Dieter Mersch

 

 

An-Ruf und Ant-Wort: Sprache und Alterität

 

 

 

 

1. Anruf

„He, Sie da!“1 Der Anruf bewirkt meine Umwendung, auch wenn ich nicht weiß, ob er mir gegolten hat. Ich zolle ihm Aufmerksamkeit, ohne gewahr zu sein, dass ich ein Angerufener bin. Ich habe mich bereits umgewendet, indem ich ihn gewahrte und aufnahm, auch wenn ich seinen Sinn nicht verstand, oder er vielleicht nicht einmal eine Bedeutung gehabt hat. Meine Umwendung ist Re-Aktion, kein Reflex, der unwillkürlich geschieht, vielmehr Ant-Wort, selbst wenn ich den Ruf übergehe und seine entschlossene Beantwortung verweigere.

Offenbar kommt dem Anruf die Macht zu, mich re-agieren zu lassen. Louis Althusser ist in seiner Erhellung der Macht des Ideologischen von der Struktur solcher „Anrufung“ (interpellation) ausgegangen.2 Er hat damit einen Ausdruck verwandt, den in ähnlicher Weise auch Emmanuel Lévinas seiner Untersuchung der Sprache voranstellte.3 Indem aber Althusser einfache Formen der Intervention durch einen Polizisten auf der Straße zugrundelegte, entzifferte er im Augenblick der Umwendung das Schema der Anerkenntnis einer Macht. „Warum? Weil [das Subjekt] damit anerkennt, dass der Anruf ‘genau’ ihm galt und dass es ‘gerade es war, das angerufen wurde’ [und niemand anderes].“ 4 So konstituiert der Akt der Anerkenntnis das Subjekt zugleich als ideologisches. Der Anruf ruft es in eine Struktur, in die es immer schon hineingezogen ist, ohne sie gewollt oder eigens akzeptiert zu haben. Das Ideologische kennzeichnet nichts Bewusstes; es gehört weder der Ordnung von Herrschaft und Unterdrückung noch der Struktur der Infiltration an: Es geht dem Subjekt voraus, indem sie es ermöglicht.

Die Szene ist freilich gebunden an die Realität der Macht. Der Ruf galt einem Passanten, der durch den Polizisten als ihren Repräsentanten angehalten wurde. Insofern bleibt die Analyse zwiespältig: Althusser denkt die Sprache als Sprache der Macht. Sie ist bereits Ideologie. Doch unabhängig davon lässt sich in der fiktive Szene zugleich die Urszene des Angesprochenwerdens selbst durch die Sprache ablesen. Sie erhellt nicht so sehr das Funktionieren der Ideologie, als vielmehr die Form der Kommunikation als Ereignis von Alterität. Gewiss ist aus ihr die Macht niemals auszustreichen. Es gibt die Hierarchie, die Staatsgewalt, die subtilen Spiele von Herrschaft und Knechtschaft, von Demütigung und Ignoranz bis in die einfachsten Unterhaltungen hinein. Aber zunächst und in erster Linie schafft der Anruf die Tatsache des Dialogs und stellt damit allererst den Raum der Sprache her. Er öffnet die Möglichkeit ihrer Performanz. Es wäre die Konstitution einer Bühne, auf der die besonderen Szenen der Macht und der Unterwerfung wie auch des Widerstandes ihren Platz fänden.

Das bedeutet, die Struktur der Sprache als soziales Geschehen vorgängig aus der Struktur der Anrufung zu verstehen. Sie erlaubt einen anderen Blick auf das, was man die „Performativität“ des Gesprächs nennen könnte. Denn der Anruf geht der Sprache voraus, indem er an-spricht und damit die Situation der Rede erst erschafft. Doch gleichzeitig ist der Anruf selbst schon Rede, wie er umgekehrt das Hören noch voraussetzt. Erneut sind wir so mit der jener Anfangslosigkeit konfrontiert, die das Thema der Sprache seit Saussure, Heidegger und Wittgenstein beschäftigt. Wir beginnen nicht völlig unvorbereitet; wir sagen nicht irgend etwas, sondern alles Sprechen geschieht bereits im Rahmen einer „Primordinalität“ von Sprache, ein Umstand, dem der Strukturalismus dadurch Rechnung getragen hat, dass er die Sprache, langue, als Ordnung verstand, die die Performanz der Rede konstituiert, wie gleichermaßen Heidegger davon gesprochen hat, dass nicht „wir“ sprechen, indem wir die Sprache gleich einem instrumentum oder ein zur Verfügung stehendes Medium nutzen; vielmehr ist die Sprache: Sprache. „Die Sprache spricht“. 5 Die Kette von Tautologien entlarvt die Sinnlosigkeit ihrer Objektivierung. Das bedeutet auch: Die Sprache kann nicht länger als der Ort einer dis­kursiven Vernunft fungieren, die sich selbst einholt; vielmehr rückt sie in die Anonymität eines Geschehens, dessen Kreativität weder Begriff noch Bestimmung oder Maßstab zulässt. Demnach gibt es auch keine ausschöpfende Philosophie der Sprache, die sie nicht wesentlich reduzierte – eine Konsequenz, die gleichermaßen Wittgenstein in seinen lediglich noch „exemplifikatorisch“ verfahrenden Philosophischen Untersuchungen dadurch gezogen hat, dass diese nicht mehr „über“ Sprache handelten, sondern nurmehr „Beispiele“ vorführten: partielle Sprachspiele, die als „kritische Vergleichsmodelle“ figurierten, die sich selbst erläutern. 6

Wenn daher der Anruf die Szene der Sprache eröffnet, so selbst schon im Rahmen von Sprache. Das bedeutet auch, dass ich durch die Sprache angerufen werde, ja durch sie bereits angerufen bin, noch bevor irgend etwas gesagt ist. Dabei ist nicht so sehr entscheidend, wie Lévinas gesagt hat, dass die Art der Appellation auf den Anrufenden selbst zurückschlägt, insofern „(d)en Anderen ansprechen heißt, seinen Ausdruck empfangen“. 7 Vielmehr geht es zuerst und zunächst um die Reformulierung einer „Vorstruktur“, die keine hermeneutische ist, die zwar ihren Ort in der Sprache findet, die gleichwohl aber erst die Möglichkeit der Rede determiniert. In diesem Sinne muss der Anruf kein Wort sein; häufig genügt er sich im Laut, in der Interjektion. D.h., ich werde nicht durch einen Satz oder eine bestimmte Aussage angesprochen: Das „He, Sie da!“ bedeutet nichts; es spricht nicht einmal etwas Bestimmtes an, vielmehr ruft es in die Sprache hinein, rückt mich an ihren Platz. Solches Einrücken meint, dass ich, als vermeintlich Angerufener, dadurch allererst einen Ort gewinne. Der Anruf weist mir gleichsam eine Position zu, von dem aus ich zu sprechen vermag. Er ermöglicht meine Rede und damit den Dialog. Nicht notwendig muss ich mich dabei konkret angesprochen fühlen; auch das Schweigen, die Tatsache, gerade nicht angesprochen zu sein, wie Judith Butler bemerkt hat, jene undurchdringliche Stille, die unnachgiebiger sein kann als das Sprechen und eine Spannung des Wartens gebiert, kann mich anrufen und mir eine Stellung zuerteilen, z.B. mir unmöglich machen, überhaupt das Wort zu ergreifen. 8In diesem Sinne lässt sich sagen, dass das Schweigen schon zur Sprache gehört, die Sprache voraussetzt.

Gleichwohl ist eine Unterscheidung angebracht, die den Horizont betrifft, in dem Sprechen geschieht. Der Anruf ermöglicht – oder verunmöglicht – das „Dass“ des Sprechens, die spezifische Präsenz des Dialogs. Das impliziert zugleich, dass solcherart Anrufung zwar der Rede vorangeht, aber nicht selbst schon Sprache im Sinne der Verständigung, der Kommunikation ist, auch wenn sie zu ihr gehört. Selbst wenn sie spräche, wenn sie sich als Ruf artikulierte und nicht nur fordernd schwiege, bliebe sie lediglich Verweis, d.h. im Modus eines Zeigens. Der Ruf berührt mich, er weist auf mich als Angerufenen; aber er spricht nicht zu mir, er spricht mir nicht zu. Und das meint wiederum: Der Anruf – galt er überhaupt mir? – wendet sich in seiner Indirektheit nicht ausdrücklich an mich. Er hat noch nicht die Gestalt einer Beziehung. Er bezeichnet demnach jenes Ereignis, das, wie auch eine gewisse Form von Schweigen, das Nicht-Sagen zerreißt und mich oder irgend jemand anders auffordert zu ant-worten. Das gilt auch dann, wenn ich mich ihm verweigere, wenn ich so tue, als hörte ich nicht hin, oder wenn ich die Situation buchstäblich übergehe: All dies sind nur Modalitäten einer selbst noch antwortenden Negation. Ich bin – vielleicht – angerufen worden: aber ich stelle mich nicht: Dann besteht meine Ant-Wort darin, nicht zu antworten, den Anruf zu ignorieren und weiterzugehen. In diesem Sinne kann die Fortsetzung des Nicht-Sprechens selbst eine Antwort sein, sogar, wie Karl Popper gegen Karl-Otto Apel eingewandt hat, ein „Argument“. D.h. wie immer ich reagiere oder mich äußere, ob ich schweige oder mich entrüstet verwahre, ob ich im Sinne der Rede eine direkte Replik vornehme oder den Anrufenden durch meine Antwortlosigkeit beschäme: Ich habe bereits geantwortet. Wie immer ich mich also verhalte: Der Ruf, sein Appell stellt mich in die Unausweichlichkeit eines Antwortens. Diese Unausweichlichkeit ist nicht Pflicht, sondern sie nennt die Unmöglichkeit, sich entziehen zu können. Der Ruf „ersucht mich“, wie Lévinas es ausgedrückt hat. Und es ist dieses Ersuchen, diese Unausweichlichkeit des Antworten-Müssens, aus der die Performanz der Rede als Beziehung, als Kommunikation schöpft.

M.a.W.: Die Eröffnung des performativen Feldes beruht überhaupt erst auf dem Ereignis der Anrede. Es konstituiert die Sprechsituation gleichwie die beteiligten Subjekte und stellt sie damit von vornherein in die Sekundarität eines Anderen. Im Anruf spricht deswegen die Sprache im Sinne der Alterität an: Wir können uns nicht weigern, den Anruf entgegenzunehmen; er ruft uns in die unvermeidliche Struktur der Responsivität hinein. Auf diese Weise werde ich, wie Lévinas weiter vermerkt hat, „auf den anderen Menschen verwiesen, durch den mir der Anruf bedeutet“. 9 Wohl gemerkt: Nicht notwendig muss man mich dabei konkret angesprochen haben: Angerufen-sein heißt nicht, durch jemand Bestimmtes angesprochen sein, sowenig sich der Anruf an jemanden wendet, um seine spezifische Antwort zu erhalten. Vielmehr ist er bereits ergangen, wenn sich jemand überhaupt angesprochen fühlt. D.h. der Anruf hat nicht eigentlich einen Adressaten: Er geschieht, und sein Geschehen stellt mich in eine Relation zum Anderen, aus der wiederum das Ereignis des Sprechens hervorgeht. Etwas zieht mich in die Sprache, fesselt mich, etwas, was sich zwar im Medium der Sprache ereignet, aber die Performativität des Gesprächs bedingt. Es bedrängt mich mit dem Anspruch des Anderen, flüstert mir zu, schmeichelt sich ein oder fordert mit der gebieterischen Kraft einer Autorität. Man könnte daher sagen, dass das Ereignis des Anrufs das Begehren der Sprache evoziert, gesprochen zu werden: Spur einer Präsenz, eines unwiderruflichen In-Erscheinung-tretens, an dem ich nicht vorbeikomme: Appell, der nötigt und mich zum Sprechen bringt.

Und wiederum erhellt sich seine eigentümliche Macht vielleicht dort am Eindringlichsten, wo gerade nicht gesprochen wird oder wo umgekehrt ein plötzlicher Laut die Stille aufreißt und vergebliche Erwartungen knüpft. Gerade in der Eisigkeit des Nicht-Antwortens, das gewiss oft unvermeidlich ist, liegt die Signatur einer Verletzung, wie sie nur der Sprache zufällt und deren Schmerz zuweilen tiefer reichen kann als offene Gewalt. Es gibt das ausbleibende Wort, das einen verzweifeln lässt, der Schnitt, dessen Wunde die Möglichkeit des Bezugs selbst betrifft und restlos unser Verhältnis zum anderen zu erschüttern vermag, 10 wie auch umgekehrt das inadäquate, das ent-setzliche Wort, das nicht nur Fehl am Platze war, sondern einen Abgrund offenbart. Die Sprache geht deshalb niemals in ihrer Bedeutung, im Verständnis ihres Sinns auf: Sie ist eine Praxis, die gleichsam vom „Gewicht des Anderen“, seiner „Gravitation“ getragen und gehalten wird. Sie ist entsprechend nicht ausschließlich ein Phänomen der Interpretation, keine Textur, in der nur das Gesagte eine Rolle spielt. Aber ebenso wenig bringt sie, wie Austin und Searle oder auch Habermas über die Hermeneutik des Sagens hinaus betont haben, das Soziale im Akt ihres Vollzugs hervor, sondern sie geschieht allererst vom Ort der Alterität her, den wir gleichsam durch sie „erleiden“. Der Terminus des „Erleidens“ betont dabei die besondere Passivität einer Konstitution, eines „Empfangens“, wie sie ähnlich an Bildern erfahrbar ist, die den Blick fokussieren, selbst da, wo sie mir nichts sagen oder restlos ins Unverständliche gleiten. Was dort sich allerdings als ein „Auratisches“ bemerkbar macht, ergeht hier mit dem Nimbus des Appells, der in seiner Dringlichkeit zugleich eine ethische Note beinhaltet. Ich werde durch ihn, wie es wiederum Lévinas formuliert hat, „gestellt“. Das will sagen: Der Andere stellt mich in die Notwendigkeit einer Responsivität, ohne dass schon eine Frage ergangen sein muss. Vielmehr eignet dem Anruf eine genuine Fraglichkeit; er hat mich „in Frage gestellt“ und Angesprochen-sein heißt, einer Frage zu ent-sprechen suchen, die nie gestellt war oder dessen Sinn verdeckt bleibt.

Damit ist in der Performativität der Sprache zugleich die Vorgängigkeit einer Appellation angezeigt, die sie bedingt und deren Horizont weit hinausgreift auf die Möglichkeiten des Ausdrucks und des Handelns. Dass das Ereignis der Anrufung der Rede ihren Raum zuweist, bindet sie auf eine nicht zu verweigernde Weise an das, was mit der „Gravitation der Alterität“ gleichzeitig ihre „Gravität“ bezeichnet, an der das Soziale hängt und die auf das ganze Wortspiel der „Gravitas“ und der „Grazie“ verweist, woran Michel Serres erinnert hat: „Gratia, das heißt so viel wie das Gegebene, es ist dasselbe Wort und dieselbe Sache; es heißt Anmut, Leibreiz. [...] Die Gnade, die Grazie, die den Körper erfüllt, bevor er sich mit dem Wort füllt, gleicht der Schönheit – als dem Unentgeltlichen. Die Gabe ist frei von jeder Verpflichtung [...].“ 11Als solche gemahnt sie an ein Unverfügbares – auf etwas, was nicht verneinbar ist. Die Sprache vom Anruf her entziffern heißt folglich, in ihr die Unverneinbarkeit des Anderen mit dem ganzen Gewicht und der Würde seiner ethischen Konsequenz anerkennen. In gewisser Hinsicht kann man sogar die Gestalten der Souveränität, die das Denken der Neuzeit seit Descartes und früher bevölkert haben, als Verneinung, ja Untergrabung der Anerkennung dieser primären Alterität lesen. Von vornherein wird damit die Dimension des sozialen Bandes problematisch. Es gehört zu den Grundstellungen neuzeitlicher Philosophie, ihrerseits auf diese Gefahr zu antworten und die Figuren des Begehrens und der bedingungslosen Freiheit durch den Ausweis einer bedingenden Norm, durch das Gesetz der Vernunft wie bei Kant zu bändigen. Der Zirkel besteht darin, die Souveränität vorauszusetzen, um aus ihr selbst ihre Grenze zu schöpfen, d.h. sie vermöge ihrer Freiheit in die Pflicht zu nehmen und dadurch von Anfang an den Anderen zu verlieren. Indem allerdings die Sprache und mit ihr das Gesellschaftliche erneut ins Spiel kommt, ein Prozess, deren Beginn man spätestens seit Humboldt und Marx lokalisieren kann, kommt auch das Moment der Notwendigkeit der Alterität neu in den Blick: Die Sprache avanciert zu einer Macht, deren Geschichtlichkeit die subjektive Freiheit und ihre Möglichkeit des „Nein“ übersteigt. Aber die Sprache ist, vielleicht bis Wittgenstein und heute erneut wieder, allein auf das Gesagte, die Struktur der dictio reduziert worden. Folgerecht hat man die fragliche Norm, die die Begrenzung der subjektiven Freiheit besorgt und den Hof praktischer Verpflichtungen de-finiert, in vermeintlichen Geltungsansprüchen der Rede zu finden gesucht: die Verbindlichkeit, die durch die Performativität dessen entsteht, was behauptet oder versprochen worden ist. Doch nicht das, was ich jeweils sagen kann oder gesagt habe, sanktioniert meine Pflicht; es geht an dieser Stelle nicht um das Gesagte, das den Bezug schon voraussetzt, sondern um das, was unendlich viel elementarer ist und durch das hineinspielt, was sich durch den Appell des Anrufs immer schon gezeigt hat: An-Spruch des Anderen, der mich gefangen hält. Nicht ist auf diese Weise eine apriorische Gefangenschaft gegen das Moment der Freiheit pointiert, eine Art „Geiselsein“, wie sie Lévinas mit beinahe alttestamentarischer Strenge ausgemacht hat, sondern jene Fesselung, wie sie gleichermaßen dem Auratischen zukommt und wie in der „Gravitation“ besteht: Gewicht, das mir nicht abzuweisen oder zu ignorieren frei steht.

Das bedeutet als ersten Befund: Vermöge der Struktur des Anrufs ist die Sprache bereits vorgängig vom Ort des Anderen ergangen. Sie birgt den Appell zu ant-worten, selbst da, wo er schweigend geschieht und eine adäquate Antwort nicht gegeben werden kann. Der Appell meint darum keinen Zwang, sondern Ersuchen, das nicht das Gesicht einer Verpflichtung trägt, sondern eines Begehrens, das nach Ver-Antwortung begehrt; Antwort, auf eine nirgends gestellte oder ge-gebene Frage; Fraglichkeit also, die ich nicht verstehen kann oder irgendwo vernommen hätte, die jedoch mit der Fragwürdigkeit meiner Existenz selber zusammenfällt. Das bedeutet zugleich: Mein Sprechen erfährt sich überall schon als ein anderes, d.h. von der Frage des Anderen affiziert und durchdrungen, selbst dort, wo ich kein Gegenüber habe. Und das impliziert, dass mein Sprechen am Ort des Anderen in gewisser Weise von Anfang an entwendet worden ist: Sprechen, das gleichsam nicht nur „ich“ bin, das nicht ich allein ausdrücke oder vertrete, sondern dass ich durch den Anderen entgegennehme, der in mir spricht und an mich appelliert und mich daher stets schon von mir getrennt hat. Das ist gemeint, wenn gesagt wurde, dass sich das Subjekt als Sprechendes durch die dem Appell folgende Antwort konstituiert: Es ist diese Struktur der Responsivität, die allererst den Platz des Sprechers in der Rede bestimmt. Insofern bedeutet Sprechen nicht, wie noch auszuführen ist, die Sprache als den selbstbestimmten Akt einer Performativität ereignen zu lassen, vielmehr ist der Möglichkeit der Performanz die Form des Responsiven bereits immanent. Und das gilt selbst dann, wenn ich scheinbar den ersten Schritt gemacht habe, wenn ich ein Schweigen unterbreche und anhebe zu sprechen oder umgekehrt meine vergebliche Rede auf die Gleichgültigkeit tauber Ohren trifft. Jede Äußerung ist vielmehr bereits in die Struktur der Alterität verortet und trägt das Siegel einer untilgbaren Differenz in sich.

2. Antwort

Der Befund kehrt die Relation von Sprache und Sprecher am Ort der Rede um. Indem das Feld ihrer Performanz durch das Ereignis des Anrufs eröffnet wird, ist etwas der Möglichkeit des Sagens vorausgegangen, was sich ihr ebenso entzieht, wie sie durch es gezeichnet ist. Sprechen heißt darum in erster Linie, einem Appell Folge zu leisten, in dessen Ver-Antwortung es gestellt ist. Der Akt des Sprechens geschieht deshalb wesentlich als ein Antworten. Lévinas nennt diesen Akt „erste Sprache“. „(D)as Sagen bezeichnet die Tatsache, dass ich dem Antlitz gegenüber nicht einfach dabei verbleibe, es zu betrachten, sondern ihm antworte. Das Sagen ist eine Art, den Anderen zu grüßen, aber ihn zu grüßen meint bereits, ihm zu antworten. Es ist schwierig, in Gegenwart von jemandem zu schweigen; diese Schwierigkeit beruht letzten Endes in dieser eigentlichen Bedeutung des Sagens, unabhängig davon, was das Gesagte ist. Man muss über etwas sprechen, über den Regen und über das schöne Wetter, über irgend etwas, aber man muss sprechen, ihm antworten und bereits seinen Erwartungen entsprechen.“ 12

Der Akt der Rede spricht damit stets vom Anderen her. Doch bezeichnet dieses Vom-Anderen-her zunächst nicht mehr als die Schwelle einer Möglichkeit; entscheidend ist das Zusammenspiel von An-ruf und Ant-wort, das mit der Struktur der Responsivität die Spezifik der sprachlichen Beziehung, den Dialog erst entstehen lässt. Anders gesagt: Die Anrufung markiert jene Vorstruktur, die daran erinnert, dass jede actio in erster Linie in einer re-actio wurzelt, mithin in die Ursprungslosigkeit der Sprache hineingenommen ist, die den derart Angerufenen im Sprechen als Antwortenden konstituiert und daher als Sprechenden überhaupt erst hervorbringt. Wie jedoch das Ereignis des Anrufs die Möglichkeit des Sprechens ein-räumt, ist es umgekehrt der Vollzug der Responsivität, der den Bezug setzt und das Gespräch einleitet. Erst im Antworten geschieht das eigentliche Sichwenden an eine andere Person; erst hier beginnt das Ereignis der Rede: Die Einsamkeit erteilt keine Antwort. Doch es hängt wiederum von der Weise des Antwortens ab, welche Form von Beziehung sich herstellt, ob eine bereitwillige, eine konsumtive, eine anerkennende oder demütige etc. Erst, indem wir antworten, kommt die besondere Weise des Bezugs, des Verhältnisses zum Anderen, das Soziale zum Vorschein.

Zu unterscheiden wäre also zwischen dem Anruf, der, obzwar selbst schon Sprache, ihr allererst eine Stätte gibt, und dem Antworten, das den Dialog und damit die Performativität einer Beziehung herstellt. Der Anruf geschieht vor dem Sprechen, aber nicht ohne die Sprache; er er-öffnet dessen Platz. Doch die Antwort, indem sie das Wort ergreift oder verfehlt, indem sie schweigt oder sich abwendet, ist das Ereignis des Bezugs: die Gabe, die das erst Wort schenkt oder verweigert. Nicht verwechselt werden darf sie zudem mit der Erwiderung, die schon die Rede voraussetzt. Die Ant-Wort ergeht nicht auf eine Frage, die sie beantwortet; darum ist die Struktur von Anruf und Antwort eine andere als jene Frage-Antwort-Dialektik, wie sie Gadamer der Philosophischen Hermeneutik zugrundelegte: 13 Sie geht ihr noch voraus. Diese privilegiert noch das Sagen, das gegenseitige „Geben“ und „Nehmen“, denn, so Gadamer, „(w)er verstehen will, muss also fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muss es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist.“ 14 So wird das Antworten allein auf den Sinn einer Frage kapriziert, wie umgekehrt das Verstehen absolut gesetzt wird: Die Frage rührt an ein Rätsel, das kein Enigma ist, sondern Unverständlichkeit, die eine Antwort im Sinne der Erwiderung provoziert. Die „Ursprünglichkeit des Gesprächs“ ergeht nach Gadamer von dort her; 15 demgegenüber erscheint der Anruf als das zunächst Sinn-lose: Fraglichkeit, die im Ganzen trifft und nicht bedeutet, weil sie darin besteht, durch den Anderen in Frage gestellt zu sein, ohne dass es etwas zu verstehen gäbe. Entsprechend entspringt auch nicht die Antwort einer vorläufigen Deutung, die das Unverständliche auszuräumen trachtet, vielmehr jener abgründigen Leere, die dem Ruf folgt: Augenblick, der Verwirrung stiftet, der eine Ratlosigkeit aufbrechen lässt und die Schwierigkeit deutlich macht, wie zu antworten sei: Winzige Unterbrechung, an der die ganze Möglichkeit oder Vereitlung des Bezugs hängt, der der Respons erteilt.

Alles fängt dann mit dem Akt einer Responsivität an, was gleichermaßen bedeutet: Die Rede unter-liegt (sub-icere) der Alterität. „Man muss mit dem Antworten beginnen. So wäre der Anfang kein erstes Wort. Der Ruf ruft sich erst von der Antwort aus“, heißt es entsprechend bei Derrida. 16 Was sich daher sagen lässt, folgt ihrem Modus, reagiert schon auf ein anderes Sprechen, schließt sich ihm an, führt es fort oder lenkt es in eine andere Richtung. Jedes Wort wird auf eine mehr oder weniger explizite Weise vom Schatten des Anderen bewohnt, nimmt seine Spur auf, gewinnt an ihm seine unverwechselbare Färbung. Das gilt bis in die Wahl der Formulierungen hinein, dem Ausdruck der Stimme, sogar für die schillernden Masken des Schweigens, der Aussetzung der Rede. Der Andere, dessen Anwesenheit auf vielgestaltige Weise mit jeder Äußerung bezeugt ist, zeigt sich in der Rede, entwendet sie vom Ort ihrer vermeintlichen Intentionalität, ver-setzt sie an einen fremden Platz. Das Sagbare erscheint so immer schon in die Struktur der Alterität verwickelt, selbst da, wo ich mich weder direkt an einen anderen wende noch überhaupt mit jemandem rede. D.h. auch: wo das Sprechen anhebt, wo es schon angefangen hat, sich zu beziehen, ist seine Bezugsform nicht die Intention, die etwas zum Ausdruck bringen will, sondern die Responsivität. Nicht der Sprecher ist das Subjekt seiner Rede, sondern die Struktur der Alterität. Der Andere geht vor: Das Subjekt ist das sub-iectum, das, was ihm subordiniert ist.

Die Privilegierung der Struktur von Anrufung und Antwort impliziert demnach, dass etwas dem sprechenden Subjekt unwiderruflich vorausgeht: Der Anruf nötigt es, in die Sprache einzutreten und antwortend Stellung zu beziehen. Die Konsequenz ist, dass im Ereignis des Antwortens die Rede der Form ihrer Souveränität beraubt ist. Es bedingt einen Umsturz in der Struktur des Intentionalen, ihre Umwendung, die den am Dialog beteiligten Subjekten ihre Handlungsmacht entzieht. Nichts anderes bedeutet die Betonung der Responsivität. Sie impliziert, das Sprechen vom Ort des Anderen her zu dechiffrieren und den Sprechenden an seinen Platz zu ver-setzen (trans-ponare). Zu wenig wäre es deshalb, wie bei Lacan, jede Rede in bezug auf einen imaginären oder hypothetischen Adressaten hin zu lokalisieren, dessen Antwort sie begeht, was sie gleichwohl an die Position der Souveränität fixiert, um sie im Hinblick auf die Position des Anderen als Bezugspunkt zu erweitern. 17 Statt dessen wäre noch diese Struktur des Begehrens umzukehren und sie als Geschehen denken, das sich vom Anderen her ereignet, was Lacan zwar selbst angedeutet hat, nicht aber durchgeführt, weil es ihm allein um die Metonymien jenes Phantasmas ging, die sich im Begehren des Anderen (genetivus subjectivus und objectivus) entzündet. Nicht die Logik der Affektion und ihre phantasmatischen Symbolisierung ist entscheidend, sondern jene „Gravitation“, die die Ordnung der Subjektivität ebenso ent-grenzt und umstürzt, wie sie diese umgekehrt in den Sog des Anderen zwingt. Es wäre aber gleichermaßen auch zu schwach, den Begriff der Alterität im Sinne von Habermas oder Apel durch den der „Intersubjektivität“ zu ersetzen, weil dies die Wechselseitigkeit der Rede, ihren gleichberechtigten Austausch noch betonte und dem jeweils Sprechenden dieselbe Macht und denselben Status zubilligte, wie dem Anderen, der der Rede erst ihren Platz zuteilt. Ja, die Sprechenden gehen bei Habermas überall vor: Die „Inter-Subjektivität“ geschieht zwischen ihnen, die gleichermaßen eher als Redende denn als Hörende agieren um im gegenseitigen Agon ihre Stellung im Gespräch zu erobern: Sie begegnen einander mit Behauptungen oder Überzeugungen, die sie jeweils mit Gründen zu verteidigen oder zu bekräftigen suchen. Dann erscheint die Logik des Diskurses als Streit.

Sowenig deshalb die Rede dadurch bestimmt ist, dass ich anhebe zu sprechen oder etwas Bestimmtes sagen will, sowenig führen die Sprechenden den Dialog, vielmehr werden sie durch die Struktur der Responsivität geführt, um einen weiteren grundlegenden Topos der Philosophischen Hermeneutik Gadamers aufzunehmen: Es gehört zu den hartnäckigsten Illusionen der freien Selbstbestimmung zu glauben, ein Gespräch „machen“ oder beherrschen zu können. „(J)e eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, dass wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, dass wir uns in ein Gespräch verwickeln. (...) Die Verständigung oder ihr Mißlingen ist wie ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat.“ 18 Der Gedanke der Responsivität radikalisiert diese Erfahrung: Ich bin nicht die Quelle des Gesprächs, sowenig wie ich vollständig im Besitz meines Gesprochenen sein kann oder über das Gesagte verfüge. D.h. auch: Ich bin nicht im Besitz der Performanz, dem Vollzug eines Sprechaktes; dieser wäre weniger Handlung als re-actio. Dasselbe gilt umgekehrt: Statt ein Gespräch abschließen zu können, weckt es zuweilen einen Nachhall, der es weit über das Gesprochene hinaus fortführt, so dass gleichsam der Andere mit seiner Stimme, der Präsenz seiner Rede in uns weiterspricht und uns beschäftigt, ohne anwesend zu sein. Besessen von Alterität, hat Lévinas dazu gesagt: 19 Besessen auch von einer „Gravitation“, einer Schwerkraft, der eine besondere Gravitas, eine Gravität oder Würde zukommt, wie man ergänzen könnte. 20

So liegt in der Entdeckung der Spur der Alterität die Zurückweisung oder zumindest Durchkreuzung des Intentionalen in der Sprache – und sei sie verschanzt in die äußerste Bastion der Performativität der Rede, die sie noch im Sprachakt einbehält: Souveränität einer Handlung, der es „frei“ steht anzufangen, die sich mithin die Freiheit erlaubt, so oder so beginnen oder auch nur den Beginn verweigern zu können. Eine solche Theorie von Subjektivität, von Meinen-können oder auch Handeln-können, gibt nicht den geringsten Aufschluss über die Tragweite der Sprache im Prozess des Sozialen. Denn es gibt keine Entscheidung zu sprechen, der nicht wesentlich und eindringlich ein An-sprechen vorausginge, sowenig wie ich die Freiheit besitze, in die Sprache einzutreten, ihr mein Wort zu verleihen oder die Kontur meiner unverwechselbaren Subjektivität aufprägen. Vielmehr verdankt sich die Möglichkeit der Rede dem Spiel von An-Ruf und Ant-Wort. Dann konstituiert sich das Subjekt als Sprechendes allererst durch die Struktur der Responsivität. So bedarf der Begriff des Intentionalen einer Umkehrung: Nicht die Freiheit oder die Souveränität kennzeichnet seinen Ort, sondern eine Art intentionsloses Gehören, das Heidegger mit dem „Gehorsam“ in Verbindung gebracht hat ­ – nicht um die Autorität der Tradition, der Geschichte zu unterstreichen, die es zweifelsohne in einem bestimmten Sinne gibt, ohne damit schon deren Re-Volution oder das Utopische auszuschließen, sondern vor allem um das Horchen hervorzuheben: das Hören, das schon beim Anderen ist und ihn aufgenommen hat. 21

„Ich sage“ – „ich behaupte“: das meint dann vor allem: Ich antworte auf diese oder jene Weise, ich suche dem Vor-Gesagten solcherart zu ent-sprechen. D.h. in der Sprache als Antworten ist der Andere immer schon primär; er hat bereits in der Performanz meiner Rede vor-gesprochen: Sich behauptet. Folglich bezeugt die Performativität des „Behauptens“ keinen praktischen Modus, der sich dem Gesagten gleich einer Norm auferlegt und ihm einen Geltungsanspruch zuwiese. „In-Geltung-sein“ unterliegt dem Format des Antwortens – und das bedeutet gleichzeitig die Rücknahme, die Einklammerung oder epoché jeder Geltung. Gültigkeit besteht relativ zur Frage, d.h. immer auch: relativ zum Anderen, der mich bereits in Frage gestellt hat. Das erfordert natürlich, den Begriff der Frage so weit zu fassen, dass er an die Fraglichkeit des „dass“ (quod) rührt: Fraglichkeit, die dem Ereignis der Rede selbst entspringt, der Frage, wieso überhaupt etwas gesagt wurde und nicht vielmehr nichts. Das Antworten, dass den Anruf des Anderen als Grund nennt, hat sie schon in seine Ver-Antwortung gestellt. M.a.W.: Geltung ist nicht so sehr eine Funktion des Begründens, als vielmehr solcher Verantwortlichkeit.

Deswegen hat Lévinas hinzugefügt, dass die Verantwortung früher ist als der Dialog. 22 Sie geht ihm voraus, weil sie ihn konstituiert. Sobald wir sprechen, und sei es nur die banalste oder allereinfachste Bemerkung, stehen wir bereits mit uns und unserem Verhältnis zum Anderen in Frage. Mit jedem Satz, jeder Äußerung sind wir in diese Fraglichkeit ausgesetzt. Sie impliziert die buchstäbliche Aussetzung an die Grenze der Alterität. Sie bezeichnet zugleich die Grenze der Subjektivität, jene De-Markation, an der sie in die Struktur der Responsivität umschlägt. Doch offenbart sie dadurch das Prekäre der Rede. Denn sowenig der Andere wissen kann, was ich gemeint haben mag, d.h. worauf meine Antwort eine Antwort war, sowenig kann ich wissen, wie meine Äußerung verstanden worden sind, d.h. was meine Antwort beantwortet. Nicht geht es dabei um den Maßstab eines eigentlichen Verstehens, sondern um die Permanenz eines Risses, durch den das Gesagte unablässig von sich getrennt wird und seinen Sinn zerteilt. Indem nämlich das Antworten stets im Modus eines Antwortens auf eine Antwort geschieht, weil in gewisser Weise schon der Anruf, aufgrund der Anfangslosigkeit der Sprache, einer Ant-Wort entspringt, vor allem aber, weil im Dialog unentscheidbar bleibt, worauf eine Äußerung sich bezieht, bleibt ihre Bedeutung systematisch ins Unbestimmte entzogen. Sie erweist sich, im Moment ihres Sagens, am Ort des Anderen entwendet. Er enteignet mir das Gesagte – ent-eignet es, insofern ich nicht mehr der Eigner meiner Rede bin, d.h. ihren Sinn durch meine Intentionalität kontrolliere. Vielmehr geschieht Sinn allererst durch das, wie der Andere meine Äußerung aufnimmt und seinerseits antwortend umwendet. In diesem Sinne hatte auch Sartre immer wieder die leidvolle Erfahrung geschildert, dass mir der Andere meine Sprache „stiehlt“. 23 Etwas bleibt im Sprechen unwiderruflich fremd. Es verdeutlicht zugleich, dass die Performanz der Rede ohne die Alterität nicht hinreichend zu beschreiben ist.

Darin liegt ebenfalls, dass die Struktur des Responsiven dem geäußerten Satz einen Überschuss verleiht, der nirgends einzuhegen oder zu beschränken wäre. Nicht selten gibt die Antwort des Anderen der Rede eine überraschende Wendung, die auf den Sprecher zurückweist und die Bedeutung seines Gesagten ent-setzt (trans-ponare). Weil darum sprechen heißt, vom Anderen her gesprochen sein, enthält die Rede stets mehr, als gesagt worden ist und entsprechend verstanden werden kann. Es beinhaltet eben nur eine Seite, wenn gesagt worden ist: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ 24 – ein Satz, der diese in den Rang eines „universellen Mediums“ hebt, „in dem sich das Verstehen selber vollzieht“. 25 Aber eben weil die Sprache zugleich der Gravitation der Altertität gehorcht, „gibt“ sie die Möglichkeit des Verstehens ebenso, wie sie es vereitelt, weil Sprechen auch bedeutet, im Antworten woanders zu sein als man sein kann. So wäre die Kommunikation gleichermaßen der Ort eines Austrags und der Gefährdung des Verstehens, insofern das Gewicht des Anderen ununterbrochen seine Bahn umlenkt und verbiegt. Losgelöst vom Sender wie vom Empfänger, wie Derrida mit bezug auf die Schrift gesagt hat, 26 wird der Sinn nicht durch den Kontext der Dialogsituation de-finiert und festgelegt, sondern durch das gleichsam schwebende Spiel seiner Kontinuierung und Brüchigkeit dauernd umbesetzt und verschoben.

D.h. auch: das Ereignis der Rede erscheint im Augenblick seines Sagens seinem Grunde ent-fremdet und erfährt, indem ein Wort das andere gibt, eine Eigendynamik, die in niemandes Macht oder Schuld steht und womit keiner gerechnet hat. Daher ist auch kein Gespräch errechenbar: Man betritt vielmehr ein Universum, das sich sowenig der Strategie, der taktischen Verfügung beugt, wie es sich umgekehrt in ein deutbares Schema pressen lässt. Statt dessen gewahre ich den Blick des Anderen, ich antworte ihm mit einer Geste der Annäherung, des Mitleids oder einer Abweisung; aber seine irritierende Reaktion hat mich unmittelbar meiner Absichten beraubt und in ihre wie immer gemeinte Zuwendung eine andere Spur eingetragen, die ihre Quelle bereits überschrieben hat und der ich meinerseits nur antwortend folgen kann, ohne Hoffnung auf eine Ankunft oder Chance, das Gesagte und Geantwortete jemals zur Deckung zu bringen. Es gibt deshalb keine Finalität im Antworten; sie sucht keine Erfüllung, kein gemeinsames Verstehen oder Ein-Verständnis, 27 auch keine „Horizontverschmelzung“, 28 sondern sie schöpft aus der Zuwendung, die als Gabe zugleich Hin-Gabe bedeutet. D.h. zugleich: Das Ereignis der Zuwendung, welches Lévinas mit der Idee der Un-Endlichkeit als der Idee der Ent-Grenzung assoziiert, entspricht nicht der Ordnung des Intentionalen; es ist nicht der Art und Weise eines Wollens geschuldet, so wie man beiläufig sagen könnte, dass immer eine Antwort möglich ist; vielmehr unter-stellt sie sich dem, was ihr vorausgegangen ist. Zwar bleibt ihr als Sich-reichen-an die Struktur der Intentionalität immanent, doch so, dass diese nicht konstitutiv erscheint: Anderes ist ihr bereits zuvorgekommen. Gewiss ist nichts anderes möglich als der Respons; aber es gibt keine adäquate Responsivität, wir können dem anderen nicht genügen, ihm nirgends ent-sprechen. Verstrickt in die Struktur des Antwortens, bleiben wir vielmehr systematisch dem Horizont unseres Sagens und damit auch dem Horizont von Identität ent-rissen. Sinn ist das, was ohne Ortschaft ist, was buchstäblich „Dazwischen“ geschieht.

Das hat, als zweiten Befund, Konsequenzen für die Beziehung zwischen Bedeutung und Performativität – und entsprechend zwischen Interpretation und Vollzug. Denn die Performanz der Sprache wäre als Antworten eines Antwortens zu analysieren, das in gewisser Weise die Selbsttäuschung über den Status der eigenen Rede und damit die Verkennung des eigenen Sinns einschließt. Zwar gilt die von Roderick Chisholm bis Donald Davidson in Anschlag gebrachte Autorität der Ersten Person insoweit, als dass ich der einzige bin, der in reflexiver Einstellung über das Gemeinte Auskunft geben kann, und selbst die Psychoanalyse, die von der äußersten Verzerrung der Rede ausgeht, gibt deren Deutung dem Sprecher selbst auf, der sie „als“ Verzerrung anerkennen muss; doch bleibt das, was immer ich dabei vortrage, in bezug auf meine Antwort und die in ihr manifeste Alterität irrelevant – ebenso wie die Auskunft des Neurotikers über die tieferliegenden Ursachen seiner haltlosen Obsessionen nicht im mindestens etwas dazu beiträgt, ihre Rolle im Sozialen aufzuklären. Nicht, was ich intendiert haben könnte, oder was mir mein Unbewusstes willenlos diktierte entscheidet, sondern die Bedeutungen, die ant-wortend vereignet wurden und mich in ein Geschehen stellen, das mir beständig wieder nachschleicht und mich am Ort des Anderen verfolgt, um die an ihm gebrochene oder zurückgespiegelte Antwort erneut zu ver-antworten. Dann rückt der Primat des Responsiven die Performanz der Sprache in die Struktur einer nichtintendierbaren und nichtzweckhaften Perlokutionarität. Sie verleiht dem Sinn eine Fremdheit, eine nicht auszuräumende Trübung.

3. Antwort der Antwort

Erweitert man auf diese Weise die Struktur der Responsivität um die Sequenzierung der Beantwortung eines Antwortens, wie sie dem Prozess der Verständigung zugrunde liegt, gerät ebenfalls das Konzept der performativen Kraft (illocutionary force) außer Kraft. Insbesondere büßt der Begriff der Performativität, wie ihn Austin und Searle entwickelt haben, seine Plausibilität ein, desgleichen die Herleitung kommunikativer Rationalität, wie sie im Anschluss daran Habermas und Apel vorlegten. Indem nämlich die Rede sich als Antwort einer Antwort kontinuiert, nistet der Andere gleichermaßen am Platz der Intentionalität nicht nur dessen, was ich „sagen“ kann, sondern auch meiner Handlungen. Solange ein Satz isoliert und im Format des Textes erscheint, der sich auf etwas bezieht, bleibt er auf die dictio, dem, was er besagt, verpflichtet; hingegen reflektiert der Begriff der Performanz auf seine kommunikative Rolle, der das Gesagte im Kontext seines Gebrauchs modifiziert: Darauf hat, neben Wittgenstein, bereits Husserl aufmerksam gemacht. Indessen wird die Kategorie des Gebrauchs an Absichten und Regeln geknüpft, die den Akt austragen, so dass sein Vollzug ein Netz von Freiheiten und Konventionalitäten unterstellt, das nirgends die Stelle der Alterität berücksichtigt. Im Gegenteil: Die theoretische Perspektive privilegiert allein den Sprecher, dem bestenfalls die Eigenschaft, auch ein Hörer zu sein, angehängt wird. Entsprechend gibt es nach Habermas nicht die Sprache, es gibt nur die Kommunikation, die Verständigungspraxis, die allein auf Sprechakten, sogar auf gegenseitigen Sprechaktangeboten beruht, der Struktur allein aus der Reziprozität der Sprecher-Hörer-Perspektiven rekonstruiert werden. Sprechen geschieht dann wechselweise: als Rede und Gegenrede, in der Äußerung auf Äußerung folgt, ohne dass zwischen ihnen die geringste Beeinflussung bestünde, im Vollbesitz der Verfügung dessen, was sie zu sein vorgeben: Behauptungen, Bitten, Versprechen und dergleichen. D.h.: Ich weiß, was ich tue, selbst da, wo ich mich der Sprache unwillkürlich bediene und im Sinne der Differenz zwischen knowing that und knowing how mein Wissen nicht eigens zu explizieren vermag.

Doch holt der Andere, die Struktur der Responsivität, die Pragmatik der Rede selbst ein. Man hat deshalb dem Anderen in der Sprache zuwenig Beachtung geschenkt; man hat ihn auf den Hörer, den Adressaten, den Angesprochenen reduziert. Hingegen wird, liest man die Sprache aus der Antwortstruktur, der Andere zum Akteur meiner Rede. Dies reicht bis in den Vollzug eines einfachen Sprechaktes hinein. Dessen Performanz erscheint vom Respons durchdrungen. Er prägt sich der Form der Performativität auf und eskamotiert sie vom Ort meiner Verfügung. Die aufgewiesene Gravitation der Alterität wird so zur Chiffre eines Verlusts an Intentionalität. Sie wäre noch an den Akten der Rede, der Struktur des Dialogs selber zu entziffern. Der Hinweis findet sich gleichermaßen bereits bei Humboldt: Die Äußerung, die in der Singularität ihrer Erscheinung Präsenz gewinnt und im Moment ihres Aktes schon wieder verlöscht ist, gewinnt seine Dauer, seine eigentliche Bedeutung erst mit dem Anderen. Seine Antwort verleiht ihr Verknüpfung; deswegen, heißt es, kann die Sprache „nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einem gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden. Das Wort muss also Wesenheit (...) in einem Hörenden und Erwidernden gewinnen.“ 29

Demgegenüber hatte Austin, von Wittgenstein her, ihren Vollzug allein an performative Verben gebunden, die sprachliche Prozesse indizieren, so dass der praktische Modus einer Äußerung, wie Habermas ausgeführt hat, jederzeit rekonstruierbar wird durch die erweiterte Fassung: „Ich meine, rufe aus, bestreite oder stelle fest, dass ...“. Sie unterstellt, dass ich weiß, was ich tue, wenn ich rede. Freilich ergibt sich damit ein schiefes Bild, das der Schieflage des Begriffs der Verantwortlichkeit korrespondiert, indem es unterstellt, dass ich zugleich für mein Handeln einstehe und gleichsam die Bürde seiner lastenden Folgen tragen kann. Der Voraussetzung haftet eine bestimmte Vorstellung der Relation zwischen Ich und Anderem an, die beide rigoros trennt, um sie als autonome und selbstbewusste Subjekte zu kreieren, die nichts anderes können, als sich solipzistisch aufeinander zu zu bewegen und aneinander zu messen oder im Zufall gemeinsamer Interessen zu begegnen. Denn nach Habermas adressiere ich meine Äußerung an einen Zuhörer und gehe erst dadurch eine sprachliche Beziehung ein. Ich richte also mein Wort an den Anderen, der zuhören oder auch ausweichen kann; ich habe dann die Freiheit, dieses oder jenes auszusagen, wie der Andere die Freiheit hat, so oder so auf mich zu reagieren, ohne dass zwischen mir und ihm ein Band bestünde, das uns sein Gewicht im Sinne einer bindenden Kraft auferlegte, die weder er noch ich abschütteln können. Indem freilich die freie Selbstbestimmung dominiert, bleiben jene Figuren der „Egologie“ erhalten, die Lévinas als Grundlage des europäischen Denkens überhaupt zu entlarven versucht hat. Demnach scheint noch in der Sprache die Position der Subjektivität ausgezeichnet, die doch durch das Paradigma der Kommunikation gerade getilgt werden soll.

Insofern jedoch demgegenüber in jeder Äußerung, kraft ihres Charakters als Antwort einer Antwort der Andere seine Präsenz bezeugt und bereits mitspricht, ergibt sich eine Verwicklung, die den Primat des Subjekts durchstreicht. Insbesondere wird dadurch unmöglich, im performativen Satz zwischen mir und dem Anderen zu unterscheiden. Vielmehr gewinnt, was ich die „nichtintentionale Perlokutionarität“ genannt habe, die Gestalt eines genuinen double bind. Es kennzeichnet eine spezifische Form von performativer Doppelbesetzung. Sie erweist sich als unvermeidlich, weil erst die Re-Aktion deutlich macht, was eine Äußerung war und wie sie zu verstehen ist. Ihre Deutung tritt dann nicht von der ausgezeichneten Position der Intentionalität in Szene, um von ihr her die Logik der Konversation zu entschlüsseln, sondern ereignet sich im Prozess des Antwortens als charakteristische Rückständigkeit. Das bedeutet auch, dass in einem bestimmten Sinne das Miss-Verständnis, die Differenz unvermeidlich ist, weil der Andere, insofern er stets mitspricht, im Gesagten sich als Spur seiner Entwendung einschreibt. Folglich besteht die Doppelbesetzung nicht in der Duplizität eines Sagen-wollens, das in sich schon die Zweiheit des Bedeutens und Handelns birgt, die beide an Formen des Intentionalen gebunden sind, so dass Habermas von einer „performativ-propositionalen Doppelstruktur der Rede“ sprechen kann; vielmehr haftet die Gravitation der Alterität wie ein Schatten an der Sprache, der gleichermaßen ihren Sinn wie ihre Performanz beugt. Anders gesagt: Wir verfügen nicht über die performativen Rolle unserer Rede. Weder kann ich wissen, was ich gemeint habe, noch, was ich jeweils gesagt oder sprechend getan habe. Der Sprache inhäriert die Tragödie des Sagens.

Was bedeutet z.B. die scheinbar zärtliche Geste: „Ich liebe dich inniglich“? Gewiss handelt es sich um das Zitat eines Zitats, mit dem Umberto Eco die inszenierte Nichtauthetizität eines postmodernen Lebensstils zu dekuvrieren trachtete. 30 Habermas würde nicht zögern, die Äußerung unter die „expressiven Sprechakte“ zu rubrizieren. Als solcher erhebt sie den Anspruch auf Lauterkeit. Wir unterstellen ihre Authentizität, selbst wenn ich, wie bei Eco, vorausschicke: „Wie jetzt Liala sagen würde ...“, um ihre Zitathaftigkeit deutlich zu machen. Was aber konstituiert seinen praktischen Modus? Handelt es sich dennoch um einen aufrichtigen Gefühlsausdruck, ein Geständnis in der Maske der uneigentlichen Rede – oder gar um eine Beleidigung, ein Übergriff? Als Zitat beschränkte sich die Äußerung auf jene Ironie, mehr sagt als sie buchstäblich zum Ausdruck gibt, weil sie nicht länger das zu sagen wagt, was sie zu sagen wünscht, und der eben gerade dadurch, wie Eco ausgeführt hat, noch einmal gelingt, eine Liebeserklärung auszusprechen. Das Ironische aber lässt systematisch im Dunkeln, wie es gemeint ist; es changiert zwischen Ernst und Nicht-Ernst. Indessen sind die Schwierigkeiten der Sprechakttheorie im Umgang mit Ironien bekannt, eben weil diese die Kraft der Illokutionarität durchkreuzen. Wie aber, wenn die Ironie an der Antwort des Anderen scheitert? Zwar kann die Äußerung, selbst wenn ich glaube, mit distanzierter Aufrichtigkeit meinen Gefühlen Ausdruck verliehen zu haben, um auf die Situation eines gelegentlichen Augenaufschlags zu antworten, der mir das Phantasma seiner Berechtigung einflößte, den Beginn einer Beziehung darstellen, gleichermaßen aber auch ihren Abbruch. Harmlos bin ich ein Wagnis eingegangen, aber unversehens ist mein Satz in eine Zudringlichkeit umgeschlagen, die, wie in Sartres Analysen der „Unwahrhaftigkeit“, 31 gar keine Reaktion zur Folge hatte, um sich aus der Affäre zu stehlen. Weder erfolgte dann Zustimmung noch Zurechtweisung; er ist einfach übergangen worden, als habe man ihn nicht zur Kenntnis genommen oder als sei er nie ausgesprochen worden. Hat man mich nicht gehört? Habe ich überhaupt etwas gesagt? Üblicherweise zerfrisst der Zweifel nicht nur den Sinn der Äußerung, sondern auch die vermeintliche Deutung des Kontextes und die Sicherheit der Performanz. Die Antwort auf meine Antwort konstituiert sie als Grenzüberschreitung, als Nichtigkeit oder Leere eines Nichtgesagten, die die Äußerung – war sie am Ende nur eine Einbildung? – in der Hitze meiner obskuren Leidenschaft buchstäblich ent-eignete und sie ihres performativen Sinns beraubte.

Selbst die Nachfrage würde keine Klärung bieten: Sie würde womöglich die exzentrische Situation ins Explosive verschärfen, weil meine Erklärungen wie Rechtfertigungen ein Gespräch fortschrieben, das zu seiner Beendigung tendiert und damit seinerseits ignorierte, was in seiner Uneigentlichkeit deutlich schien. Das Beispiel erhellt, dass der Sprechakt seine Bedeutung gleichwie seine Performanz immer aus einer Verspätung bezieht. Es ist die Antwort, die gleichermaßen seinen propositionalen Gehalt wie seinen praktischen Modus induziert. Nicht ich erteile ihn vermöge meiner intentionalen Handlung, sondern der Andere kraft seiner Reaktion. Die „performative force“, von der Austin wie Searle ausgegangen waren, variiert dann zur Gewalt einer Alterität. Sie besteht als Effekt eines Respons. Darum ist in der Rede die „Perlokutionarität“ auszuzeichnen: die Differenz zwischen Gesagtem und Bewirktem, statt der Illokutionarität, der Identität von Inhalt und Vollzug. 32

Entsprechend wäre der performative Status einer Äußerung nicht mehr allein rückführbar auf die zugrundeliegenden Verben: Bereits Austin hatte solches im Falle der Perlokutionen ausgeschlossen. Vielmehr deutet sich eine Komplexität an, die der Sprache eine Dramatik auferlegt, die das Subjekt der Rede mit einer nicht aufzulösenden Unentscheidbarkeit bekleidet. Jede sprachliche Situation erweist sich als ein „kleines Drama“, die keiner Ordnung von Motiven oder Gründen unterliegt, sondern, wie Roland Barthes das Wort „Diskurs“ aufgelöst hat, sich gleichsam ir-rational fortspinnt: „Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Herlaufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ‘Schritte’, ‘Verwicklungen’.“ 33 Jenseits der Pragmatik der Performanz ergibt sich eine Theatralik des Sprechens, die die Struktur der Zeit mit einwebt und der Rede die Duplizität eines Sagens und Zeigens aufbürdet, die nicht allein auf die Bedingungen des Handelns reduzierbar ist, sondern ein Gewebe aus Differenzen erzeugt, dem etwas Unentwirrbares anhaftet. Dies gilt vor allem wegen der Unkenntlichkeit des Anderen im Satz, seiner stillen, aber hartnäckigen Anwesenheit, die mitspricht, jedoch sich nicht explizit offenbart. Die Analyse der Rede erfordert deswegen ihre Entfaltung in dialogischen Sequenzen, die nicht auf die Formel der „Anschlussfähigkeit“ (Luhmann) oder das agonale Theater von Rede und Gegenrede zurückgebracht werden kann: Der Sprechakt bildet keine monolithische Figur; er ist nicht isolierbar und unabhängig von seiner Vor-Rede und Nach-Rede zu untersuchen; er findet seinen Platz erst inmitten einer Folge von Reaktionen, die ihn zugleich szenisch situiert. Gewiss hat dem Habermas dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass er in Was heißt Univer­salpragmatik? die spezifisch illokutionäre Bindungskraft von Sprechakten an komplette „Sprechhandlungssequenzen“ koppeln wollte, 34 doch büßte er die Einsicht gerade in dem Maße wieder ein, als er diese wiederum als „rational motiviert“ auswies. „Dank der Geltungsbasis der auf Verständigung angelegten Kommunikation kann also ein Sprecher, indem er für die Einlösung eines kritisierbaren Geltungsanspruch die Gewähr übernimmt, einen Hörer zur Annahme eines Sprechaktangebots bewegen und damit für die Fortsetzung einen anschlusssichernden Verkopplungseffekt erzielen.“ 35 An der vernünftigen Übernahme der Gewähr, für das Gesagte auch einzustehen und es begründen zu wollen, d.h. der Verbindlichkeit im Sprechen, wie sie durch die Einlösung der Geltungsansprüche gegeben ist, hängt demnach das ganze Gewicht des Sozialen, hängt die Fortsetzung des Gesprächs, die Rationalität von Verständigungen: „[I]m kommunikativen Handeln [wird] einer vom anderen zu einer Anschlusshandlung rational motiviert, und dies kraft des illokutiven Bindungseffekts eines Sprechaktsangebotes.“ 36

M.a.W: Habermas interpretiert die illokutionäre Kraft als soziale Verantwortung im Sprechen. Sie wird von vornherein normativ sanktioniert. In eine Dialogsituation eintreten heißt, ein rationales Feld betreten, dessen Abweichungen unweigerlich Asozialitäten erzeugen. Doch setzt dies eben überall die Privilegierung des Sprechers im performativen Satz und die Auszeichnung der Perspektive der 1. Person voraus: Jederzeit halte ich mein Wort in den Händen, offeriere dem Hörer eine Bitte, ein Versprechen oder eine Meinung, wohl wissend, dass ich damit die Verpflichtung eingehe, ihre Wahrheit oder Richtigkeit zu übernehmen – ungetrübt aller Entwendungen, die es immer schon dadurch erlitten hat, dass ihm antwortend eine Alterität eingeschrieben war, über die ich nicht verfüge. Das bedeutet: Eine Unverfügbarkeit verstellt mir den Zugang zur Rationalität des Gesprächs, eine Unverfügbarkeit, die zugleich einen zeitlichen Riss markiert, der die vermeintliche Autorität der 1. Person entautorisiert und den Sprecher als Subjekt aus seinem Zentrum de-zentriert.

Die Konsequenz ist, dass auch die Geltungsbasis der Rede ihre Basis verliert. Denn zweifelhaft wird schon die Rekonstruierbarkeit der Performanz, den Austin durch den Übergang von „primär performativen Äußerungen“ wie „Ich werde da sein“ zu „explizit performativen Äußerungen“ wie „Ich verspreche hiermit, dass ich da sein werde“ angedeutet hat. 37 An seiner Möglichkeit hängt das ganze Pathos der Geltungsanalyse. Doch birgt die Logik der Explikation gleichzeitig deren Variation. Beide Sätze sagen anderes, nicht nur, wie Austin selbst bemerkt hat, insofern jede Modifizierung einer Äußerung auch ihre Bedeutung modifiziert, 38 sondern vor allem, weil zwischen ihnen die Lücke einer chronischen Distanz klafft. Sie trägt in sie die zeitliche Kluft eines Unter-Schieds ein, der auf die Performativität der Äußerung selbst zurückschlägt. 39 Sie wird da virulent, wo die Rückfrage aus einer belanglosen Unvorsichtigkeit allererst ein Versprechen macht, auf das ich verpflichtet werde – wie umgekehrt das Versprechen zur Tollkühnheit wird, wo es mit Gelächter oder Unglauben quittiert wird. Dann impliziert die Antwortstruktur, in die sie eingebettet ist, eine temporale Transformation. Sie affiziert die rekonstruktive Analyse mit einem nicht zu tilgenden Riss, die die Performanz der Rede im Modus von Verspätung verfasst. Erst aufgrund des Umwegs über die Antwort oder die Nachfrage des Anderen erzeugt sich eine Äußerung „als“ dieser oder jener Sprechakt, der ihr die Eindeutigkeit einer performativen Zuschreibung zuspricht. So wird aus ihr vermöge der in die Struktur der Responsivität eingelassene Perfektstruktur eine Behauptung, Bitte, Drohung oder ähnliches. Ihre Nachträglichkeit er-findet sie sekundär als diese. Entsprechend wäre die Struktur der Performativität, in dem Maße, wie sie von der Struktur der Alterität heimgesucht ist, zugleich immer schon durch die Struktur der Nachträglichkeit verstellt.

Der Geltungsanalyse von Habermas inhäriert also insbesondere ein Vergessen von Zeitlichkeit. Denn der Übergang vom Präsens zum Perfekt macht aus dem Sagen ein Gesagtes. Systematisch verpasst die Rekonstruktion dessen Geltungsbedingungen; vielmehr entrückt sie die Gegenwärtigkeit des Aktes in ein bereits Gewesenes und vereitelt damit die Evidenz der Reflexion, auf die sich Habermas allein stützt. Deswegen kann ich nie genau sagen, was ich sage, sowenig ist anschließend mit Gründen dafür einstehen kann. Der Traum von der Vernunft in der Kommunikation, der ihre internen Verzerrungen zurechtrücken und erneut ein Stück Aufklärung sichern sollte, scheitert daran, dass ich als Sprechender immer schon durch das Gewicht des Anderen, seiner „Gravitation“ im Gespräch mitkonstituiert bin, die meiner Rede gleichwie ihrer Selbstauslegung eine ebenso zeitliche wie strukturelle Differenz auferlegt. Die Sprache aus dem Antworten verstehen heißt, sich am Ort dieser Differenz zu befinden. Sie ist bereits mit dem ersten Anruf gegeben. Das bedeutet es schließlich, wenn Lévinas gesagt hat, dass der Andere immer schon bei mir vorgesprochen hat, selbst wenn ich monologisiere. Es ist der Andere, der mich zum Sprechen einlädt; er gewährt mir ebenso einen Platz in der Sprache, wie er umgekehrt meiner Rede einen Sinn erteilt und ihrer Performativität eine Stätte erlaubt, die die Zeit immer schon zerteilt hat. Deshalb kann ich in gewisser Weise nur sprechen, wenn ich ihm nach-spreche – und ihm jeweils dadurch erst zu-spreche. Was bleibt dann von der Analyse der Rationalität des Gesprächs? Nichts, was sich philosophisch halten ließe: Einzig die Sprache und das immerwährende Rätsel – wie ebenso das Begehren nach und die Bemühung um Antwort.

Literatur

Althusser, Louis 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin (VSA)

Austin, John L. 1972: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart (Reclam)

Barthes, Roland 1984: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M (Suhrkamp)

Butler, Judith 1995: Conscience Does Make Subjekts of Us All, in: Yale French Studies 88, p. 6-26.

- 1998: Haß spricht, Berlin (Berlin-Verlag)

Davidson, Donald 1994: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M (Suhrkamp) 2. Aufl.

Derrida, Jacques 1999: Adieu, Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München Wien (Hanser)

- 1988: Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien (Passagen), S. 291-314.

Eco, Umberto 1984: Nachschrift zum Namen der Rose, München/Wien (Hanser)

Gadamer, Hans-Georg 1972: Wahrheit und Methode, Tübingen, 3. Aufl. (Mohr Siebeck)

Habermas, Jürgen 1976: Was heißt Universalpragmatik?, in: Karl-Otto Apel (Hsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M (Suhrkamp), S. 174-272.

- 1983: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M (Suhrkamp)

Heidegger, Martin 1975: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen (Neske) 5. Aufl.

Humboldt, Wilhelm von 1903ff.: Gesammelte Schriften, Berlin, Bd. VI.

Lacan, Jacques 1975: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders., Schriften I, Frankfurt/M (Suhrkamp), S. 71-169

Lévinas, Emmanuel 1985: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München (Alber)

- 1986: Ethik und Unendliches, Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien (Böhlau)

- 1993: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München (Alber) 2. Aufl.

- 1995: Zwischen uns, München/Wien (Hanser)

- 1998: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München (Alber) 2. Aufl.

Mersch, Dieter 1997: Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemerkungen zu Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität, in: Die Rolle der Pragmatik in der Gegenwartsphilosophie, 20. Internationales Wittgenstein Symposium, 2 Bde., Beitrage Bd. 2, Kirchberg am Wechsel, S. 621-628

Sartre, Jean-Paul 1962: Das Sein und das Nichts, Hamburg (Rowolth)

- 1977: Der Idiot der Familie, 5 Bde., Reinbek bei Hamburg (Rowolth), Bd. 1

Serres, Michel 1993: Die fünf Sinne, Frankfurt/M (Suhrkamp)

Wittgenstein, Ludwig 1971: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M (Suhrkamp)

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1 Althusser 1977: 142
2 vgl. Althusser 1977: 130-154, bes. den Abschnitt Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an 140ff.; dazu auch kritisch: Butler 1995: 6-26 und dies. 1998: 25-35, 41-47
3 Lévinas 1993: 141f. Ferner ders. 1995: 165
4 Althusser 1977: 143
5 Heidegger 1975: 13
6 Wittgenstein 1971: 24 (§ 23)
7 Lévinas 1993: 64
8 vgl. Butler 1998: 45
9 Lévinas 1995: 165
10 vgl. Bulter 1998: 20ff.
11 Serres 1993: 273, 275, 287 passim
12 Lévinas 1986: 67
13 vgl. Gadamer 1972: 351ff.
14 Gadamer 1972: 352, auch: 350
15 Gadamer 1972: 350f., auch: 360
16 vgl. Derrida 1999: 43. In gewisser Hinsicht erfährt damit zugleich die Figur des Anrufs bei Althusser eine Umkehrung. Denn der Ruf wäre nur Anruf, wenn er seinerseits von der Antwort her ausgelöst würde. Das heißt nicht, daß es keinen Ruf ohne Antwort gäbe; doch wäre ein solcher lediglich Schrei. Der Schrei antwortet auf nichts, was Sprache wäre: Der Schrei antwortet auf ein Ereignis, nicht auf einen Anderen. Der Schrei ist deshalb Laut; in ihm offenbart sich das Fleisch der Sprache, ihre Materialität.
17 So heißt es bei Lacan 1975: 97, 143: „Denn das gibt uns Gelegenheit, nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Rede das Subjekt eines Adressaten einschließt, anders gesagt, daß der Sprechende sich in ihr als Intersubjektivität konstituiert. ... Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen.“
18 Gadamer 1972: 361
19 Lévinas hat solche Besessenheit unter dem Titel der „Verfolgung“ gestellt. Das Ich ist seiner „zänkischen und herrschsüchtigen“ Subjektivität beraubt: Es wird durch den Anderen verfolgt, ist von ihm „besessen“. „(A)uf der Höhe seines Seins, strahlend im Glück, egoistisch, sich selbst setzend als Ich - siehe! da übertrifft es sich selbst, da ist es eingenommen von einem anderen Seienden.“ vgl. Lévinas 1993: 83. Zu den Begriffen „Verfolgung“ und „Besessenheit“ vgl. ders. 1998: 270, 283, 320f.
20 Die Verbindung von „Gravitation“ mit „Gravität“ folgt keiner metaphorischen Marotte, die mit einer homologischen Assoziation spielte: Sie entspringt der Sache selbst. Denn die Gravitation nennt jenes Gewicht, mit der wir aus der Nähe mit uns selbst zum Anderen hin errückt wird, der uns sein Gewicht auferlegt. Was daher jäh uns in die Nähe einer Alterität zieht, kommt mithin ein Gewicht zu, dem wir uns kaum zu entschlagen vermögen, wie es Walter Benjamin auch von der „Aura“ beschreiben hat. Es ist ein Gewicht, das sie zugleich mit der Bedeutung einer „Erhabenheit“ bekleidet, die ein Nichtnegierbares deutlich macht. Dann wäre die Erfahrung der Präsentheit des Anderen als Anderen die Erfahrung seiner gravität. Friedrich Schiller hat in diesem Sinne die Würde, die gravitas, mit dem Ausdruck der Freiheit verbinden, Lévinas hingegen mit der vor aller Freiheit kommenden Maßgabe der Alterität. Schillers Diktum läßt sich als „Würde der Souveränität“ beschreiben, Lévinas, als äußerster Gegenpol, als Würde des Ethischen. Schillers Manifestation der Würde durch Freiheit entspränge der Apotheose des freien Willens; dagegen kommt es darauf an, in genauer Umkehrung die Gravität des Anderen aus der Begegnung als Widerfahrnis aufmersam zu machen.
21 Gadamer hat diese Verbindung von Gehorsam und Gehören zur Autorität der Tradition umgedeutet; vgl. ders. 1972: 264ff. Zugleich wird damit aber das gelassene Hineingestelltsein ins „Ereignis“ des Seins, um das es Heidegger ging, eingebüßt.
22 Lévinas 1998: 246ff.
23 Sartre 1977, Bd. 1: 20f.
24 Gadamer 1972: 450
25 Gadamer 1972: 366
26 Derrida 1988: 291-314
27 vgl. Lévinas 1985: 19f.
28 vgl. Gadamer 1972: 289f.
29 Humboldt 1903ff., Bd. VI: 26; auch: 160
30 Eco 1984: 78f.
31 vgl. Sartre 1962: 91ff.
32 vgl. dazu meine Ausführungen: Mersch 1997
33 Barthes 1984: 15
34 Habermas 1976: 251
35 Habermas 1983: 69
36 Habermas 1983: 68
37 Austin 1972: 87ff.
38 Austin 1972: 84f.
39 Es gibt noch weitere Gründe: Der primär performative Satz „Ich werde da sein“ ist als Versprechen nicht unbedingt expliziert. Die Rekonstruktion gelingt nur dann, wenn ich weiß, was ich tue, d.h. über meine praktische Absicht verfüge. Allerdings wirkt der Übergang von „Ich werde da sein“ zu „Ich verspreche hiermit, daß ich da sein werde“ im Dialog tatsächlich verwirrend. Er vereindeutigt, was keiner Explikation bedurfte, verleiht dem Versprechen womöglich eine theatralische Note und läßt gerade dadurch Verdacht schöpfen. Die Verschiebung vereitelt, was sie zu betonen suchte und stellt auf diese Weise eine Abweichung dar. Die Schwierigkeit ist dem Konzept der Performativität inhärent, wie Davidson herausgestellt hat: Keineswegs besteht ein schlüssiger Zusammenhang zwischen Modus und Vollzug. Weder ist ein Satz eindeutig „als“ Behauptung, Verweis oder Versprechen explizierbar, noch garantiert eine explizit performativen Äußerungen wie „Ich behaupte hiermit, daß ...“, daß es sich dabei um eine Behauptung handelt. D.h., etwas sagen und es als Behauptung betonen, können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Vgl. dazu Davidson 1994: 160ff.

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