Warum (interkulturelle) Philosophie?

Elemente einer intellektuellen Autobiographie

Für Aristoteles galt bekanntlich das Staunen als der Anfang der Philosophie. Damit sprach er aus, was zu seiner Zeit im alten Griechenland allgemeine Auffassung war. Das Staunen brachte ihn dazu, bestimmte Fragen zu stellen. Warum sind die Dinge in der Welt wie sie sind oder was sie sind? Warum sind sie überhaupt? Das Selbstverständliche wird zum Problem, sobald man die Gründe dafür wissen will. Für Aristoteles war dies die Frage nach dem Sein der Dinge in der Welt, nach ihrem So-Sein oder Was-Sein und auch nach ihrem Dass-Sein. Und er ging davon aus, dass sich auf diese Fragen universal gültige Antworten geben lassen. In diesem Sinn wurde die Ontologie, die Seinslehre, zur grundlegenden Disziplin der griechischen und in ihrem Gefolge der europäisch-westlichen Philosophie. Sofern nach dem Sein überhaupt gefragt wurde, hat diese Philosophie auch eine theologische Dimension, ist sie mit einem Terminus von Heidegger Onto-theo-logie.
In meinem Leben war es eine andere Warum-Frage, die mich zur Philosophie geführt hat. Ich werde diese Ausgangsfrage und den Weg, der aus ihrem Durchdenken hervorgegangen ist, hier nur stichwortartig beschreiben. Eine inhaltlich etwas genauere Darstellung hat mein damaliger Doktorand Henk Oosterling in seiner 'Einführung' zu der von ihm und Frans de Jong herausgegebenen Festschrift zu meinem 60. Geburtstag geboten (Denken unterwegs. Philosophie im Kräftefeld sozialen und politischen Engagements, Amsterdam: Verlag B.R. Grüner 1990, S. XI-XXII). Oosterling betont mit Recht, dass dieser Denkweg nicht so sehr durch Brüche als vielmehr durch Verschiebungen gekennzeichnet wird, bei denen frühere Positionen nicht verlassen, sondern jeweils unter neuen Perspektiven gesehen werden.
Im umfassenden Kontext der Philosophie, die sich ontologisch begründet, ging ich von einer abgeleiteten oder untergeordneten Fragestellung aus. Warum soll ich oder kann ich die Glaubensaussagen der christlichen Theologie in ihrer protestantische Ausprägung, die sich auf die biblischen Texte berufen, für mich als gültig annehmen? Diese Texte sind rund 2000 Jahre alt oder älter und setzen ein anderes Denken, ein anderes Verständnis der Welt und des Menschen voraus. Wie lassen sich die Aussagen dieser Texte für die heutige Zeit und das heutige Denken als relevant erweisen? Es ist leicht ersichtlich, dass sich mein Interesse auf die Hermeneutik oder Verstehenslehre richten musste. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts schloss ich mich als junger Student zunächst bei theologischen Hermeneutikern und Bibelwissenschaftlern an: Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs in Tübingen und Philipp Vielhauer in Bonn, die jeder auf seine Weise den Ansatz Rudolf Bultmanns näher auszuarbeiten suchten. Dieser Ansatz ist durch die doppelte Formel der 'Entmythologisierung des Neuen Testaments' und der 'existentialen' oder auf die heutige Lebenspraxis bezogenen 'Interpretation der biblischen Botschaft' zu umschreiben.
Es erschien mir notwendig, das Problem des Verstehens genauer und grundsätzlicher zu durchdenken. So kam ich nach Heidelberg zu dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, der von Martin Heideggers existential-ontologischer Analytik des menschlichen Daseins ausging. Das Besondere des menschlichen Daseins liegt nach Heidegger darin, dass es sich selbst in seinem Sein als unterschieden vom Sein der Dinge in der Welt verstehen kann. Von hier aus hat Gadamer die hermeneutische Fragestellung für die historischen Geisteswissenschaften und damit auch für die Theologie in ihrer generellen philosophischen Breite und Grundsätzlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei hat er ausdrücklich die Frage nach dem Verstehen von Texten aus früheren geschichtlichen Epochen in den Horizont der Ontologie eingestellt. Das Sein des Menschen ist nicht nur dadurch geprägt, dass er Sprache hat, wie man bereits bei Aristoteles lesen kann, sondern auch dadurch, dass er - mit einer Formulierung Hölderlins - ein Gespräch ist. Der Mensch ist, was er ist, sofern er mit anderen aus früheren Zeiten und aus der eigenen Zeit im Gespräch ist. Meine eigenen Bemühungen, unter der Anleitung Gadamers, setzten bei Schleiermacher an, der selbst Theologe und Philosoph gewesen ist und der als erster Hermeneutik als eine allgemeine Verstehenslehre konzipiert und dann in einem zweiten Schritt auf das Neue Testament und die biblischen Texte angewendet hat.
Bei meinem weiteren Nachdenken befriedigte mich der geistes- und ideengeschichtliche Ausgangspunkt der theologischen Hermeneutiker und auch Gadamers nicht mehr. Ich hatte das Bedürfnis, mich in der politischen und gesellschaftlichen Situation der Nachkriegszeit und der neuen Entwicklungen in den ausgehenden 50er und beginnenden 60er Jahren zu orientieren. Die Welt war zweigeteilt in ein westlich-kapitalistisches und ein östlich-sozialistisches politisch-gesellschaftliches System. In dieser Lage erhielten für mich die philosophischen Konzeptionen von Hegel und Marx immer mehr eine ausschlaggebende Bedeutung. Mein Weg führte mich von der Hermeneutik zur Dialektik. Der in Ludwigshafen geborene Philosoph Ernst Bloch, der aus einer jüdischen Familie stammt, hat nicht nur Hegel, Marx und die marxistische Philosophie von den Voraussetzungen des 20. Jahrhunderts aus kritisch durchdacht und für eine Zeitdiagnose gebraucht, er hat auch die jüdisch-christlichen Glaubensaussagen in diesen philosophischen Kontext einbezogen. Die biblischen Aussagen vom Reich Gottes bekamen den Stellenwert, die am tiefsten im menschlichen Bewusstsein verankerte Utopie einer besseren Welt zu sein, die sich indessen im Status historischer Zukunft zu verwirklichen hat. Das Denken Blochs wurde für mich richtungweisend.
Die Nachgeschichte der Ereignisse des Jahres 1968, in dem die Studenten in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika und auch in anderen Ländern sich aufmachten, die sozialistisch-marxistische Utopie zu verwirklichen, hat gezeigt, dass sie dabei auf unüberwindliche Widerstände der bestehenden politisch-gesellschaftlichen Systeme stießen. Ein tieferes oder weiter ausgreifendes Nachdenken erwies sich als notwendig, um diese geschichtliche Erfahrung philosophisch zu verarbeiten. Dies führte mich zu der Frage, ob die Denkmittel und die Denkrichtung der europäisch-westlichen philosophischen Tradition nicht einer Engführung unterliegen, so dass nur in Gegensätzen gedacht werden konnte: West und Ost, Kapitalismus und Sozialismus. Philosophisch gesehen kam diese Engführung für mich darin zum Ausdruck, dass die Dialektik jeden Unterschied zu einem Gegensatz 'vertieft'. Für Hegel war es erwiesen, dass sich das Denken insgesamt in Gegensätzen vollzieht, die sich indessen wohl dem Gesamtrahmen eines umfassenden Denksystems einfügen. Durch die These von Karl Marx: 'Die Dialektik ist nur richtig, wenn sie ihre Grenze kennt' fühlte ich mich zu Grenzgängen des dialektischen Denkens aufgefordert. Ich stellte mir die doppelte Aufgabe, die Dialektik der Grenze und die Grenze der Dialektik zu untersuchen.
Durch das Denken der Differenz, in dem gegenüber der europäisch-westlichen philosophischen Tradition ein radikaleres Konzept des Anderen aufgezeigt wird, wurde ich schließlich in die Lage versetzt, den Bereich des Denkens dieser Tradition in seiner Begrenztheit zu erfassen. Emmanuel Levinas sucht das ontologisch begründete durch ein ethisch inspiriertes Denken zu überwinden. Dabei ist für ihn die Verwurzelung seiner Philosophie in der Tradition des jüdischen Denkens von entscheidender Bedeutung. Nicht was der Mensch ist, sondern dass er vom Anderen als Mitmenschen, gerade auch wenn dieser ein Fremder ist, in einem unbedingten Sinn in Anspruch genommen wird, gilt ihm als die grundlegende philosophische Fragestellung. Die direkteste Unterstützung fand ich in Jacques Derridas Ansätzen zu einer Philosophie der Differenz und insbesondere in seinen Beiträgen zu einer Dekonstruktion der Hegelschen Dialektik. Er sucht das Denken Heideggers, das mit dem Aufweiß der Differenz von Sein und Seienden der ontologischen Grundlegung der Philosophie verhaftet bleibt, zu radikalisieren, indem er auf das Hervorgehen immer neuer Differenzen als den nicht-ursprünglichen Ursprung des Denkens zurückgeht. Damit will er nicht die ontologische durch eine ethische Grundlegung der Philosophie ersetzen, sondern das Grundlegungsdenken selbst unterminieren.
Luce Irigaray und Julia Kristeva haben das Denken der Differenz in dem konkreten Bereich der philosophischen Frauenforschung angewandt und zugleich auch in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten weiter entwickelt. Die Differenz der Geschlechter bildet für sie ein konkretes, nicht mehr auf eine Einheit hin zurückführbares Anderssein. Weiblichkeit ist nicht durch den Gegensatz zum Männlichen definiert, sondern durch ihre eigenen vielfältigen Kennzeichen. Mit der Überwindung der Konzeption einer Opposition der Geschlechter suchen sie für das Denken in Gegensätzen als eine Grundform europäisch-westlichen Denkens eine Alternative aufzuzeigen. Es geht ihnen nicht darum, dass die Frauen wie die Männer sein oder werden können, sondern darum, dass mit dem Eigenen der Weiblichkeit etwas Vergessenes oder Verdecktes der europäisch-westlichen philosophischen Tradition thematisiert wird. Diese Art von Konkretisierung des neuen Differenzdenkens, durch die der Bereich der Möglichkeiten dieses Denkens ausgebaut und erweitert wird, halte ich für folgenreicher als die Beispiele einer 'Politik der Differenz', die sich auch bei den anderen Differenzphilosophen finden lassen und die selbstverständlich ebenfalls von großer Wichtigkeit sind.
Kristeva, die in der Zeit des Kalten Krieges aus dem stalinistischen Bulgarien nach Frankreich emigriert ist, kennt die Situation der Fremden aus eigener unmittelbarer Erfahrung. Sie hat das paradoxe Schicksal der Menschen, die in einer Kultur leben, welche nach Geburt und Erziehung nicht ihre eigene ist, als eines, das zwischen Unterdrückt sein und Überlegenheit hin und her gerissen wird, treffend und in literarisch glänzendem Stil analysiert. Wenn sie schließlich zu dem Ergebnis kommt: Fremde sind wir uns selbst (das ist der Titel der deutschen Übersetzung eines 1988 bei Fayard in Paris erschienenen Buches), gibt sie für das Fremdsein doch wieder einen immer gleichen Grund an: das Unbewusste im Sinn der Freudschen Psychoanalyse. Man kann diesen Schlussabschnitt ihres Buches kritisch sehen. Für mich ist entscheidend, dass sie von den Voraussetzungen des Differenzdenkens aus den Schritt zur Thematisierung der Probleme gesetzt hat, die in der heutigen Welt mit der Konfrontation und Vermischung verschiedener Kulturen in gewaltigem Maßstab gegeben sind.
Auch in meiner eigenen Denkarbeit war die Beschäftigung mit den Philosophien der Differenz der Auftakt für einen Beitrag zur Klärung der Probleme des Multikulturalismus und der Interkulturalität. Ich beschloss, mich den oder dem Anderen und Fremden in einem konkreten und radikal gedachten Sinn philosophisch zuzuwenden. Mein Beitrag besteht in dem Studium der Philosophien anderer Kulturen, das heißt für einen Europäer der nicht europäisch-westlichen Kulturen, und in dem Aufweiß der Relevanz dieser Studien. Damit hatte ich mir eine faszinierende, aber nicht immer leichte und angenehme Aufgabe gestellt. Die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts bestehende Praxis der vergleichenden Philosophie, die westliche und östliche oder fernöstliche philosophische Auffassungen mit einander konfrontiert, krankt meines Erachtens an methodischen und regionalen Begrenzungen. Philosophien lassen sich nicht lediglich vergleichen oder vergleichend mit einander konfrontieren. Es ist unvermeidlich, dass sie auf einander einwirken, dass zwischen ihnen Dialoge entstehen. Und es lässt sich nicht rechtfertigen, dass der Vergleich von Philosophien auf die westliche und die fernöstliche Welt beschränkt bleibt.
Im Mittelalter gab es bereits wichtige Beiträge islamischer Philosophen zu Fragen, die in Europa diskutiert wurden. Bertrand Russel hat in seiner History of Western Philosophy die Bedeutung des Islam für die westliche Philosophie des Mittelalters herausgestellt (London: Unwin Paperbacks 1979, S. 413-421) Und Bloch hat die Denkrichtung des Avicenna und Averrhoes im Rahmen dieser Diskussionen als 'linken Aristotelismus' gekennzeichnet. Bloch hat in einem allgemeineren philosophischen Sinn das Einheitsdenken und den durch nichts zu rechtfertigenden Alleinvertretungsanspruch der westlichen Philosophie durchbrochen, wenn er in philosophischer Hinsicht von einem ‚Multiversum der Kulturen' spricht. Seit dem Ende des Kolonialismus im Sinn der politischen Beherrschung nicht-europäischer Länder und Erdteile durch die europäischen Staaten beginnt das philosophische Denken in Mittel- und Südamerika und auch der eingeborenen Bevölkerung Nordamerikas sowie der Völker Afrikas südlich der Sahara und Ozeaniens ins Blickfeld zu treten. Das ist in den 10 Bänden der 1998 in London erschienenen Routledge Encyclopedia of Philosophy eindrucksvoll dokumentiert, in der neben indischer, chinesischer, arabischer und jüdischer Philosophie auch afrikanische und lateinamerikanische als nicht-westliche Philosophien behandelt werden. In Deutschland stehen sich die Philosophen vielfach auf Grund eines abstrakten Qualitätsstandards bei dieser Entwicklung selbst im Weg.
Meine Entscheidung, mich bei der Begründung und Ausarbeitung der interkulturellen Philosophie schwerpunktmäßig mit subsaharisch-afrikanischer Philosophie und Dialogen zwischen afrikanischen und westlichen Philosophien zu beschäftigen, ist dadurch motiviert, dass dieser neue Typus von Philosophie erst dann als verwirklicht angesehen werden kann, wenn auch Völkern, die primär mündliche Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen, Philosophie zuerkannt wird. Zusammen mit einigen niederländischen, belgischen, deutschen und österreichischen Philosophen habe ich Dialoge mit afrikanischen Kollegen zu gemeinsam als interessant und relevant erachteten Themen wie Gerechtigkeit und Wahrheit, Zeit und Entwicklung, Gemeinschaftssinn und Demokratie, Ästhetik und Moral, Spiritualität und Todeserfahrung organisiert und in Veröffentlichungen dokumentiert. Die Form der Dialoge setzt unter anderem bei den Dialogpartnern Gleichheit dem Rang nach und Verschiedenheit der inhaltlichen Überzeugung nach sowie völlige Offenheit im Blick auf die zu erwartenden Resultate voraus. Partner in Dialogen tolerieren einander nicht nur, sondern begegnen einander mit Respekt und Achtung.
Die Anerkennung und Wertschätzung afrikanischer und ozeanischer Kunst durch europäisch-westliche Künstler und Ausstellungsmacher erfüllt in meinen Augen eine Vorreiterrolle in der gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen westlichen und nicht-westlichen Partnern. Es begann mit dem Japonismus van Goghs und einiger seiner Zeitgenossen und der Zuwendung Gauguins zur ozeanischen Kultur; bahnbrechend für die Wertschätzung afrikanischer Kunst waren Picasso und Braque. Heute gibt es, etwa bei Mitgliedern der Cobra-Gruppe oder Schülern von Joseph Beuys, dauerhafte Formen der Kooperation zwischen westlichen und nicht-westlichen Künstlern. In New York und Paris haben westliche Ausstellungsmacher 1984 und 1989 bewusst eine interkulturelle Betrachtungsweise in die Präsentation der bildenden Kunst eingeführt; 2002 wurde die Einrichtung der Dokumenta in Kassel, die sich in fünfjährigem Turnus auf die Entwicklung der Kunst in der Welt richtet, einem in der amerikanischen Diaspora lebenden nigerianischen Kurator anvertraut.
Dass es dies in der Kunst gibt und dass die Philosophie dahin auf dem Weg ist, kann und wird auch für das Umgehen der Politiker und Wirtschaftsvertreter mit einander, die zu verschiedenen westlichen und nicht-westlichen Kulturen gehören, nicht ohne Folgen bleiben. Die interkulturellen philosophischen Dialoge können dazu führen, dass auch die interkulturelle Kommunikation in Politik und Wirtschaft dialogischer wird. Ferner wird auf diesem Weg dem Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer und derselben Gesellschaft die Perspektive vorgegeben, dass darin nicht nur eine Bereicherung der jeweils eigenen kulturellen Möglichkeiten, sondern auch die Keime zu ganz neuen fruchtbaren geistigen und gesellschaftlich-politischen Konstellationen enthalten sind. Selbstverständlich gibt es weiterhin schwerwiegende Gegensätze in der Welt, aber wo immer ausschließlich mit den Mitteln der oppositionellen Logik argumentiert wird, wird man von einem Rückfall hinter die Eröffnung der interkulturellen Dimension des Denkens und Handelns sprechen müssen.
Wenn man dies alles zusammen nimmt, erweist sich die interkulturelle Philosophie nicht mehr nur als eine abgeleitete und untergeordnete Disziplin im Kontext der ontologisch begründeten Philosophie. Dieser neue Typus von Philosophie fragt nicht im Stil der europäisch-westlichen Tradition seit Aristoteles, wie und was der Mensch und die Dinge in der Welt sind, jedenfalls nicht, sofern damit der Anspruch verbunden wird, dies in einem universalen Sinn sagen zu können, der für alle Zeiten und an allen Orten gültig ist. Im Multiversum der Kulturen gibt es eine Multiperspektivität der Wahrheit nicht nur im Blick auf die Seinsfrage, wie und was der Mensch und die Dinge in der Welt sind, sondern auch im Blick auf die letztendliche Sinnfrage, mit den darin enthaltenen religiösen Implikationen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Die Religionen selbst, gerade auch das Christentum und die anderen monotheistischen Religionen, die paradoxerweise jede für sich beanspruchen die allein wahre zu sein, befinden sich freilich erst an dritter Stelle, nach Kunst und Philosophie, auf dem Weg zum interkulturellen Denken. Es ist zwar öfter von 'interreligiösen Dialogen' die Rede, aber man wird sie erst wirklich Dialoge nennen können, wenn die Dialogpartner jedweden Absolutheitsanspruch aufgegeben haben.

Heinz Kimmerle, Zoetermeer (NL), im März 2003