichtig, weil darin ein Beitrag zu dem gesellschaftlich-politischen Problem der Multikulturalität geleistet wird. Der/die Fremde(n) wird/werden nicht nur draussen gesucht, als (ein) Mensch(en), der/die aus einer anderen Kultur kommend nunmehr in einem westeuropäischen Land (in diesem Fall: in Frankreich) lebt/leben. Die Dimension des Fremdseins treffen wir ebenfalls in uns selbst an. Die Erfahrungen des/der Fremden in einem westeuropäischen Land, die Kristeva subtil und detailliert beschreibt, kann jede/r auch in sich selbst machen. Das können wir nach Kristeva von Freud lernen, der den Mangel an Integrationsfähigkeit als psychologisches Phänomen erklärt. Der/die Andere/n ist/sind mein eigenes Unbewusstes. Das Fremdsein in uns selbst aufzuspüren, erscheint so als der einzige Weg, darauf draussen keine Jagd zu machen. Der/die Fremde macht einerseits unerfreuliche Erfahrungen. Er/sie ist aus einer vertrauten Umgebung herausgerissen. Die neue Umgebung ist ihm/ihr unbekannt und unheimlich. Andererseits haben diese Erfahrungen etwas Angenehmes. Der/die Fremde weiß, dass er/sie etwas erfährt, das die Menschen um ihn/sie herum, die in der eigenen vertrauten Umgebung leben, nicht kennen: eben das Fremdsein. Damit ist er/sie eine Erfahrung reicher. Das zeigt sich besonders deutlich in der Sprache, die zugleich leer und von barocker Fülle ist, im ‘Schweigen der Polyglotten’. Als Immigranten sind die Fremden vor allem Arbeiter. In und durch die Arbeit bestätigt sich ihr Recht da zu sein. Der Sammelband Die Herausforderung durch das Fremde (Hrsg. von H. Münkler. Berlin: Akademie Verlag 1998) enthält zahlreiche interdisziplinäre Beiträge zu diesen Fragen, die es erlauben, das Besondere des Beitrags von Kristeva herauszuarbeiten, das auf ihrer Verwurzelung im Differenzdenken beruht. Im Übergang von einer traditionell phänomenologischen Erfassung des Fremdseins zur interkulturellen Philosophie, die sich den Fragen des Dialogs mit den Philosophien anderer, fremder Kulturen widmet (siehe den folgenden Abschnitt g. dieser Einführung in die Thematik, sowie das 8. und 9. Kapitel von Teil III), sind die Arbeiten von B. Waldenfels zu diesem Thema angesiedelt. Besonders wichtig erscheint mir seine Auffassung von ‘Steigerungsgraden des Fremdseins’, wie er sie in seiner Topographie des Fremden (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997) herausarbeitet. Wir haben oben bereits angemerkt, dass auch Lyotard Probleme der multikulturellen Gesellschaft thematisisert hat. Das gesellschaftlich-politische Engagement Deleuzes ist ebenfalls bereits zur Sprache gekommen. Ein weiteres Beispiel für die überwiegend praktische Seite des Differenzdenkens ist Derridas Beteiligung an der Gründung (1975) und langjährigen Arbeit der Groupe de recherches sur l’enseignement philosophique (Gruppe für Forschungen über den Philosophie-Unterricht), die sich für den Erhalt und die sachgemäße Gestaltung des Philosophie-Unterrichts an den französischen Oberschulen eingesetzt hat. Im Rahmen dieser Arbeit hat er 1978 einen Vortrag in Cotonou (Benin) gehalten, in dem er die Bedeutung des Philosophie-Unterrichts auch in ehemals französischen Kolonialgebieten in Afrika herausstellt und eine Affinität konstatiert zwischen der in der westlichen Welt notwendigen Arbeit der Dekonstruktion und der sowohl praktischen als theoretischen Aufgabe der Dekolonisierung in den afrikanischen Gebieten. Das Differenzdenken als ein Weg zur interkulturellen Philosophie Wenn ich es richtig sehe, ist es eine weiterführende Linie im Denken der Differenz, das hier vorgestellt wird, dass daran gearbeitet wird, den Ethnozentrismus der Philosophie, wie er seit der Aufklärung besteht, zu überschreiten. Dass die Weltgeschichte von der Aufklärungsphilosophie als eine einheitliche Entwicklung gesehen wird, die in der europäischen Kultur des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, kennzeichnet diese Philosophie als Einheitsdenken. Das führt bei Kant und Hegel (trotz der Kritik des letzteren am Aufklärungsdenken) zu ausführlichen Argumentationen, warum nicht-europäische Kulturen keine Geschichte und keine Philosophie hervorgebracht haben. Man kann darin eine theoretische Untermauerung des kolonialen Denkens dieser Zeitepoche in Europa erblicken. Während Teile des Fernen und Nahen Ostens (China, Indien, Persien, Palästina und Ägypten) bei Hegel immerhin zur Vorgeschichte Europas und der Philosophie gehören, wobei es die letztere per definitionem nur in Europa bzw. der westlichen Welt gibt, ist die Abweisung einer eigenen Geschichte und Philosophie, die im Prinzip für alle anderen Regionen der Erde gilt, für Afrika (mit der Ausnahme Ägyptens) am deutlichsten. Wenn durch diesen Weg des ‘Weltgeistes’ von Osten nach Westen das Diktum ex oriente lux ausgedrückt wird, kann man sagen, dass die Szenerie der Weltgeschichte im Sinne des Geschehens auf der gesamten Erde in dieser Konzeption sehr partiell und gewissermaßen gespenstisch beleuchtet wird. Nach der Periode der Philosophiegeschichte von der Aufklärung bis Hegel war Schopenhauer der erste, der in außereuropäischem Denken wichtige Motive entdeckte, die in der westlichen Philosophie nicht oder nur unzureichend vorkommen. Dabei handelt es sich vor allem um die Begriffe des Leidens und des Nichts, die im Buddhismus eine zentrale Bedeutung haben. Wie wir bereits gesehen haben, folgt Nietzsche in diesem Punkt seinem Lehrer Schopenhauer. Aber für Nietzsche bleibt unbestritten, dass der Anfang der wirklichen Philosophie, wie Hegel es aufgezeigt hat, im antiken Griechentum zu finden ist. Heidegger hat den Eurozentrismus der westlichen Philosophie auf die Spitze getrieben, wenn er sagt, dass Philosophie und Europa eigentlich zwei Wörter für dieselbe Sache sind. Dabei ist es sehr merkwürdig, dass er zugleich zu wiederholten Malen interessante Gespräche mit fernöstlichen Philosophen (aus Japan und Korea) geführt hat, die er dann freilich terminologisch nicht Gespräche unter Philosophen, sondern unter Denkern genannt hat. In der widersprüchlichen Haltung Heideggers kann man ein Durchbrechen des Eurozentrismus der westlichen Philosophie wider Willen erblicken. In den ‘Prolegomena’ zu dem Band Das Multiversum der Kulturen habe ich von der ‘doppelten Bewegung des Sich-öffnens und zugleich auch wieder -verschließens gegenüber anderen Kulturen in der europäisch-westlichen Philosophie nach Hegel’ gesprochen. Die Position Heideggers wird in dem genannten Band von A.W. Prins kritisch untersucht. Und die Reihe der bisher genannten westlichen Philosophen, die sich nach diesem Muster verhalten haben, wird darin fortgesetzt mit M. Merleau-Ponty (von D. Tiemersma), Habermas und den Brüdern H. und G. Böhme (von J. Hoogland), den Differenzphilosophen (als Neo-Nietzscheanern von H. Oosterling) und speziell Derrida (von J. van den Oord). Im Gefolge der Weltoffenheit J.W. von Goethes und der Brüder W. und A. von Humboldt wird im 19. Jahrhundert der östlichen Philosophie eine dem Westen gegenüber gleichwertige Stellung eingeräumt. An den Universitäten wird das Fach ‘Vergleichende Philosophie’ etabliert, das zwar in der Regel nicht in den Philosophie-Abteilungen, sondern in den Instituten für Sinologie, Indologie usw. betrieben wird. So etwas wie ein ‘Durchbruch zur interkulturellen Philosophie’ erfolgt im Rahmen der marxistischen Philosophie der damaligen DDR und in der breit orientierten philosophischen Atmosphäre in Wien in den Jahren 1988 bzw. 1990. Einer der ersten, die die prinzipielle These vertreten, dass zu jeder Kultur eine eigene spezifische Philosophie gehört, ist der seit langem in Deutschland lehrende, aus Indien stammende Philosoph R.A. Mall, nachdem er zunächst (gemeinsam mit H. Hülsmann) die im Zusammenhang des Faches ‘Vergleichende Philosophie’ durchaus bereits anerkannte Auffassung dargelegt hat, dass China, Indien, Europa als Die drei Geburtsorte der Philosophie (Bonn: Bouvier 1989) zu betrachten sind. In dem erwähnten DDR-Buch hat G.-R. Hoffmann in seinem Beitrag das signifikante Beispiel der afrikanischen Philosophie aufgegriffen, die sich seit der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten (von etwa 1960 an) auf diesem Kontinent selbst sowie in einer Reihe von englischen, US-amerikanischen und französischen Veröffentlichungen Gehör verschafft. Kurz danach vollzieht Ch. Neugebauer in seiner Wiener Dissertation: Einführung in die afrikanische Philosophie (München/Kinshasa/Libreville: Afrikanische Hochschulschriften 1989) eine nachdrückliche Kritik des noch immer herrschenden philosophischen Eurozentrismus. Eine erste deutschsprachige Dokumentation aktueller afrikanischer Philosophie wird ebenfalls in Wien erarbeitet. Damit ist ein in sich vielfältiger Kontext umschrieben, der sich inzwischen wesentlich weiter verzweigt hat (besonders wichtig sind die oben erwähnten Arbeiten von Waldenfels zu einer ‘Phänomenologie des Fremden’). In diesem Kontext suche ich als einen weiteren Konkretionsschritt im Denken der Differenz (nach den erwähnten Arbeiten von Irigaray, Kristeva, Lyotard, Deleuze, Derrida), am Beispiel Afrikas Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff zu vollziehen. Mit der Formel ‘Dialoge zwischen afrikanischen und westlichen Philosophien’ suche ich den differenzphilosophischen Begründungshorizont für interkulturelles Philosophieren anzugeben. Während Habermas und K.-O. Apel multi- und interkulturelle philosophische Probleme auf der formal-prozedural universalistischen Grundlage ihrer Diskurstheorie diskutieren, die das Verfahren des logisch geleiteten Argumentierens als Maßstab gebraucht, wird für die interkulturellen philosophischen Dialoge die Tatsache vorausgesetzt, dass Menschen sich wesentlich sowohl mit und durch vorsprachliche körperliche Signale als auch mit und durch die Sprache miteinander verständigen. Deshalb ist es wichtig, die Instanz des Dialogs oder besser im Plural: der Dialoge in ihrer Bedeutung näher auszuarbeiten. Dialoge vollziehen sich nicht nur mit Hilfe sprachlicher Zeichen oder Symbole, sondern auch andere körperlich vermittelte Signale gehören dazu, welche die Anwesenheit der beteiligten Personen voraussetzen. Das Antlitz und der Blick des/der Anderen qualifiziert ihn/sie als Dialogpartner. Außer dem Blickkontakt gibt es eine Fülle multisensorischer Wechselbezüge, wie zum Beipiel die Gestik und den Tonfall, welche die Dialoge begleiten. Es ist eine schwierige Frage, auf Grund welcher Bedingungen sich das Ergebnis von Dialogen als richtig erweisen lässt. Es ist nur der Anfang der Beantwortung dieser Frage, den Sachverhalt tautologisch zu formulieren: das Ergebnis von Dialogen ist richtig, wenn es das Ergebnis von Dialogen ist. Es ist nicht zu vermeiden, dass bei Dialogen auch Machtpositionen im Spiel sind, die auf Lebensalter, Energie und Sachkompetenz der Beteiligten beruhen. Auch in diesem Punkt wird eine Abgrenzung von Habermas und Apel notwendig sein, die im Rahmen der von ihnen vertretenen Diskurstheorie von ‘herrschaftsfreier Kommunikation’ sprechen und sich in diesem Zusammenhang auf den schon von Aristoteles für die Dimension des Logischen in Anspruch genommenen ‘zwanglosen Zwang’ des besseren Arguments berufen. Ebenso ist es, zumal bei interkulturellen Dialogen, unvermeidlich, dass Elemente des Nichtverstehens bleiben. Wichtiger als das Verstehen in jedem Fall ist die Achtung vor der Auffassung des/der Anderen, auch wenn man sie im eigenen Verstehenshorizont (noch) nicht unterbringen kann. Abschließend soll die Vorgeschichte der Philosophien der Differenz und ihre Bedeutung für die Philosoph/inn/en, die in diesem Zusammenhang behandelt werden, in einem Schema dargestellt werden. Dieses Schema veranschaulicht die ‘Genealogie’ und die ‘Topologie’ der Philosophien der Differenz in einem begrenzten historischen und thematischen Horizont. Seine inhaltliche begrifflich-theoretische Ausarbeitung erfolgt in den Teilen II und III dieser Darstellung.

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