Im Folgenden wird der Text des Buches Philosophie in Afrika - afrikanische Philosophie als Internet-Ausgabe dargeboten. Das Buch war 1991 bei Edition Qumran im Campus Verlag in Frankfurt/M. erschienen, ist aber seit geraumer Zeit nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Es handelt sich um eine der ersten Veröffentlichungen zur afrikanischen Philosophie in deutscher Sprache.

Aus heutiger Sicht sind zwei Feststellungen wichtig: 1. In diesem Text wird der Begriff »Stamm« gebraucht, während besser »Volk« oder »ethnische Gruppe« stehen sollte. 2. Für die Betrachtung der Geschichte der afrikanischen Philosophie wird die bis heute freilich umstrittene These Cheikh Anta Diops nicht hinreichend berücksichtigt und diskutiert, die aber inhaltlich von großer Bedeutung ist, dass das alte Ägypten ein schwarzafrikanisches Land gewesen ist und als die Wiege oder der Ursprung der afrikanischen Philosophie angesehen werden muss. Wo es erforderlich oder nützlich erschien, sind kurze aktualisierende Bemerkungen in Klammern hinzugefügt.

 

 

 

Philosophie in Afrika - afrikanische Philosophie
Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff.

 

 

 

 

Vorwort

Mein Interesse an Afrika und an der afrikanischen Philosophie ist durch die Studien über diesen Kontinent und die Reisen geweckt worden, die mein Sohn Christoph unternommen hat, dem dieses Buch auch gewidmet ist. Einige private und von der Fakultät für Philosophie der Erasmus Universität Rotterdam finanzierte Reisen nach Tansania und Kenia in den Jahren 1988 und 1989 haben zu persönlichen und sachlichen Kontakten mit einer Reihe afrikanischer Philosophen geführt. Innerhalb der Niederlande habe ich einen Arbeitskreis für afrikanische Philosophie gegründet, an dem Philosophen, Kulturanthropologen und Religionswissenschaftler teilnehmen. Das »Erste gemeinsame Symposium afrikanischer und niederländischer Philosophen« am 10. März 1989 über »Ich, Wir und Körper« fand im Rahmen dieses Arbeitskreises statt. Eine halbjährige Studienreise nach Kenia, Ghana, Benin und Nigeria von Anfang August 1989 bis Ende Januar 1990 wurde mir ermöglicht durch ein Fellowship der Stiftung Universitätsfonds Rotterdam, der ich auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte.

Die Texte in diesem Band sind auf dieser Reise entstanden, gewissermaßen als deren unmittelbares Resultat. Daß sie in deutscher Sprache geschrieben sind, hat Gründe, die am Beginn der Einleitung genannt werden. Das Schreiben in der Muttersprache kommt der Unmittelbarkeit zugute, in der Gedanken und Erfahrungen zu Texten werden. Zu dem Prozeß der Entstehung dieser Texte gehört freilich auch, daß sie mehrfach aufs neue gelesen und durchdacht worden sind. Dies führte zu Ergänzungen, Änderungen, Verschiebungen. Meiner Sekretärin, Irma Beckers danke ich für die Geduld und Sorgfalt, die sie darauf verwendet hat, die verschiedenen Entstehungsstufen der Texte in den Computer einzugeben.

Nach dem Abschluß meiner Reise habe ich nicht den Eindruck, tiefgründige Einsichten über afrikanisches Denken und afrikanische Philosophie mitteilen zu können. Dies ist ein erster Anfang. Dabei versucht die Beschäftigung mit afrikanischer Philosophie von allem Anfang an dialogisch zu sein. Die eigenen Fragen und Argumente, die hier versuchten »Annäherungen«, haben vor allem die Funktion, die Aussagen der afrikanischen Philosophen in Hörweite zu bringen. Das Projekt einer interkulturellen Philosophie besteht zunächst darin, zu hören, lange Zeit hindurch zu hören, wie sich die Philosophie einer anderen Kultur als Antwort auf bestimmte Fragen und als Reaktion auf bestimmte Argumente artikuliert. Auch Hören will gelernt sein; es erfordert Offenheit, Konzentration, Disziplin und eine methodisch geleitete Technik. Wie das Verstehen, das viel später kommt, ist es Kunst.

Es ist wahr, was häufig gesagt wird, auf was ich jedoch in striktem Sinn von Nietzsches berühmter Diagnose der europäischen Situation abheben möchte: »Die Götter Afrikas leben noch«. Und es ist schwer, wenn nicht unmöglich für einen Europäer, mit ihnen in Verbindung zu treten. Die traditionelle afrikanische Kultur löst sich auf und vermischt sich mit modern westlicher Lebensweise. Es ist ein atemberaubender, sicher nicht immer erfreulicher Prozeß. Die Worte eines Schriftstellers aus Ghana suchen die Situation aus einer afrikanischen Sicht zusammenzufassen: »Doch aus dem Verfall und dem Dung treibt es immer wieder neue Blüten hervor. Vielleicht hilft es, das zu wissen. Vielleicht klärt es das leidende Gehirn, obgleich tief im Herzen und mitten in den Eingeweiden der Schmerz und die Angst zu versinken niemals besänftigt werden.«[1]

Demgegenüber greift eine Strategie zu kurz, die im Dialog mit der afrikanischen Philosophie deren Tendenz zur geistigen Dekolonisierung zu verstärken sucht. Diese Strategie ist der Beitrag des Buches von Christian Neugebauer zu unserem Thema.[2] Die spezifische Rolle Afrikas und seiner Philosophie in den entstehenden weltweiten Zusammenhängen auf ökonomischem, politischem und kulturellem Gebiet wird aber nicht nur von der Ablehnung des Kolonialismus bestimmt sein können. Afrika wird auch andere Kräfte seiner Geschichte einzubringen haben, und für die Herausarbeitung seiner Spezifizität, wenn sie zustandekommt, kann die Kultur und mit ihr die Philosophie von Bedeutung sein, sofern darin das Besondere artikulierbar ist.

Rotterdam. 1. Oktober 1990    H.K.

Inhaltsübersicht

 

Einleitung »Zum Thema« und »Zur Methode«

Das Thema »Philosophie in Afrika und afrikanische Philosophie« ist relativ neu, vor allem innerhalb der deutschsprachigen Philosophie. Das letztere ist erklärlich, weil Afrika im Denkhorizont der ehemaligen Kolonialmächte mehr im Vordergrund steht als im Bewusstsein der Deutschen, deren afrikanische Kolonien seit 1918 unter andere Verwaltung gestellt worden sind. Dennoch war es ein deutscher Kollege, Alwin Diemer, der das Thema, um das es hier geht, zuerst im Weltmaßstab zur Diskussion gestellt, in den internationalen philosophischen Diskurs eingeführt hat. Er tat dies, indem er auf dem von ihm organisierten Weltkongress für Philosophie 1978 in Düsseldorf ein »Symposium zur Philosophie in der gegenwärtigen Situation Afrikas« einrichtete, an dem neun afrikanische Philosophen teilnahmen.[3] Vier Jahre später rief er eine viel größere Anzahl zu einem Kongreß zusammen, der auch die Vielfalt der philosophischen Probleme dokumentierte, die unter dem durchaus problematischen gemeinsamen Nenner »Afrika«, präziser: »Afrika südlich der Sahara« zur Diskussion gestellt werden.[4]

Neben der Präsentation der afrikanischen Philosophie auf dem erwähnten Weltkongress und dem daran anschließenden Kongress in Düsseldorf sind zwei Kongresse der Afro-Asiatischen Gesellschaft für Philosophie zu erwähnen, auf denen die Philosophie Afrikas sich über die Grenzen dieses Kontinents hinaus Gehör verschafft hat. Der erste Kongress dieser Gesellschaft über »Philosophie und Zivilisation« fand 1978 in Cairo statt, der zweite über »Philosophie und Kulturen« 1981 in Nairobi.[5] Die großen Weltkongresse sind seit 1978 ein wichtiges Forum der afrikanischen Philosophen. Regionale Kongresse philosophischer Gesellschaften gab es in Südafrika (1975), Äthopien (1976), Nigeria (1981), Zaïre (1983) und Sudan (1985).

Ein neuer Schub zur Intensivierung und Präsentation der philosophischen Arbeit in Afrika war die »Erste internationale regionale Konferenz für Philosophie in Ostafrika« 1988 in Mombasa unter dem Titel: »Philosophical Focus on Culture and Traditional Thought Systems in Development«[6], an der Philosophen aus fast allen Ländern Afrikas südlich der Sahara und aus Ägypten teilnahmen, sowie einige wenige Gäste aus Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. 1989 wurde in Rotterdam das »Erste gemeinsame Symposium von Philosophen aus Afrika und aus den Niederlanden« abgehalten, das als Thema hatte: »Ich, Wir und Körper« und als Ansatz zu verstehen ist, über Fragen, die zugleich für afrikanische und für europäische Philosophen interessant sind, gemeinsam nachzudenken, ohne die Verschiedenheiten aufheben oder auch nur reduzieren zu wollen.[7] Damit wurde in Rotterdam ein Forschungsprojekt über »interkulturelle Philosophie« auf den Weg gebracht, in dessen Rahmen auch der hier vorliegende Text erarbeitet worden ist.

In anderen Disziplinen sind interkulturelle Forschungen schon seit längerer Zeit im Gange. Über Theorie und Methode sowie verschiedene Themengebiete besteht eine breite und differenzierte Literatur. In dem Artikel von C. Kagitçibasi und J.W. Berry, Cross-cultural Psychology: Current research and trends werden mehr als 340 verschiedene Bücher und wissenschaftliche Aufsätze zitiert bzw. besprochen.[8] Das deutlichste Beispiel ist indessen die vergleichende Literaturwissenschaft. In bezug auf Afrika ist sie mit einem Problem konfrontiert, das auch für die interkulturelle Philosophie eine nicht unbedeutende Rolle spielt: eine lange Periode primär mündlicher Überlieferung wird seit den 50er und 60er Jahren dieses Jahrhunderts von primär schriftlichen literarischen Äußerungen abgelöst (s. Philosophische Probleme IV: »Wider den Gegensatz mündlich-schriftlich«). Bahnbrechende Forschungen dazu hat u.a. R. Finnegan geleistet.[9] Ein sehr hilfreicher zusammenenfassender Bericht über den Stand dieser Wissenschaft ist in holländischer Sprache erschienen.[10]

Nun kann man freilich einen interkulturellen Philosophiebegriff nicht am Schreibtisch sitzend entwickeln wollen. Noch viel weniger sollte man den Weg der kultur-anthropologischen bzw. ethnologischen und ethnographischen Feldforschung einschlagen. Es geht nicht um objektivierende Beobachtung und Beschreibung, sondern darum, sich wechselseitig besser kennenzulernen, in ein sachlich-philosophisches Gespräch zu kommen, gemeinsame Forschungsaufgaben zu thematisieren und längerfristig zu bearbeiten; das alles selbstverständlich auf der Ebene völliger Gleichberechtigung. Nicht ohne Grund wird bei den erwähnten Kongressen und Symposia so häufig das Stichwort »Kultur« gebraucht. Jede Philosophie ist in eine bestimmte Kultur eingebettet. Sie kann nicht losgelöst davon betrachtet und begriffen werden. Die Kultur in diesem Sinn ist nicht ohne weiteres klar und deutlich zu umschreiben, sie behält etwas Unbestimmtes, diskursiv schwer Erfassbares, das aber für die Erfahrung und das Gefühl unverwechselbar ist. Zugleich gibt es auch so etwas wie eine philosophische Kultur oder ein kulturelles Ambiente, das zum Philosophie-Betreiben gehört und das in Hinsicht auf den zuerst gebrauchten Kulturbegriff von allem Anfang an »interkulturell« ist, da es die Philosophen verschiedener Kulturen miteinander verbindet.

»Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff« sind deshalb eine zugleich theoretische und praktische Unternehmung, für die ebensosehr wie die Lese- und Schreibarbeit die Organisation und Ausführung von Reisen und Forschungsprogrammen gehört mit den Erfahrungs- und Gefühlskomponenten, die dabei ins Spiel kommen. Diesem veränderten Arbeitsstil entsprechen veränderte Schreibstile. Dass das Schreiben, die Schriftlichkeit der Überlieferung, theotetisch und praktisch zum Problem werden, ist sicher unvermeidlich, wenn afrikanische Philosophie zur Diskussion steht, die erst kürzlich den Übergang vollziehen musste von mündlichen zu überwiegend schriftlichen Kommunikations- und Überlieferungsformen. Das Thema und der Arbeitsstil eines zu entwickelnden interkulturellen Philosophiebegriffs hat auch den Schreibstil des Verfassers nicht unbeeinflusst gelassen, wofür er den Leser falls das nötig sein sollte um Verständnis bittet. Zu diesem Schreibstil gehört auch, dass das Lokalkolorit der Länder, Städte und Universitäten, die auf einer halbjährigen Reise besucht wurden, durchaus sichtbar gemacht wird: Kenia, University of Nairobi; Ghana, University of Ghana in Legon-Accra; Benin, Universitb Nationale du Benin in Cotonou; Nigeria, University of Ibadan.

Alle afrikanischen Länder zu bereisen und zu berücksichtigen war nicht möglich. So ist die Wahl auf ein ostafrikanisches und zwei westafrikanische Länder gefallen. Das ist nicht repräsentativ, da die afrikanischen Kulturen nicht nur absolut differenzierter sind als die europäischen, schließlich ist der Kontinent um vieles größer, sondern wohl auch relativ auf Gebieten von vergleichbarem Umfang. Zu den Einseitigkeiten und Beschränkungen der Wahl gehört, dass die französischsprachigen Länder unterrepräsentiert sind, vor allem fehlen Senegal mit der Cheikh Anta Diop-Universität in Dakar und das philosophisch so lebendige Zaïre mit den Universitäten in Kinshasa und in Lubumbashi. Das Fehlen von Zaïre kann in gewisser Weise dadurch wettgemacht werden, daß Tshiamalenga Ntumba bereits 1979 einen Übersichtsartikel veröffentlicht hat: »Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas«.[11] Die spezifisch zaïrischen Beiträge, die relativ früh eine wichtige Rolle gespielt haben und die in den beiden Bänden von A.J. Smet (ed.), Philosophie Africaine. Textes choisis et Bibliographie selective dokumentiert sind,[12] bilden darin den allgemeinen Bezugspunkt für die Darstellung. Nachkoloniale Situation und afrikanische Identitätsfindung stehen im Vordergrund. Der besondere Beitrag der Philosophen in Kinshasa besteht darin, daß sie das »traditionelle afrikanische Denkgut« mit Hilfe einer »rekonstruierenden Hermeneutik« zu erfassen suchen. Das ist die zaïrische Version der »Ethnophilosophie«, deren Thesen die aufkommende philosophische Diskussion in Afrika stark beeinflußt haben.

Als Korrektiv der einseitigen Berücksichtigung einiger weniger Länder können zwei Bücher dienen, die einen Überblick über die Situation der Philosophie in Afrika südlich der Sahara geben wollen. R.W. Wright hat die Artikel einer Reihe verschiedener Autoren aus Afrika, USA und anderen Ländern zusammengestellt, die eine »Einleitung« in das Gesamtgebiet geben sollen. Wichtig ist auch der umfangreiche bibliographische Anhang.[13] In dem Übersichtswerk über »Zeitgenössische Philosophie«, das von G. Floistad (Oslo) herausgegeben wird, folgt auf vier Bände, die systematisch angelegt sind, ein fünfter Band mit dem Titel: »African Philosophy«. Wiederum schreiben Autoren aus Afrika und USA, die verschiedene Schulen innerhalb der afrikanischen Philosophie vertreten oder darüber berichten. Der Eröffnungsbeitrag von L. Outlaw behandelt »Deconstructive and reconstructive challenges«.[14]

Ferner sollte ich hier das Buch von V.Y. Mudimbe erwähnen, das aus einer Sicht über westliche Afrika-Bilder und afrikanisches Denken geschrieben ist, die eine afrikanische Perspektive (er stammt selbst aus Zaïre) und Foucaultsche Analysen über den Zusammenhang von Erkenntnis, Diskurs und Macht miteinander verbindet. In seinem Buch The invention of Africa spricht Mudimbe von Gnosis, um eine Erkenntnisart zu beschreiben, die mehr umfasst als wissenschaftliche Erkenntnis.[15] Nach seinen eigenen Worten versteht er unter Gnosis »die Suche nach Wissen, fragendes Erforschen, Methoden des Wissens, Untersuchung von und auch Bekanntheit mit einer Person oder Sache«. Er will Typen der Erkenntnis (die jeweilige Episteme) in den Diskursen über afrikanische Kulturen freilegen (kolonial, missionarisch, kulturanthropologisch usw.). Dabei hat er sich insbesondere auf die Transformationsprozesse dieser Erkenntnistypen gerichtet. Von diesen sucht er abzuheben »eine Art Archäologie der afrikanischen Gnosis als eines Erkenntnissystems, in dem neuerdings gewichtige philosophische Fragen entstanden sind«. Die »Afrikanisierung« westlicher Erkenntnis, die darin stattfindet, lässt eine Reihe schwieriger Fragen entstehen. In der Erörterung dieser Fragen ist ihm der Hiatus zwischen afrikanischem Denken und den westlichen Erkenntnistypen sehr bewusst, auch die Abhängigkeit des ersteren von den letzteren. Neben der offenen und von daher leicht subtrahierbaren verweist er auf eine verborgene, nur mühsam freizulegende Abhängigkeit des afrikanischen Denkens von den westlichen Erkenntnistypen. Sein Buch möchte ich als verwandte Unternehmung der hier versuchten »Annäherungen zu einem interkulturellen Philosophiebegriff« begrüßen.

Eine teilweise Parallele zu Mudimbes Buch findet sich in den Arbeiten von R. Corbey, einem niederländischen Kulturanthropologen und Philosophen, der die europäische »Erfindung« von Afrika im kolonialen Diskurs, insbesondere in der exotischen Photographie, untersucht.[16] Ferner möchte ich in diesem Zusammenhang auf das Buch Nnamdis verweisen, der aus Nigeria stammt, dort auch katholische Theologie studiert hat und nach weiteren Studien an österreichischen Hochschulen in Wien im Fach Philosophie promovierte.[17] Es ist jedoch wichtig, hier auch den Unterschied zu Nnamdis Konzeption anzugeben, weil dadurch der Grundgedanke eines interkulturellen Philosophiebegriffs Konturen gewinnt. Nnamdi stützt sich für seinen Bezug auf die afrikanische Philosophie auf das Buch von E.A. Ruch (aus Lesotho in Südafrika) und K.C. Anyanwu (aus Lagos/ Nigeria), African philosophy. An introduction to the main philosophical trends in contemporary Africa.[18]Während Ruch einen universalistischen Standpunkt vertritt, betont Anyanwu das Spezifische einer jeden Kultur, die »geschichtliche Differenz«. Aber auch der letztere »bleibt offen für ... Universalität«.[19] Nnamdi möchte beide Standpunkte miteinander vermitteln durch seine Konzeption der »Meneistik«, die er auf der Grundlage von Erich Heintels Denken entwickelte. »Meneistik« nennt er die Theorie des »Darinstehens« in jeweils eigenen spezifischen Traditionen, in denen sich »bedeutungsinvariant« der »Wahrheitswert« oder die »Identität unserer Humanität« konkretisiert.[20] Abgesehen davon, dass aus der Sicht eines interkulturellen Philosophiebegriffs bei Nnamdi und bei Ruch/Anyanwu Europäisches und Afrikanisches zu schnell und zu undiffemnziert gegenübergestellt werden, scheint uns die Annahme eines solchen Bezugsrahmens, eines »praktischen und theoretischen Totalitätsanspruches« (wie Nnamdi mit R. Spaemann sagt) nicht notwendig und nicht angemessen.[21]

Schließlich ist das Buch von Ch. Neugebauer (Wien) zu nennen, das eine »Einführung in die afrikanische Philosophie seit 1970« bietet und im Blick auf die vorliegende Studie als vorbereitend und als ergänzend angesehen werden muß.[22] Die Formulierung seines Standpunkts lässt an Deutlichkeit und an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. »Allzulange wurde Afrika jede Philosophie abgesprochen, um Kolonialismus und Neokolonialismus zu rechtfertigen ... Gegen diese koloniale Apologie, die Hand in Hand mit einem Rassismus geht, ist dieses Buch gerichtet.«[23] Es liegt auf der Hand, dass sowohl die Kritik des kolonial beeinflussten philosophischen Diskurses in Europa als auch die politisch-ideologische Philosophie in Afrika stark im Vordergrund stehen. Ein Problem besteht freilich darin, dass Neugebauers Darstellung der Philosophien Nkrumahs, Nyereres oder Senghors nicht nur immanent-kritisch ist, sondern von dem quasi übergeordneten Standpunkt des Marxismus oder wissenschaftlichen Sozialismus aus formuliert wird. Die Ethnophilosophie und mit ihr der Rückgang auf die traditionellen Weisheitslehren (sage-philosophy) verfallen damit einer zu pauschalen Ablehnung. Hier wird man zweifellos differenzierter argumentieren müssen. Für den Dialog, von dem bei Neugebauer, aber auch am Anfang und am Ende dieses Buches die Rede ist, kann das Ziel (noch) nicht eindeutig angegeben werden. Seine Richtung ist nicht nur als diskurskritisch gegen Kolonialismus und Neokolonialismus zu bestimmen. In ihm erhalten Kunst und Philosophie als Kernbereiche der Kultur eine besondere Bedeutung, die wir in Philosophische Probleme XIV genauer aufzeigen wollen.

Zum allgemeinen Verständnis sei noch gesagt, dass in allen folgenden Texten die Folgen einer Kolonialpolitik vorausgesetzt sind, die in den ehemaligen britischen Kolonien das Prinzip der »indirekten Herrschaft« praktizierte, bei der vorhandene Sozialstrukturen weitgehend erhalten blieben, in den ehemaligen französischen Kolonien jedoch das Prinzip der »Assimilation«, durch das eine möglichst vollständige administrative und sonstige Angleichung an die Verhältnisse im französischen Mutterland angestrebt wurde. Ehemalige spanische, portugiesische, belgische und italienische Kolonien bleiben außer Betracht, da sie nicht besucht wurden. Die noch spürbaren Einflüsse der deutschen Zeit im heutigen Tansania (bis 1890 bzw. 1918), die verglichen mit der späteren britischen Administration stärker als von außen auferlegt empfunden werden, bleiben ebenfalls weitgehend unberücksichtigt, weil von der Situation der Philosophie in diesem Land wegen der Kürze zweier Studienaufenthalte nur wenig in die Darstellung eingegangen ist. Schließlich soll noch erwähnt werden, daß die Verhältnisse in Südafrika, zu denen es verschiedene philosophische Stellungnahmen gibt,[24] allenfalls als Negativfolie in dem folgenden (vor dem Ende der Apartheidspolitik im Jahr 1994 geschriebenen) Text eine Rolle spielen.

Das alles sind erste Schritte in theoretisch unbekanntes Gebiet. Afrika bleibt, wenn auch auf andere Weise als in der Vergangenheit, ein fremder unerschlossener Kontinent mit der dazu gehörenden Unsicherheit. Davon ist es nur ein Aspekt, dass die jungen afrikanischen Staaten politisch nicht wirklich stabil sind, daß viele von ihnen gegen eine Art Dauerkrise zu kämpfen haben. So operierte z.B. in Kenia im August und September 1989 eine Opposition im Untergrund, die von der »Diktatur mit patriarchalischen Zügen«, wie ich Daniel arap Mois System nennen möchte, als somalisch beeinflußt oder von Somalia aus gesteuert qualizifiert wurde. Verschiedene Terrorakte, die zur Abschreckung von westlichen Touristen führen sollten, richteten sich damit gegen die Hauptstütze der Ökonomie dieses Landes und der herrschenden Politik. Ghana versteht sich selbst seit Jahren (im Grunde seit dem Sturz Nkrumahs 1968) als »eine Nation in der Krise«, in der Militär- und Zivilregierungen, Putsche, Gegenputsche und vereitelte Putschversuche einander ablösen.[25] Dasselbe gilt für Nigeria, ein Land, das zudem noch vom Bürgerkring der Ibo gegen die übrigen Stämme des Landes 1966-70, vom Öl-Boom in der Mitte der siebziger Jahre, der dadurch bedingten viel zu hohen Verschuldung und einer ökonomischen Rezession seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gezeichnet ist. In Benin schließlich wurde zur Zeit meines Besuches im Januar 1990 häufig demonstriert und ein längere Zeit andauernder Streik fortgesetzt, um den Rücktritt der marxistisch-leninistisch orientierten Regierung zu erreichen. Indessen bildet der gemeinsame Wille zur Entwicklung in allen erwähnten Ländern die Grundlage einer relativen Stabilität.

 

Philosophische Probleme I »Gibt es afrikanische PhiIosophie?« und »Was ist Philosophie?«

Der geringe Bekanntheitsgrad afrikanischer Philosophie in europäischen und US-amerikanischen und insbesondere in deutsch-sprachigen philosophischen Kreisen macht es erforderlich, immer noch nach den in der Einleitung genannten Kongressen und Symposia und einer überwiegend englisch- und französisch-sprachigen Literatuur zu diesem Thema, die eine umfangreiche Bibliographie füllen[26] mit der Frage zu beginnen: »Gibt es afrikanische Philosophie?« Als nach der Erringung der Unabhängigkeit die afrikanischen Länder damit begannen, eigene Universitäten einzurichten, entstanden häufig auch Abteilungen für Philosophie. Ein britischer Kulturanthropologe, Robin Horton, der lange Jahre an der Universität von Ife (Nigeria) gearbeitet hat und heute nigerianischer Staatsbürger ist, hielt es für nötig, den Kollegen, die daran arbeiteten, zu bescheinigen, dass es afrikanische Philosophie nicht nur nicht gab und nicht gibt, sondern auch in der Zukunft nicht geben wird, weil das afrikanische Denken zu Logik und Epistemologie nicht fähig sei. Was er für möglich hielt, sei allenfalls »Philosophie des >afrikanischen traditionellen Denkens<«[27]

Horton griff damit in eine Debatte darüber ein, welches Selbstverständnis der Philosophie für die Arbeit an den entstehenden universitären Instituten und Abteilungen vorausgesetzt werden kann. Während Leo Apostel (Gent) seinem Buch über Afrikanische Philosophie im Untertitel die Frage mitgibt: »Mythos oder Realität?«[28] gebraucht Paulin J. Hountondji (Cotonou) sogleich die affirmative Formulierung: »Mythos und Realität«.[29] L. Apostel vertritt einen interdisziplinären Forschungsansatz, von dem aus er die Möglichkeit der Ermittlung einer afrikanischen Philosophie zu verteidigen sucht, die implizit in den Sprachen und Weltbildern der afrikanischen Völker enthalten ist. Er hält an diesem Ansatz fest, auch nachdem er Teile des Werkes von P.J. Hountondji kennengelernt hat, der afrikanische Philosophie als Aufgabe und Programm der Afrikaner selbst begreift, an deren Ausführung durch ihn selbst und andere gearbeitet wird. Texte, die von Afrikanern verfasst sind und die von ihnen als philosophisch beschrieben werden, gehören nach Hountondji zur afrikanischen Philosophie. Dagegen hält er es für einen Mythos, vom »kollektiven« afrikanischen Denken zu sagen, dass es philosophisch sei, wie es von europäischen Ethnologen und Ethnophilosophen häufig getan worden ist. Dies führt ihn zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Ethnophilosophie, auf die weiter unten (Philosophische Probleme II: »Geschichte« und XV: Noch einmal: »Zur Kritik der Ethnophilosophie«) eingegangen wird. Die metaphilosophische Besinnung darauf, was Philosophie in Afrika ist und sein kann, hat seitdem eine ganze Phase ihrer Geschichte bestimmt. Darüber wird ebenfalls in Philosophische Probleme II Genaueres berichtet.

Was uns hier beschäftigen soll, ist das Problem, das darin zum Ausdruck kommt, dass die Frage: Gibt es afrikanische Philosophie? überhaupt gestellt wird. Dass die Stellungnahme Hortons sein neokoloniales Denken ausdrückt, ist leicht ersichtlich. Damit steht er selbstverständlich nicht allein.[30] Ich frage mich, ob nicht auch in den Beiträgen der prominenten afrikanischen Philosophen selbst eine zu starke Orientierung am Philosophie-Verständnis der europäischen und US-amerikanischen Vertreter dieses Faches vorherrscht. Mir fällt dies an dem erwähnten Buch Hountondjis auf, das den Philosophiebegriff Althussers voraussetzt, wenn er davon ausgeht, dass Philosophie ein Kommentar zur Wissenschaft (im strengen Sinn dieses Wortes) sei, dass sie wie diese in ihrer Argumentation »rigoros« sein müsse. Kwasi Wiredu (Accra) stellt Ansprüche an die afrikanische Philosophie, die deutlich seine Schulung in der anglo-amerikanischen analytischen Denkweise erkennen lassen. Er verlangt, dass sie »kritische, individuelle Reflexion« sein müsse, »unter Verwendung logischer und konzeptueller Techniken«.[31] Auch Peter O. Bodunrin (Ibadan) ist darin sehr entschieden.[32] In einer 1985 bei H.O. Oruka in Nairobi eingereichten Dissertation werden die Argumente zusammengefasst: »persönlich« und »kritisch« stehen wieder an erster Stelle; dann folgt »reflexiv im kritischen Sinn«; »rigoros«; »begründend« bzw. »rechtfertigend«, was gesagt ist; »systematisch«; Philosophie ist eine Tätigkeit »zweiter Ordnung« oder »zweiter Stufe«; sie ist »ratiocinative thought«, was soviel heißen soll wie rational methodisch forschend.[33]

Diese Forderungen sind verständlich, wenn es darum geht, Philosophie-Abteilungen an den Universitäten einzurichten, die interdisziplinär und international ernstgenommen werden. Es kann zur Folge haben, dass der eigenen Vergangenheit keine Philosophie zuerkannt wird. Diese Folgerung ziehen Oruka und seine Schüler indessen nicht mit ihrem Konzept der »sage-philosophy«. Sie unterscheiden für die Geschichte der afrikanischen Völker eine traditionelle, auf dem Niveau des »common sense« bleibende »folk-philosophy« und eine »sage-philosophy«, die den oben zusammengefassten Kriterien genügt. Darüber wird an späteren Stellen noch Näheres zu sagen sein. Schließlich hat Kwame Gyekye (Accra) mit aller Umsicht und Gründlichkeit, die selbst wiederum die Schulung an US-amerikanischen Universitäten erkennen lässt, die These verteidigt, dass die traditionelle Weisheitslehre Afrikas und das traditionelle afrikanische Denken philosophisch im vollen Sinn des Wortes sind. Er richtet seinen vergleichenden Blick bewusst nicht nur auf Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch auf die islamischen Länder, Indien, China und Japan.[34]

Die afrikanische Philosophie kann ihr Bestehen auch für Oruka und für Gyekye schließlich rechtfertigen, indem sie westlichen Massstäben entspricht. Ein interkultureller Standpunkt, wie er von uns vorausgesetzt wird, wird nicht eingenommen. Die kulturell gebundene Philosophie ist für die genannten afrikanischen Philosophen ohnehin nicht die wahre, eigentliche Philosophie. An vielen Stellen finde ich den Gedanken einer transkulturellen, universalen Philosophie.[35] Es ist nicht ganz klar, was dazu gehört, aber wie es scheint ist die westliche Philosophie in ihrer heutigen Gestalt den »Fragen und Begriffen von universaler Bedeutung« näher. Sind es logisch-epistemologische Fragen? Jedenfalls erscheint die traditionelle Philosophie inadäquat im Hinblick auf Exaktheit, Systematizität, Kohärenz. Es wird als ein Vorteil des afrikanischen Studenten gesehen, dass er nicht in der eigenen Sprache philosophieren lernt, weil ihm dies ermögliche, leichter zu den allgemeinen Konzeptionen durchzustoßen, die »begraben sind unter den Formen und Wendungen einer gegebenen Sprache«.[36] Wird man vom überwiegenden Teil der afrikanischen Philosophie, wie sie sich heute an den Universitäten darstellt, sagen können, was J.C. Thomas über den ghanesischen Philosophen und Politiker J.B. Danquah geschrieben hat: er präsentiere afrikanische Ideen »in einem europäischen Gewand«?[37]

In der Selbstexplikation der vorherrschenden afrikanischen Philosophie wird meines Erachtens in einer zu verdinglichten Weise darüber gesprochen, was Philosophie ist. Es scheint festzustehen, was Philosophie letztlich ist und zu sein hat. Diesem Ziel ordnen die genannten Philosophen sich unter. Ich gehe indessen davon aus, dass die Wesensfrage: Was ist Philosophie? nicht beantwortet werden kann. Wollte man eine Antwort versuchen, würde sie tautologisch ausfallen: Philosophie ist, was Philosophen tun, was von der Gemeinschaft der Philosophen auf die Dauer als Philosophie anerkannt wird. Die gegenwärtige Gestalt der Philosophie als Universitätsfach ist stark durch die westliche akademische Tradition geprägt. Wenn die Philosophie mehr interkulturell betrachtet wird, indem Philosophien anderer Teile der Welt und anderer Traditionen mit ins Gespräch gebracht werden, wird der internationale philosophische Diskurs verändert. Das ergibt eine größere Offenheit für traditionelle afrikanische Weisheitslehre. Als solche ist sie ohnehin nur noch in Resten lebendig. Aber sie kann das Philosophie-Betreiben, das heute in Afrika geschieht, mit bestimmen.

Man wird sagen können, dass Philosophie sich im Medium des Denkens artikuliert. Die Probleme der Zeit im Medium des Denkens erfassen und ausdrücken, wäre dann das Geschäft der Philosophen. Das hat jede Zeit in der ihr eigenen Weise zu tun. Die Denkarbeit geschieht in der Sprache und an der Sprache. Deshalb ist es verfehlt, sie von der Sprache ablösen zu wollen. Die Richtung dieser Arbeit möchte ich als Verdichtung beschreiben. Dieses Geschehen hat Hegel die »Anstrengung des Begriffs« genannt. Es ist ein Selbstmißverständnis der philosophischen Denkarbeit, wenn er die darin entstehende Verdichtung der Sprache als Tendenz zum »reinen« Denken aufgefasst hat. Wenn das reine Denken transverbal und damit transkulturell wäre, wie sollte es sich dann artikulieren? Wiredu selbst zitiert Russells History of Western Philosophy (1967) mit Zustimmung, in der der Philosoph als ein Mann beschrieben wird, in dem die Gedanken und Gefühle seiner Zeit sich »kristallisiert und konzentriert« haben.[38] Es entspricht deshalb unserer Auffassung nach dem Philosophieren, wenn es sich auf seine kulturell gebundenen Möglichkeiten beschränkt und statt ein transkulturelles Ideal anzustreben die interkulturelle Kommunikation verstärkt. Das Ziel kann dann nicht mehr sein, den anderen für die eigene Position zu gewinnen, sondern ihn in seiner Andersheit gelten zu lassen.

Natürlich will ich nicht bestreiten, was Wiredu sagt: »Alle Entwicklungsländer sind bemüht, ihren jeweiligen Lebensstandard zu verbessern durch Anwendung der Wissenschaft, und jegliche Philosophie, die nicht durchtränkt ist mit dem Geist der Wissenschaft, kann nicht hoffen, dies auszudrücken.«[39] Kein Zweifel, Afrika braucht Exaktheit, Systematizität und Kohärenz. Ist das aber genug? Sicher ist die Verbesserung des Lebensstandards nicht alles, obwohl heutzutage nahezu weltweit gilt: wer hohen Lebensstandard hat, will ihn behalten, wer ihn nicht hat, will ihn erringen. Trotzdem bleiben viele Fragen: Was sind die Schattenseiten der Industrialisierung, Technisierung, Verstädterung? Welche menschlichen Probleme bleiben ungelöst, wenn die technische und zivilisatorische Entwicklung einen solchen Vorrang erhält? Wie sollen die Anachronismen von wissenschaftlicher Erziehung und traditioneller Religion und Medizin aufgelöst werden? Welche Philosophie und welche Ethik kann an die Stelle der traditionellen Orthodoxien treten, um den halb seiner Bindungen an den Stamm entwachsenen jungen Afrikaner davor zu bewahren, dass er ein Opfer des plattesten Materialismus, des skrupellosesten Nihilismus wird? Wissenschaftlichkeit und exaktes, rigoroses Denken allein helfen hier nicht. All diese Fragen, die auch in Wiredus Buch eine Rolle spielen, sollten eine Offenheit nahelegen für einen Beitrag der traditionellen Weisheitslehren zur Lösung der philosophischen Aufgaben in der heutigen Situation Afrikas.[40]

Abschließend möchte ich A. Ndaw (aus Dakar/Senegal) zustimmen, wenn er schreibt: »Der Weg, um zu einer afrikanischen Philosophie zu kommen, besteht darin, über afrikanische Themen und Probleme zu philosophieren.«[41] Dies wird ergänzt durch den Standpunkt einiger Philosophen aus Lagos (Campbell Shittu Momoh, Jim J. Unah u.a.), die im Gegensatz zu Hountondji betonen, dass das »Kriterium für Afrikanität« nicht im geographischen Ursprung des Autors, sondern in der »Spezifizität des Inhalts« gelegen ist.[42] Sie grenzen sich damit auch ab von Wiredu und Bodunrin, die sie zusammen mit Odera Oruka, einem Philosophen aus Nairobi, als »afrikanische Vertreter des Logischen Neopositivismus« einordnen.[43] Die einseitige Orientierung dieser Philosophen an der westlichen Philosophie wird bloßgestellt. Es geht für mein Gefühl zu weit, wenn sie beschuldigt werden, mit G. Blocker von der Ohio Universität in USA, der einige Zeit als »visiting professor« an der Universität von Ibadan (Nigeria) verbracht hat, gemeinsame Sache zu machen. Blocker gesteht den westlich orientierten Philosophen in Afrika zwar zu, dass sie auf dem Weg sind, in Afrika eine akzeptable Philosophie zu entwickeln, über das traditionelle Denken der afrikanischen Völker urteilt er jedoch ähnlich wie Horton. Sein Eurozentrismus (unter Einschluß der USA) entlarvt sich selbst, wenn er schreibt, dass Philosophie ein Typ von Denken ist, der »für die Tradition von Plato bis Strawson kennzeichnend ist«, so dass er ex definitione nicht auf traditionelles afrikanisches Denken angewendet werden kann.[44]

 

Tagebuchaufzeichnung I »Afrika ist anders«

Nairobi, 3.8.1989

Morgens um 4.30 Uhr landet ein riesiger Jumbo-Jet von Athen kommend auf dem Flughafen von Nairobi. Eine Masse europäischer Touristen begibt sich zur Abfertigung. In einer Ecke des Flughafens ist eine kleine Bar. Dort trinke ich einen Kaffee, esse ein Sandwich und friere. In einer Art Tropenanzug (dünner Khaki-Stoff) ist es um diese Tageszeit im August in Nairobi, das auf der südlichen Erdhalbkugel und immerhin 1660 m über dem Meeresspiegel liegt, viel zu kalt. Einige Touristen, die ebenfalls die Bar frequentieren, haben dasselbe Problem. Kurz nach 8 Uhr nehme ich ein Taxi und fahre zur Universität.

Zuerst gehe ich zum Büro des Vicechancellor, der mir in einem Brief, in dem ich zum visiting professor ernannt wurde, auch »rent-free accomodation« zugesagt hatte. Die Dame im Vorzimmer verweist mich an den Chairman des Department of Philosophy, der mir laut Brief meine »Pflichten vorschreiben« soll und der schließlich mein Gastgeber ist. Von seiner Sekretärin erfahre ich, dass er diese ganze Woche nicht ins Institut komme, da er an einer anderen Universität in Kenia Prüfungsverpflichtungen habe. Die Sekretärin kennt meinen Namen aus den Briefen an mich und versucht nun, vom Augenblick meines körperlichen Erscheinens an, für meine Unterbringung zu sorgen. Mir wird klar, dass der Druck meiner physischen Anwesenheit nötig ist, um, was auf dem Papier seit Wochen geregelt ist, in die Tat umsetzen zu können. Ihre erste Handlung ist, mir eine Zeitung zu holen. Während ich lese, kommt zufällig der Kaplan der katholischen Universitätsgemeinde herein, ein Ire, der seit einigen Jahren auch Lehrveranstaltungen im Fach Philosophie abhält. Er erkundigt sich, worauf ich warte. Dann schlägt die Sekretärin vor, von seinem Zimmer aus zu telephonieren. Denn ihr Apparat wird die ganze Zeit von einer anderen Person benutzt, die endlos, immer wieder laut lachend, mit jemand am anderen Ende der Leitung spricht. Die Zeitung hatte offenbar vor allem den Zweck, die Zeit zu überbrücken, bis sie in der Lage sein würde, eventuell ihr eigenes Telephon zu gebrauchen. Da das Telephon des Kaplans nicht in Ordnung ist, kehren wir ins Sekretariat des Chairman zurück, wo das Telephon inzwischen frei ist. Nach vier oder fünf Gesprächen stellt sich heraus, dass auf dem Campus keine Möglichkeit für meine Unterbringung besteht, obwohl der Verantwortliche für »housing« einen Durchschlag meines Ernennungsbriefes erhalten hatte.

Der Kaplan und Kollege europäischer Herkunft bietet nun an, dass ich mit ihm gehen solle, um in einem Zimmer des katholischen Pastorats ganz in der Nähe der Universität etwas auszuruhen und zu warten. Dort bekomme ich auch ein ausgezeichnetes Frühstück. Gegen l Uhr geht er mit mir zum United Kenya Club, ebenfalls benachbart gelegen, wo wir Lunch nehmen wollen. Im Haus des Clubs ist der stellvertretende Chairman gerade dabei zu verhandeln, ob ich dort vorübergehend logieren könne. Ich werde zum Clubmitglied auf Zeit gemacht und erhalte ein Zimmer zugewiesen. Beim Lunch, den nun der stellvertretende Chairman mit mir nimmt, sagt dieser, er wolle versuchen, das zeitlich begrenzte Logis immer wieder zu verlängern, so dass ich möglichst die ganzen zwei Monate meiner Gastprofessur im Club bleiben könne.

Von diesem Moment an geht alles im gewohnten Rahmen. Wir besprechen gemeinsame Vorlesungen über zeitgenössische Philosophie, die er bisher mit einem anderen Kollegen zusammen hält. Die Vorlesung umfasst an vier Tagen der Woche je eine Stunde und zusätzlich an zwei Tagen »tutorials«, bei denen seine Gruppe noch einmal geteilt werden könne. Ferner macht er mich neugierig auf eine Vorlesung über Afrikanische Philosophie, die zweite, die zur Zeit im Department gehalten wird. Der Modus gemeinsamer Vorlesungen entspricht ganz meinen Wünschen, da ich weder beliebige eigene Vorlesungen halten noch als Zuhörer in einer Vorlesung eines afrikanischen Kollegen sitzen will, gewissermassen mit Notizblock und Bleistift afrikanische Philosophie erforschend. Meine Neugierde auf die Vorlesung zu diesem Thema ist allerdings so groß, dass ich doch zumindest hereinhören möchte, wenn der Kollege seine Zustimmung dazu gibt.

Am Nachmittag schreibe ich einige Briefe und will diese dann zur Post bringen. Der Wächter beim Eingang des Clubgeländes erklärt mir nicht umständlich, wie ich zur Post gehen müsse, sondern führt mich, seinen Posten verlassend und auf ein Trinkgeld hoffend, persönlich dorthin. Es folgt ein Bummel durch die Stadt, kleine Einkäufe, unter anderem ein Stadtplan von Nairobi, der das Zurückfinden zum Clubhaus sehr erleichtert. Das Dinner ist gut und umfangreich; es wird mir als neuem Clubmitglied gratis angeboten. Insgesamt würde ich die erste Lektion, die ich auf afrikanischem Boden lerne, so zusammenfassen: »You have to care for yourself.« Die Erfahrung des Andersseins, die darin gemacht ist, hat nichts mit romantischer Idealisierung zu tun. Das dürfte deutlich sein. Sie steht für das Unerwartete, Nichtnachvollziehbare. Es zeigt sich, daf3 sie nicht notwendigerweise angenehm sein muss.

 

Notiz I Zur Organisation des Faches Philosophie in Kenia

Kenia hat vier Universitäten; drei besitzen ein Department of Philosophy:die University of Nairobi, in der Stadt selbst gelegen, die Kenyatta University, in der Umgebung der Stadt Nairobi, und die Moi University, in Eldoret etwa 350 km nordwestlich von Nairobi. Außerdem gibt es in der Nähe von Nairobi noch ein College of Education and External Studies (eine Art Fernuniversität), wo auch ein Philosophie-Department besteht. Das Department of Philosophy der University of Nairobi gehört nach den Angaben des Universitätskalenders 1988-89 zur Faculty of Arts. Es beschäftigt 8 Personen mit Lehraufgaben: l Professor, 1 Associate professor, 2 Senior lecturers, 2 Lecturers, 1 Parttime lecturer, 1 Tutorial fellow.

Ein Jahrgang beginnende Studenten umfasst etwa 300 Personen.

Das Philosophiestudium ist folgendermassen aufgebaut:

3 Jahre bis zum ersten Grad BA(Bachelor of Arts) und weitere 2 Jahre bis zum MA (Master of Arts).

1. Jahr: Probleme der Philosophie
Logik
Philosophie der Religion (in Zusammenarbeit mit dem Department of Religious Studies. Dieses Fach wird kaum noch gewählt.)
2. Jahr: Ethik
Geschichte der Philosophie
Epistemologie
Philosophie der Sozialwissenschaften
3. Jahr: Probleme der Metaphysik
Zeitgenössische Philosophie
Afrikanische Sozialphilosophie
Wissenschaftsphilosophie

Im ersten Jahr muss der Student 2 der 3 angebotenen Kurse (Fächer) mitmachen. Im zweiten und dritten Jahr muss er 3 der 4 angebotenen Kurse folgen; 1 Kurs kann auch aus dem Angebot des Department of Religious Studies gewählt werden.

Im MA-Studium besteht ungefähr dasselbe Fächerangebot auf fortgeschrittenem Niveau, darunter auch Afrikanische Philosophie. Nur etwa 6-10 Studenten im Jahr können der knappen Stipendien wegen das MA-Studium beginnen, einige davon »self-sponsored«, d.h. ohne staatliches Stipendium. Dabei muss man berücksichtigen, dass jeder Philosophiestudent während der ersten 3 Jahre noch ein anderes Fach hat und meist in diesem Fach den MA-Abschluß anstrebt.

Im ersten Jahr des MA-Studiums muss der Student 4 von 8 angebotenen Kursen mitmachen. Das Fach Philosophie der Religion, von einen Mitglied des Department of Philosophy gegeben, findet hier mehr Interesse als im BA-Studium. Im zweiten Jahr wird die Examenarbeit (thesis) geschrieben.

Das Studienjahr läuft von Juni bis Mai ohne größere Unterbrechung. Aber die Kurse werden nicht ganzjährig gegeben. So finden im August und September lediglich zwei Kurse für Studenten im 3. Jahr statt: Zeitgenössische Philosophie und Afrikanische Sozialphilosophie, an denen etwa 175 bzw. 25 Studenten teilnehmen.

Femer gibt es eine »Philosophical Association of Kenya«, deren Vorsitzender der Chairman des Department of Philosophy ist, und eine »University of Nairobi. Philosophical Society«, die von den Studenten gegründet ist und getragen wird und die jeden Montagabend ein Diskussionsveranstaltung organisiert. Am 14.8.1989 waren etwa 50 Studenten und 2 Dozenten anwesend. Das Thema war: »Strafe«, das von allen Seiten beleuchtet und durchaus kontrovers diskutiert wurde.

 

Philosophische Probleme II Zur Geschichte der afrikanischen Philosophie

Henry Odera Oruka, Professor für Philosophie an der Universität von Nairobi, ist Inaugurator der Erforschung der Sage-philosophy (traditionelle Weisheitslehre, die nicht »nur« Volksweisheit ist, sondern den Massstäben philosophischen Denkens entspricht). Als A. Diemer 1978 auf dem von ihm organisierten Weltkonpcß für Philosophie in Düsseldorf zum erstenmal ein Symposium über Afrikanische Philosophie einrichtete, referierte Oruka bereits über »Vier Strömungen in der aktuellen Afrikanischen Philosophie«. (1) Ethnophilosophie, (2) Philosophische Weisheitslehren, (3) Nationalistisch-ideologische Philosophie und (4) Professionelle akademische Philosophie.[45] In einem Artikel des Buches von F.M. Wimmer: »Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika« über »Grundlegende Fragen der afrikanischen >Sage-Philosophy«< hat er die Reihenfolge geändert und diese Einteilung als »offene Klassifikation« gekennzeichnet.[46] Sein Mitarbeiter am Department of Philosophy, D.A. Masolo, kommt auf der Grundlage dieser Einteilung zu einer »Geschichte der Afrikanischen Philosophie«, die von 1930 bis 1980 reicht.[47]

Diese »Geschichte« soll hier nicht geschrieben oder auch nur nachgezeichnet werden. Es geht lediglich um eine kurze, schematische Basisinformation. Mit Ethnophilosophie ist zunächst einmal ethnologische und ethnographische Literatur gemeint, sofern sie sich mit dem Denken und der (religiösen) Vorstellungswelt afrikanischer »ethnischer Gruppen« befasst. Hierher gehören die Forschungen von L. Levy-Bruhl, M. Mauss, M. Griaule, E.E. Evans Pritchard und auch noch C. Levi-Strauss. Die methodischen Probleme dieser Art von Literatur sind beinahe unüberwindbar groß. Am prägnantesten sind sie in dem Ausspruch des Häuptlings einer Südsee-Insel zusammengefasst: »Wenn die Ethnologen kommen, verlassen die Götter die Insel.« Es gibt Kulturen, die objektivierender Beobachtung und Beschreibung nicht zugänglich sind. Sie verändern ihren Charakter grundlegend in dem Moment, in dem sie beobachtet und beschrieben werden. Hinzukommt das vorausgesetzte unangemessene hierarchische Verhältnis zwischen der europäischen und diesen traditionell lebenden Kulturen. Dieses Verhältnis kann verschiedene Gestalt annehmen: von Levy-Bruhls These, dass die Afrikaner primitiv und zu rationalem Denken nicht imstande sind, bis hin zum Eurozentrismus im Gewand des Anti-Eurozentrismus, wie er bei Lévi-Strauss auftritt, wenn er die Unschuld und Unverdorbenheit der Wilden preist. Dabei kann hier vernachlässigt werden, dass sich Lévi-Strauss vor allem auf Indianerkulturen der beiden Amerikas zur Stützung seiner allgemeinen Thesen bezieht.

Als Philosophie tritt die Ethnophilosophie in bezug auf Afrika zum erstenmal auf mit dem berühmten Buch des belgischen Missionars Placide Tempels: Philosophie der Bantu.[48] Die Wirklichkeit ist nicht statisch oder gegenständlich, sondern ein dynamisches Geflecht »lebendiger Kräfte«, das sich ständig verändert, indem bestimmte Kräfte stärker werden und andere schwächer. Sein wird als Kraft gedacht. Entgegen den Auffassungen einiger afrikanischer Autoren gibt es keinen Grund anzunehmen, dass eine solche »ontologische« Konzeption weniger wert ist als diejenige der europäischen Philosophiegeschichte, in der Sein als solches gedacht wird. Dieses Denken ist Ethnophilosophie, weil es nicht die Ideen und Auffassungen bestimmter Individuen wiedergibt, die diese selbst als philosophisch oder als Weisheitslehre bezeichnen. Das Denksystem der Bantu wird aus ihrer Sprache ermittelt. Das Ziel ist letztlich, darin Anknüpfungspunkte für die Missionierung zu finden. Dieser letztere Aspekt wird von Marcien Towa, einem Philosophen aus Kamerun, sehr treffend nicht als List der Vernunft, sondern als »List des Glaubens« charakterisiert.[49] Insbesondere Tempels' These von einem »höchsten Wesen«, das an der Spitze der »lebendigen Kräfte« steht und auf den christlichen Gott verweist, macht Towa skeptisch.

Auch von anderer Seite ist Tempels kritisiert worden. Er spricht von Bantu-Philosophie und geht von einer einzigen Bantu-Sprache, dem Baluba, aus. Es gibt aber weit mehr als 180 verschiedene Sprachen, die alle das Kennzeichen bestimmter Klassenpräfixe für die Substantive haben (die dann auch den anderen Wörtern im Satz vorangestellt werden) und die als Kriterium dafür dienen, ob ein Stamm zu den Bantu gehört.[50] Diesen Mangel hat Alexis Kagame, ebenfalls katholischer Priester, aber afrikanischer Herkunft, wettgemacht, indem er die »Ontologie der Bantu Zentralafrikas« auf umfassende vergleichende Sprachforschungen zu stützen sucht. Damit ist freilich noch stets nichts über das gesamte Afrika südlich der Sahara gesagt. Kagames Denken ist ferner stark von der europäischen Scholastik geprägt. Deren Kategoriensystem mit den zugehörigen Ordnungsfaktoren wird auf die Bantu-Sprachen angewendet und von diesen her modifiziert. Das Grundmodell ist die Seinspyramide mit Gott als höchstem Seienden an der Spitze. Der wichtige Befund, dass der Stamm -ntu, der Sein bedeutet, als Wort nicht vorkommt, sondern nur als (durch ein Klassenpräfix) immer schon bestimmtes Sein, wird nicht näher gedeutet:

        »MUntu =Existierendes mit Intelligenz (Mensch)

   KIntu =Existierendes ohne Intelligenz (Ding)

          HAntu = lokalisierendes Existierendes (Ort, Zeit)

   KUntu= modales Existierendes (Art und Weise des Existierenden)«. [51]

Verweist dieser Befund nicht auf einen in sich pluralen Seinsbegriff, der schlecht zu dem Gedanken Gottes als einem »höchsten Seienden« (summum ens) passt, das an der Spitze der Pyramide steht?

Tempels' und Kagames Ethnophilosophie, ebenso wie diejenige Jahns und Mbitis werden noch aus anderen Gründen heftig kritisiert.[52] In dieser Hinsicht ist Paulin J. Hountondji führend, der einen Lehrstuhl für Philosophie in Cotonou (Benin) innehat. Er lehnt diese Texte nicht als kryptotheologisch ab wie Towa , sondern als nicht kritisch auf dem Niveau einer Reflexion zweiter Stufe und als nicht auf Wissenschaft bezogen und deshalb unphilosophisch. Dabei ist aber Hountondjis Philosophiebegriff selbst einer Einseitigkeit verhaftet, nämlich der Auffassung Althussers, der Philosophie als eine Theorie der Theorie, als Kommentar zur Wissenschaft bezeichnet. Seine These ist von daher etwas zu scharf, aber in der Sache deutlich. Die Begriffszusammenhänge der Ethnophilosophie, die diese Philosophen kollektiv den Afrikanern zuschreiben, stammen nach Hountondji letztlich von ihnen selbst. In der Einleitung zur englischen Übersetzung des Buches von Hountondji nennt A. Irele dessen kritische Behandlung der Ethnophilosophie wegen ihrer Gründlichheit und Schärfe: »Kritik der ethnophilosophischen Vernunft«.[53]

Die nationalistisch-ideologische Philosophie urteilt positiver über die Ethnophilosophie als später Hountondji. Es passt in das Konzept der Überlegenheit der Schwarzen über die Weißen, wie es von Leopold S. Senghor, dem ehemaligen Präsidenten von Senegal, entwickelt wird, dass jene seit jeher über eine so beeindruckende Philosophie bzw. Ontologie verfügten. Im übrigen siedelt Senghor die Vorteile der Afrikaner gegenüber den Europäern nicht auf dem Gebiet des Denkens an.[54] Seine berühmte These, dass die Afrikaner emotional und die Europäer rational stärker seien, ist häufig zitiert und kritisiert worden; selbstverständlich auch von afrikanischen Philosophen. Den Satz: »Emotion is as much Black as reason is Hellenic«, hat er freilich selbst später so interpretiert, dass er in beiden Fällen von Vernunft, von einer emotiven und einer diskursiven, spricht. Die großen Strömungen der »Negritude« und der »Authenticitb« bilden den Hintergrund für Senghors Thesen. Zu dieser Strömung gehören auch: Aime Cesaire, Aloune Diop und Alain Locke.

Als Reaktion auf Auffassungen, wie die erwähnten von Levy-Bruhl oder gängige evolutionistische Theorien wie die von E.B. Tylor, dass die Afrikaner in ihnr Entwicklung auf einer viel niedrigeren Kulturstufe stehen als die Europäer,[55] sind diese Strömungen sehr verständlich. Sie proklamieren nun die größem Tiefe, Kraft und Schönheit der schwarzen Menschen und ihrer Kultur. Sartre hat in seiner berühmten Einleitung (»Schwarzer Orpheus«) zu Senghors Anthologie der Poesie Schwarz-Afrikas und Madagaskars (Paris 1972) die Geschichte der Negritude so interpretiert, dass sie eine notwendige Antwort ist auf die immer weiter gehende kapitalistische Akkumulation in Europa und die Verarmung der afrikanischen Länder. Er deutet sie jedoch als vorübergehendes Stadium, das selbst dem Rassismus verhaftet bleibt. Das ist der Kontext des vielzitierten »antirassistischen Rassismus« dieser Bewegung. Von der Negritude führt der Weg nach Sartre über den Marxismus zu einer universalen Zivilisation.[56] Senghor hat diese Relavitierung der Negritude bestritten und von ihr aus eine kritische Rezeption des Marxismus verlangt, die vor allem das deterministische Element beiseitelässt: »Afrika braucht Freiheit«. Durch Alain Locke, einen schwarzen Amerikaner, der von Hannah Arendt beeinflusst war, wird die Negritude weiter entwickelt zu einer Konzeption der Koexistenz verschiedener Kulturen.[57]

Sowohl Sartres als auch Senghors Konzeption werden kritisch diskutiert von F. Fanon. Dieser auf Französisch-Martinique geborene und später im Freiheitskampf der Algerier gegen Frankreich engagierte Philosoph rechtfertigt die revolutionäre Gewalt der Freiheitskämpfer als Gegengewalt, die durch den Kolonialismus verursacht ist.[58] Sartres und Senghors Thesen zur Negritude sucht er auf den sozialen und historischen Kontext des Kolonialismus und der Dekolonisierung zu beziehen. Er kritisiert Sartres Tendenz, die schließlich auf einen Universalismus gerichtet ist, zu dem der Marxismus das Übergangsstadiqm bildet. Senghor übersieht nach Fanon, dass die biologisch-rassischen Kennzeichen sozial, politisch und historisch überformt sind und nicht als solche erfasst werden können. Der bereits erwähnte Philosoph aus Kamerun, M. Towa, hat Fanons Gedanken weiter entwickelt und gelangt zu der Forderung einer expliziten sozialen und politischen Funktion der Philosophie.[59]

Andere Staatsoberhäupter entwickeln eine wie sie sagen in Afrika beheimatete humanistische Ideologie für ihre Länder, wie Jomo Kenyatta für Kenya, Kwame Nkrumah für Ghana, Julius Nyerere für Tansania oder Kenneth Kaunda für Sambia.[60] Obgleich zum Beispiel Kaunda daran festhält, dass der Humanismus Sambias offizielle Philosophie ist, kann man davon ausgehen, dass diese Strömung eher weltanschaulich-politisch als philosophisch im eigentlichen Sinn aufzufassen ist. Die Theorien dieser Staatsmänner sind weitgehend von der Wirklichkeit überholt.[61] Das bekannteste Beispiel ist wohl Nyereres Ujamaa-Gedanke und das darauf gegründete Experiment. Dabei lässt sich eine gewisse Parallelität der Entwicklung in Tansania und in Ghana konstatieren. Wie Nkrumah geht auch Nyerere davon aus, dass es einen eigenen direkten afrikanischen Weg zum Sozialismus gibt, der anschließt bei der Familien- und Dorfgemeinschaft (jamaa auf Kisuahili), die zu gemeinsamen agrarischen Produktionseinheiten fortgebildet worden können.

Dieser Gedanke erinnert an die Überlegungen der russischen Sozialdemokraten des vorigen Jahrhunderts, die zu dem berühmten Briefwechsel zwischen Vera Sassulitsch und Karl Marx geführt haben. Es ging darum, dass die russische Dorfgemeinschaft eine Art Urkommunismus und gegenseitige Hilfeleistung kennt, von der aus ein direkter Übergang zum Sozialismus/ Kommunismus möglich sein könne unter Umgehung der Zwischenstufen einer feudalen und kapitalistischen Produktionsweise. Nyerere beruft sich ähnlich wie Nkrumah und Kaunda auf den Gemeinschaftssinn in den afrikanischen Familien und Dörfern (»communalism«) und auf bestehende Formen von gemeinsamem Eigentum, weitgehender Gleichheit und kooperativer Produktion (vgl. Philosophische Probleme IX: »Kommunalismus« und »Philosophie des Wir«). Da sich der friedliche Übergang zum Sozialismus/Kommunismus nicht von selbst ergab, von den genannten Voraussetzungen aus, kommt Nkrumah zu der Forderung einer afrikanischen Revolution, die feudale Reste und andere Formen der Unfreiheit beiseite zu räumen habe. Nyerere zieht in der berühmten Arusha Declaration von 1967 die Folgerung, dass eine große Kampagne der Belehrung und Erziehung nötig sei, um Tansania zu einem sozialistischen Land im afrikanischen Sinn zu machen. Die ghanesische Revolution unter Nkrumah führte ebensowenig zu dem gewünschten Ergebnis, wie den Ujamaa-Dörfern, die teilweise durch Umsiedlung von Familien (Clans) gegen ihren Willens gegründet wurden, ökonomischer Erfolg oder das Entstehen einer neuen vorbildlichen Sozialstruktur beschieden war.[62] Diese Dörfer bestehen heute nur noch in einigen Fällen, wo sich auf Grund anderer Faktoren lebensfähige Einheiten gebildet haben. Eine weitere Kritik, insbesondere der Fachphilosophen, an den Entwürfen nationalistisch-ideologischer Theorien ist, daß sie ohne fachphilosophische Ausbildung oder Schulung entwickelt worden sind.

Die professionelle akademische Philosophie, die sich an den afrikanischen Universitäten entwickelt, die meist nach der Unabhängigkeit gegründet werden, rechnet mit der Ethnophilosophie und der nationalistisch-ideologischen Philosophie scharf ab. Zugleich sucht sie aber einen positiven Ideologiebegriff und den Bezug zur Praxis beizubehalten. Kwasi Wiredu strebt ein Gleichgewicht an zwischen kultureller Selbstbestätigung, die in der Zeit nach dem Kolonialismus unerlässlich ist, und einer nach vorn gerichteten Selbstkritik, die den Umschlag in antirassisti-schen Rassismus vermeidet. Bei aller Praxisbezogenheit wendet er sich gegen »oberflächliche Aufrufe zu unmittelbarer Rele-vanz«.[63] Wie überall sonst in der Welt hat die Philosophie in Afrika die Aufgabe, die intellektuellen Grundlagen des Lebens und der Gesellschaft zu erforschen. Die Praxisphilosophie von Marx wird dabei kritisch rezipiert, indem ihr Streben nach Wissenschaftlichkeit, das zum dogmatischen Marxismus in deutlichem Gegensatz steht, unterstrichen wird. Marx' Dialektik wird mit Peirces Fallibilismus und Deweys Pragmatismus verknüpft, um die kritische Haltung gegenüber der Tendenz zum Dogmatismus zu verstärken.

Für Ghana, das Land, aus dem Wiredu stammt, und die meisten englischsprachigen Länder, ist die Philosophie stark von der angelsächsischen analytischen Tradition bestimmt, während in den französischsprachigen Ländern meist Existentialismus und Phänomenologie im Vordergrund stehen. Diese Einflüsse beruhen ganz einfach darauf, dass die heutigen Professoren für Philosophie entweder, wenn Englisch die Verkehrssprache ihres Landes ist, in Großbritannien bzw. den Veminigten Staaten von Amerika oder, wenn Französisch Verkehrssprache ist, in Frankreich ihre philosophische Ausbildung erhalten haben. Für die Philosophen in Zaïre und der Republik Congo spielt auch Belgien eine nicht unwichtige Rolle. Da Philosophie und Religionslehre im afrikanischen Denken stark miteinander verwoben sind (an vielen Universitäten gab es während einiger Jahre und gibt es teilweise heute noch ein »Department of Religious Studies and Philosophy«), ist auch der Einfluss des Neothomismus nicht zu unterschätzen. Italien, insbesondere das Gregorianum in Rom, ist deshalb neben den genannten Ländern als Ausbildungsstätte der ersten Generation afrikanischer akademischer Philosophen zu erwähnen.

Auf den ersten Blick ist also professionelle akademische Philosophie in Afrika weit überwiegend westliche Philosophie mit der jeweiligen Einfärbung der ehemaligen Kolonialmacht bzw. der katholischen Theologie. Je mehr die afrikanischen Universitäten ihren eigenen Nachwuchs heranbilden, desto mehr wird deutlich, was Wiredu verlangt, dass die praktischen Probleme Afrikas in der Philosophie und durch die Philosophie intellektuell-begrifflich erfasst werden. Da diese Probleme in starkem Mass von der westlichen Welt hervorgerufen und beeinflusst sind, liegt es auf der Hand, dass die Philosophie sich der Mittel der westlichen Tradition bedient, um eine Orientierung im Denken zu ermöglichen. Wiredu und auch Hountondji haben ein deutliches Bewusstsein davon, dass sie mit dieser Aufgabe an einem Anfang stehen, dass sie etwas Neues schaffen müssen: als Afrikaner eine Welt begreifen, die in starkem Mass, vor allem ökonomisch, technologisch, politisch und religiös vom Westen beeinflusst wird und auch abhängig bleibt. Das letztere gilt freilich für die genannten Gebiete in unterschiedlicher Art und Weise und vom ersten zum letzten hin in stets geringerem Maß.

Die afrikanische Philosophie, die so entstehen soll, kann sich ihrer Besonderheit und Eigenheit versichern durch ihre Verwurzelung in den afrikanischen Kulturen und insbesondere in den Weisheitslehren der afrikanischen Völker. Wiredu macht auch in dieser Hinsicht einen deutlichen Anfang. Er bezieht sich auf Texte, in denen das Kulturerbe Ghanas und die religiöse Vorstellungswelt der Akan (einer der größten ethnischen Gruppen in Ghana) beschrieben wird. Das politische System der Kokomba (einer anderen ghanesischen Ethnie) als eines der »Stämme ohne Herrscher«, das deutlich vom gewohnten Bild abweicht, scheint ihm besonderer Erwähnung wert. Ferner verweist er auf Sprichwörter und Redewendungen der Stammessprachen, in denen Weisheit der Vorväter, intellektuelle Bewältigung von Problemen ihrer Zeit und ihrer Welt, gewissermassen sedimentiert sind.[64] Er erkennt diesen Texten und Traditionen indessen keinen eigenen philosophischen Status zu und bestreitet, dass sie einen doekten Beitrag zur Lösung der Probleme leisten können, vor denen die afrikanische Philosophie heute steht.

Ein Übergang von großer Tragweite ist in diesem Zusammenhang, dass mündliche Überlieferung umgesetzt wird in überwiegend schriftliche Kommunikations- und Traditionsformen. Dies wird von den afrikanischen Kollegen meist als Fortschritt erfahren. Es bietet in der Tat neue, andere Möglichkeiten. Aber auch dieser Fortschritt, wenn es einer ist, hat seinen Preis. Mit dem Aufkommen der Schrift verkümmert das Gedächtnis.[65]

Darüber wird an späterer Stelle noch ausführlicher zu sprechen sein (Philosophische Probleme IV: »Wider den Gegensatz: mündlich-schriftlich«). In Hinsicht auf die Einbeziehung des Erbes der traditionellen afrikanischen Kultur entwickelt Kwame Gyekye ein neues Konzept der afrikanischen Philosophie. Er hat den Rückgang in die traditionelle Weisheitslehre seines Stammes, der auch derjenige Wiredus ist, gründlich und gewissenhaft vollzogen. Seine Rekonstruktion des begrifflichen Rahmens des Denkens der Akan (»the Akan conceptual scheme«) ist auf Gespräche mit traditionellen Weisen und auf umfangreiche Heranziehung von Sprichwörtern und Redewendungen gegründet.[66] Er sucht annehmbar zu machen, dass die Philosophie, die aus diesen Quellen zu erheben ist, prinzipiell keinen geringeren Rang hat als die europäisch-amerikanischen, islamischen, indischen, chinesischen oder japanischen Philosophien. Meines Erachtens schreibt Gyekye noch zu sehr aus einer Position der Verteidigung, und er macht noch immer die Art der Elaboriertheit der Philosophie, die in Europa und US-Amerika besteht, zum Massstab für Qualität. Eine Philosophie ist aber genau so viel wert, wie sie im Medium des Denkens den Problemen ihrer Zeit und Welt Ausdruck gibt und dadurch zur Orientierung, zum Finden von Lösungen im Blick auf diese Probleme einen Beitrag leistet. Für Gyekye ist die Situation der Philosophie im heutigen Afrika nicht der Beginn der afrikanischen Philosophie überhaupt, sondern der Beginn einer neuen Phase innerhalb einer philosophia perennis afrikanischer Tradition.

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt dieser ersten Problem-Übersicht angekommen: bei der sage-philosophy oder den traditionellen Weisheirslehren. Die Arbeit an der schriftlichen Aufzeichnung und Erhaltung traditioneller Weisheitslehren ist nicht die letzte, aktuellste Phase innerhalb der »Geschichte« des afrikanischen Philosophie. Sie ist eine bestimmte Arbeitsrichtung im Rahmen der professionellen akademischen Philosophie. Sie bedient sich teilweise der Methoden, die für die ethnologische Erforschung des Denkens und der Vorstellungswelt afrikanischer Völker kennzeichnend sind. Die Befragung der weisen Männer in verschiedenen Distrikten Kenias, die von Oruka und seinen Schülern (mit Tonbandgerät und Interviewtechnik) durchgeführt worden ist, wird von diesem selbst neben M. Griaule's Conversations with Ogotemmeli (Oxford 1965) gesetzt.[67] Es ist ihm indessen nicht hinreichend bewusst, dass er auf diese Weise auch mit den spezifischen Schwierigkeiten dieser Forschungsrichtung konfrontiert wird. Was passiert überhaupt, wenn eine jahrhundertelang mündlich überlieferte Weisheit nun aufgeschrieben und vom Aufschreiber als philosophische Weisheit oder auch als Nicht-Weisheit bzw. Volksweisheit qualifiziert wird? Jedenfalls wird sie nicht weiter mündlich überliefert. Das würde sie aber aus anderen Gründen höchstwahrscheinlich auch nicht, denn der Lebenszusammenhang dieser Art von Überlieferung stirbt ab. Also ist es besser, durch das Aufschreiben den Untergang der traditionellen Weisheitslehren zu beschleunigen und definitiv zu machen. Dann bleibt wenigstens etwas davon im Medium der schriftlichen Überlieferung erhalten. Es ist gewissermassen ein tragischer Konflikt. Diesem Konflikt würde man auch nicht entgehen, wenn man einen offenen Dialog mit den alten Weisen suchen und nachher Gedächtnisprotolle aufschreiben oder gar mit verstecktem Tonbandgerät zu Werk gehen würde (vgl. Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren«).

Die Erforschung der impliziten Weisheit der Sprichwörter und Redewendungen kann bei der Ethnophilosophie anschließen, insbesondere bei den tiefgründigen Forschungen Kagames. Die in der Sprache sedimentierte Weisheit kann freilich erst wirklich freigelegt und gewissermassen abgebaut werden, wenn sich rekonstruieren lässt, welche Problemsituation vorausgesetzt ist, die etwa in einem Sprichwort zur ihrer intellektuellen Erfassung gelangt ist. Kagame kann zum Beispiel aus der Art der Anwesenheit von Elementen in einer Bantu-Sprache, die nicht aus dieser Sprache selbst stammen, Schlüsse ziehen auf die Art und Weise, in der die Bantu bei ihren »Völkerwanderungen« vorher in einem Gebiet ansässige ethnische Gruppen oder später Hinzukommende gerade nicht unterworfen, sondern in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben.[68]

So kann man etwa aus dem Akan-Sprichwort: »Wenn du deinem Nachbarn keine neun gönnst, wirst du selbst keine zehn haben« nicht nur eine »Zurückweisung von ethischem Egoismus« ableiten,[69] sondern auf das Entstehen der Nachbarschaftssituation in dörflicher Gemeinschaft schließen, die allen Vorteile bringt, zugleich aber voraussetzt, dass der Nachbarschaftsfriede gewahrt bleibt, der andere auch seinen ihm zugemessenen Vorteil davon hat. Die frühere größere Feindseligkeit von mehr vereinzelt Lebenden oder nicht Seßhaften spiegelt sich noch im Konkurrenzgedanken: auch wenn du dem anderen das seine gönnst, strebe nach dem eigenen größeren Vorteil. Durch eine solche Rekonstruktion der Problemsituation und ihrer Erfassung im Sprichwort lässt sich von seinem Weisheitsgehalt vielleicht mehr sichtbar machen, als wenn es auf eine abstrakte ethische Maxime zurückgebracht wird. Hier liegen Zukunftsaufgaben der afrikanischen Philosophie, die ihr Eigenes in den internationalen philosophischen Diskurs einzubringen sucht. Einige methodische Fragen, die damit zusammenhängen, werden in Philosophische Probleme VIII: »Philosophie in Sprichwörtern« noch genauer erörtert.

Eine fünfte Strömung kann man den vier von Oruka erwähnten inzwischen hinzufügen, da die professionelle akademische Philosophie seit den siebziger Jahren vor allem Metaphilosophie gewesen ist und die Frage zu beantworten suchte: Was ist Philosophie? um von daher ihren eigenen Ort zu bestimmen: Was ist afrikanische Philosophie? Gehören die traditionellen Weisheitslehren dazu oder nicht? Wenn nein, ist afrikanische Philosophie dann noch etwas anderes als europäisch-amerikanische Philosophie, die von Afrikanern betrieben wird? Diese Strömung kann wie mir scheint als Phase innerhalb der afrikanischen Philosophie betrachtet werden, die inzwischen abgeschlossen ist. Durch die Auseinandersetzung mit der Ethnophilosophie und der nationalistisch-ideologischen Philosophie hat die professionelle akademische afrikanische Philosophie zu sich selbst gefunden. Das klingt ähnlich, ist aber etwas anderes als die These G. Blockers, die besagt: »Die Debatte über (das Bestehen einer) afrikanische(n) Philosophie bringt eine afrikanische Philosophie hervor.«[70] In dieser These ist Philosophie erneut mit akademischer Philosophie westlichen Stils gleichgesetzt.

Wir sehen Philosophie in einem breiteren Zusammenhang, der durch das Hinzutreten der afrikanischen Philosophie zur internationalen philosophischen Diskussion verändert und mit konstituiert wird. In diesem Sinn können wir der erwähnten Kritik der nigerianischen Philosophen aus Lagos an Blocker und den einseitig westlich orientierten afrikanischen Philosophen an den jungen Universitäten dieses Kontinents durchaus zustimmen (s. Philosophische Probleme I). Der Streit mag weitergehen, ob die traditionellen Weisheitslehren nun dazu gehören oder eine Art Vorgeschichte bilden. Unterdessen hat sich die afrikanische Philosophie inhaltlichen Problemen zugewandt, die nicht allein ihrer Situationsbestimmung dienen. Das Programm der Erforschung der »sage-philosophy« wird im Prinzip nicht in Frage gestellt. Die Heranziehung und Modifikation der westlichen Philosophie zur Erfassung der bestehenden Situation und ihrer raschen Veränderungen führt zu Erörterungen und Diskussionen von Problemen des Wahrheitsbegriffs, des Verhältnisses von Person und Gemeinschaft, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen, religionsphilosophischen und metaphysischen Erörterungen usw. Eigene Zeitschriften und Publikationsorgane haben sich herausgebildet und stellen ein Forum dar für diese Arbeit,[71] wobei afrikanische Philosophen selbstverständlich auch weiterhin in europäischen und US-amerikanischen Zeitschriften und Sammelbänden schreiben. Es wirft ein Licht auf die schwierigen Bedingungen, unter denen afrikanische Philosophen oft arbeiten müssen, dass die meisten ihrer Zeitschriften nach wenigen Jahren ihr Erscheinen einstellen mussten oder jahrelang keine neuen Hefte erscheinen konnten.

 

Tagebuchaufzeichnung II »Großstadt mit vielen Gesichtern«

Nairobi, 5.8.1989

Was ein deutscher Journalist schreibt, der vor 20 Jahren diesen Kontinent bereiste: »Afrika hat viele Gesichter«, gilt auch von dieser Stadt. Bei einem ersten ausführlichen Besuch der Innenstadt finde ich bestätigt, was im vorigen Jahr bei einem kurzen Aufenthalt mein Eindruck war: Dies alles gleicht einer westeuropäischen Großstadt, der Haus- und Strassenbau, die Geschäfte und das Warenangebot, der Autoverkehr, die sich drängenden Fußgänger, die Hotels und Restaurants. Dieses Nairobi konnte zum Eingangstor des westeuropäischen und US-amerikanischen Tourismus in Ostafrika werden. Dank dieses Tourismus kann es seinen Status erhalten und verbessern.

Zugleich ist diese Stadt auch wieder ganz anders als westliche Großstädte. Der Markt bietet tropische Früchte in gewaltiger Menge direkt vom Erzeuger: Apfelsinen, Zitronen, Ananas, Papayas, Mangos, Sauersäcke, Passionsfrüchte, Avocados, aber auch Erdbeeren, Kirschen und grüne runde Pflaumen. Wo wächst das bloß alles? Es gibt einen regen Strassenhandel, vor allem Souvenirs und Zeitungen. Als Weißer kann man sich oft nur schwer der Zudringlichkeit erwehren. Schuhputzer entpuppen sich oft genug als Schwarzhändler, die vor allem Dollars zu günstigem Kurs tauschen wollen. Dasselbe gilt von vielen Taxichauffeuren. Bettler versuchen notgedrungen an etwas Geld zu kommen, da es für die Armen keinerlei Sozialhilfe oder dergleichen gibt. Beim City Hall Garden Restaurant erkenne ich ein Mitglied jener Bande von Betrügern wieder, der ich im vorigen Jahr aufgesessen bin.

Es ist kaum zu glauben in diesem Teil der Welt, dass man hier alles, aber auch wirklich alles kaufen kann. Auch die Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft hat ihren Preis in Kenia-Schillingen oder, was noch besser ist, in US-Dollars. Für wen ist dieses gigantische Angebot bestimmt, außer für die Touristen und die weithin aus Indern bestehende, wohlhabende Mittelklasse? Wer von den Afrikanern schafft es, dazu zu gehören? Die Weißen hier haben allermeist einen abenteuerlich unternehmenden oder einen neokolonial überlegenen Gesichtsausdruck. Die Inder halten sich mit einer gewissen Vornehmheit zurück, lassen aber deutlich auch ein Stück Überheblichkeit erkennen. Vorläufig entspricht dem noch, dass die Afrikaner gern und häufig lachen. Als in der Nähe des Marktes ein Auto mit Säcken ausgeladen wird, in denen sich gemahlener Mais befindet, aus der das Grundnahrungsmittel »ugali«-Brei gemacht wird, bildet sich sogleich eine Schlange von 30 bis 40 Metern. Die Menschen, die hier stehen, sind ausschließlich Afrikaner, solche, die es nicht geschafft haben, dazu zu gehören. Das Lachen ist auch, zumindest vorübergehend, von ihren Gesichtern verschwunden.

Die Umgebung mit ihren Wildparks, ihren weniger erschlossenen Gebieten und ihren abenteuerlichen Strassen spiegelt sich im Angebot der Safaris, Autoverleihgeschäfte und Läden mit Ausrüstungen für expeditionsartige Ausflüge zum Mount Kenia, zum Turkana-See oder entlang dem landschaftlich einzigartigen Rift Valley (ostafrikanischer Grabenbruch). Beim Hilton oder New Stanley-Hotel sind Geschäfte für erlesenen Geschmack, die fast nur von Weißen besucht werden. Aber es gibt auch gemischte Hotels und in den Seitenstrassen zahllose kleinere und größere Hotels und Gaststätten, die so gut wie nie ein Weißer (oder Inder) betritt. Spezielle indische und orientalische Restaurants zeigen, dass die Apartheid nicht auf Südafrika beschränkt und differenzierter ist als nur eine Trennung zwischen schwarz und weiß. Das Hotel, in dem ich logiere, liegt etwas außerhalb der Innenstadt, direkt bei der Universität. Auf dem Weg dorthin werden die Gehsteige zunehmend unwegsamer durch viele Schlaglöcher und Unebenheiten. Hier wohnen überwiegend Afrikaner. Wenn ich aus dem Fenster meines Zimmers in Richtung Stadt schaue, sehe ich in einer kleinen Nebengasse einen gewaltigen Haufen mit Abfällen, der regelmäßig von recht zerlumpt gekleideten Menschen nach Eßbarem oder Brauchbarem durchsucht wird.

 

Philosophische Probleme III Äthiopische Geschichte als Propädeutik zur Erfassung der heutigen Situation in Afrika

Äthiopien ist ein besonderer Fall innerhalb Afrikas südlich der Sahara. Es repräsentiert in gewissem Sinn in seiner Geschichte, was Afrika heute ist. Methodisch gesehen ist das Thema Äthiopien mit seiner Geschichte eine Propädeutik des heutigen gesamten Kontinents. Hier haben sich seit jeher (die Geschichte dieses Landes lässt sich bis 2000 vor Christus zurückverfolgen) verschiedene Einflüsse gemischt: Eine ursprünglich afrikanische Völkergruppe, die Kuschiten; später von Norden kommend auch Niloten; jüdische Einwanderer aus der Zeit vor dem Talmud, vermutlich aus dem Jemen stammend; christliche Einflüsse, insbesondere vom griechisch-orthodoxen Christentum ausgehend, das über das Bistum Alexandria nach Äthiopien hineinwirkte; sehr früh bereits arabische Emigranten semitischer Herkunft, eine Beeinflussung aus einer Richtung, die später durch den sich ausbreitenden Islam verstärkt wurde. Das alles ist von seiner Geschichte her Äthiopien. Das alles ereignet sich heute in Afrika, wobei für weite Teile Ost- und Südafrikas auch die Inder als Geschäftsleute eine große Rolle spielen. Der Mischungsprozess ist vor allem in den Städten sichtbar, breitet sich aber stets weiter aus.

Dieser propädeutischen Rolle wegen steht Äthiopien am Anfang der Behandlung besonderer Themen afrikanischer Philosophie, nach der ersten allgemeinen Übersicht. Diese Sonderstellung erhält es also ausdrücklich nicht, weil es als einziges afrikanisches Land südlich der Sahara über schriftliche Quellen zur Philosophie verfügt. Warum darin für diese Darstellung keine Auszeichnung zu sehen ist, wird im folgenden besonderen Problemgebiet erörtert werden. Es ist vielmehr rein zufällig so, dass diese Besonderheit einem Land zukommt, das vor allem in seiner Geschichte das heutige Schicksal Afrikas antizipiert. Dabei kann es in seiner antizipatorischen Bedeutung zugleich Hoffnungsträger sein. Denn es hat, wenn wir Claude Sumner, dem Äthiopien-Kenner par excellence, glauben dürfen, seine kulturelle Eigenart in diesen gewaltigen Mischungsprozessen bewahrt, in ihnen herausgebildet. Dies muss im Blick auf das übrige Afrika, wenn ich es richtig sehe, noch von der Zukunft erwartet werden. Wie es im übrigen heute um Äthiopien bestellt ist, ökonomisch, ökologisch und politisch, ist bekannt. Jedermann weiß, dass in diesen Hinsichten wenig Grund zur Hoffnung besteht. Die Lage ist also äußerst widersprüchlich.

Wir stützen uns im folgenden auf Sumners Buch: The Source of African Philosophy: The Ethiopian Philosophy of Man[72]. Er preist die äthiopische Philosophie gerade wegen ihrer schriftlichen Überlieferung. Dieser gibt er den Vorrang, auch wenn er im Prinzip äthiopische Philosophie als schriftliche und mündlich überlieferte betrachten will. Aber in einem Forscherleben kann nun einmal nicht alles, was wichtig erscheint, mit gleicher Gründlichkeit behandelt werden. Zu dieser Entscheidung hat er selbstverständlich das vollste Recht. Es muss nur vermieden werden, darin etwas anderes zu sehen als eine Entscheidung, die durch Forschungstraditionen der westlichen Welt motiviert ist, die aber aus der interkulturell philosophischen Sicht, die wir hier einzunehmen suchen, rein zufällig ist. Sumner selbst sieht vor allem geographische Beschränkungen seiner Wahl: die schriftlichen Quellen stammen aus den christlichen Einflußzonen, gebunden an die liturgische Sprache der koptischen Kirche (Geez), auf den Hochplateaus von Äthiopien.[73] Um die Auffindung, Entzifferung, Erschließung, Übersetzung ins Englische und Edition dieser schriftlichen Quellen hat er sich enorme Verdienste erworben.

Dieser Forscher, der sich selbst als Kanadier durch Geburt und als Äthiopier durch Wahl bezeichnet, lebt und arbeitet seit 1953 in Addis Abeba. Von seiner Entdeckung des Manuskripts Buch der Philosophen in der äthiopischen Nationalbibliothek während seiner Arbeit an dem dreibändigen Werk The Philosophy of Man, das alles zur philosophischen Anthropologie umfassen sollte von den altindischen Upanischaden bis zum logischen Positivismus unserer Zeit (Addis Abeba 1973-75), weiß er selbst auf spannende Weise zu berichten.[74]

Was Tempels von der Bantu-Philosophie aus für das afrikanische Denken behauptet, sagt Sumner von der äthiopischen Philosophie aus für Afrika, dass sie »anthropozentrisch« ist. Darin stützen sich beide Philosophien gegenseitig, die von ihren Interpreten als paradigmatisch für ganz Afrika aufgefasst werden. Dieser Anthropozentrismus bedeutet freilich nicht, dass der Mensch seiner Welt, in der er lebt, gegenübergestellt wird. »Er ist Teil von ihr.« Ferner gilt als eines der grundlegendsten menschlichen Verhältnisse dasjenige zu Gott oder zur Geisterwelt überhaupt. Das zeigt Sumner an dem Text »Der Physiologe«, den wir noch erwähnen werden. Dass damit innerhalb der schriftlichen Quellen der äthiopischen Philosophie immer nur der christliche Gott gemeint ist, beruht auf der von Sumner angegebenen Beschränkung seines Untersuchungsgegenstandes, so dass er den äthiopischen Anthropozentrismus als »theologischen« qualifizieren kann.[75]

Es kann hier nicht darum gehen, das Buch Sumners zusammenzufassen. Es ist selbst eine Zusammenfassung der 5 Bände Ethiopian Philosophy (Addis Abeba 1974-82) und des Bandes Classical Ethiopian Philosophy (Addis Abeba 1985). Wir beschränken uns darauf, die von ihm besprochenen Texte, von denen auch Auszüge im III. Teil des Buches in englischer Übersetzung abgedruckt sind, aufzulisten, kurz anzugeben, wovon sie handeln und Sumners Interpretationsthese dazu wiederzugeben.[76] Ein kritischer Nachvollzug seiner historischen (vertikalen) und systematischen (horizontalen) Argumentationen wird ohnehin nur einer sehr kleinen Anzahl Fachgelehrter möglich sein, die ihe Forschungen »äthiopistisch« nennen.

1. Der Physiologe (5.Jahrhundert)
2. Das Buch der Philosophen (16.Jahrhundert)
3. Das Leben und die Lehren(Maximen) Skendes (16. Jahrhundert)
4. Die Abhandlung Sera Jakobs(1667)
5. Die Abhandlung Walda Heywats(17. Jahrhundert)

»Der Physiologe« enthält eine Beschreibung von Tieren, Pflanzen und Steinen, die diesen eine starke symbolische Bedeutung gibt und daraus praktische Lebensregeln ableitet. Das Ziel ist eine conversio des Lesers vom Unglauben, von den weltlichen Lastern, vom bösen Betragen zu einem Leben in Christus und seiner Kirche. Ein Beispiel: Wie der Kiebitz seinen alten Vogel-Vater pflegt, weil er in seiner Jugend von ihm versorgt worden ist, sollen intelligente Wesen ihre Eltern lieben. Für Christus werden vor allem der Phönix und der Pelikan als symbolische Tiere gebraucht, um seine Auferstehung und sein Selbstopfer am Kreuz zu veranschaulichen. Der äthiopische Schreiber hat etwa in der Mitte des 5. Jahrhunderts ein griechisches oder ägyptisches Original, das aus der Zeit um 300 nach Christus stammt, übersetzt und bei der keineswegs wörtlichen Übersetzung angepasst an die eigene Denk- und Vorstellungswelt. Sumner bezeichnet diesen Text als ein »naturalistisch-theologisches Buch« und mißt ihm philosophische Bedeutung zu, weil es die rudimentären Anfänge aller späteren, hier zu beschreibenden philosophischen Entwürfe bereits enthält.

Der erste große Fund, das »Buch der Philosophen«, bietet eine Sammlung von Sprüchen (Maximen, Sprichwörtern, Parabeln, Allegorien, kurzen Argumentationen). Diese werden allererst griechischen Philosophen zugeschrieben: Heraklit, Plato, Aristoteles und den Neuplatonikern, gelegentlich auch Personen des antiken Rom, des Alten Testaments oder der frühen christlichen Theologie. Zu zwei Themen, die in der afrikanischen Philosophie zentral sind, seien einige Beispiele zitiert:

1. Weisheit, weiser Mann

»Bewahre Reichtum nicht in Behältern, sondern in deiner Brust. Die Weisheit ist nicht gut, wenn das Handeln nicht gut ist. Der weise Mann untersucht alle Dinge, große und kleine«.

2. Brüderlichheit

»Brüderlichheit ist wie eine Seele in getrennten und unterschiedenen Körpern.

Wen liebst du: deinen Bruder oder deinen Freund? Mein Freund

ist mein Bruder.

Wer keinen Bruder hat, entbehrt die Würze des Lebens«.

Weitere Themen sind: Narrheit, Sorge, Gewissen, Erkenntnis, Demut, Gerechtigkeit u.a.m. Es handelt sich wiederum um eine Übersetzung. Das griechische Original stammt aus der Byzantinischen Periode, es wurde im 9. Jahrhundert ins Arabische und zwischen 1510 und 1522 ins Geez übersetzt. Der Autor des äthiopischen Textes, Abba Mikael (Pater Michael), ist auch sonst als weiser Mann ägyptischer Herkunft bekannt. Sumner unterstreicht die eigene Leistung des Übersetzers: er adaptiert, modifiziert, ergänzt oder komprimiert das Original.

Der dritte Text, »Das Leben und die Lehren (Maximen) Skendes<e, umfasst drei Abschnitte: eine Biographie, eine Folge von 55 Fragen und eine Folge von 108 Fragen. Das Schicksal Skendes gleicht demjenigen des Ödipus. Er heiratet nicht seine Mutter, sondern versucht nach langer Zeit der Trennung, in der er zum weisen Mann herangereift ist, aus philosophischem Interesse die These zu widerlegen, dass alle Frauen Huren sind, und seine Mutter zu verführen. Er tut dies nicht, sondern treibt es nur soweit, dass er es hätte tun können. Als er sagt, wer er ist, erhängt sich die Mutter. Die selbstauferlegte Strafe für seine tragische Schuld besteht darin, dass er nie mehr spricht. Am Hof des Königs erhält er schließlich die Aufgabe, als weiser Mann schriftlich auf Fragen zu antworten. Das führt zu den beiden Frage-Serien. Die erste spiegelt das geistige Klima der Gnosis wieder, eine Mischung aus Pantheismus und Theismus, die zweite fasst mehr traditionelle Themen des äthiopischen Christentums zusammen. Erneut begegnen wir einer adaptierenden Übersetzung. Das arabische Original aus dem 10. Jahrhundert verarbeitet selbst bereits Material aus der hellenistisch-griechischen Zeit. Sumner versucht eine tiefenpsychologische Deutung des unbewussten Wunsches, mit der eigenen Mutter zu schlafen. Wie sich der psychisch Gesunde aus der Gebärmutter in eine eigene Welt hinein entwickelt, wird der psychisch Kranke zur Gebärmutter zurückgezogen, von ihr wieder aufgesogen und damit vom eigenen Leben abgeschnitten.

Die »Abhandlung des Sera Jacob« (1667) fällt in die Blütezeit der äthiopischen Kultur (die Gondar Periode) zwischen 1632 und 1855. Sie enthält eine Autobiographie und eine Darstellung der Lehre des Meisters. Seine wesentlichen Gedanken entwickelte Sera Jacob, der übrigens nicht mit dem Kaiser gleichen Namens aus dem 15. Jahrhundert zu verwechseln ist, schon früher. Als König Susenyos 1626 für kurze Zeit in Äthiopien den katholischen Glauben proklamierte, musste Jacob fliehen. In der Einsamkeit einer Höhle arbeitete er dann seine Philosophie aus. Diese Philosophie ist eindeutig rationalistisch. Der Titel »Hatata« bedeutet so viel wie Stück für Stück untersuchen, in eine Sache eindringen und sie durchdringen, genau nachforschen, prüfen, überprüfen. Das Basisprinzip ist das Gutsein der geschaffenen Natur, von dem aus eine Theodizee, eine Ethik und eine Psychologie entwickelt werden. Die Methode der kritischen Nachforschung versteht sich als revolutionär, obgleich ihre Wurzeln theologisch sind. Die Harmonie Glaube-Vernunft ist zerbrochen, der Scholastizismus beendet.

Nach dem Tod Susenyos' verließ Jacob seine Höhle und ließ sich im Haus eines reichen Kaufmanns nieder, dessen Söhne er unterrichtete. Auf Bitten eines der Söhne hat er seine Lehre in der Form einer Abhandlung aufgeschrieben. Immer wieder kehrt darin die Spannung zurück zwischen dem Glauben an Gott, der dem Menschen die Vernunft gegeben hat, und dem Gebrauch der Vernunft, der den Absolutheitsanspruch des sich offenbarenden Gottes nicht anerkennen kann. Sumner sieht in dieser Abhandlung den Durchbruch zum eigenen originalen Denken in Äthiopien. Er parallelisiert das Denken Jacobs mit Descartes. Der Discours de la mdthode (1637) und die Hatata (1667) sind in der Einsamkeit konzipiert und bezeichnen den Beginn des modernen kritischen Denkens, das von der absoluten und exklusiven Zureichendheit der menschlichen Vernunft ausgeht.

Die »Abhandlung Walda Heywats« ist die pädagogische Popularisierung der Lehre Jacobs durch seinen Schüler. Ihr besonderer Wert liegt darin, dass sie mit Nachdruck die Gleichheit aller Menschen vertritt und die Familie als soziale Einheit verteidigt. Gegen den Versuch einer Widerlegung der originalen äthiopischen Autorschaft beider Abhandlungen durch Carlo Conti Rossini, der sie einem italienischen Gelehrten zuschreiben wollte, verteidigt Sumner ihre Originalität. Wenn man die Übersetzungen des »Physiologen«, des »Buches der Philosophen« und des »Lebens und der Lehre (Maximen) Skendes« in gewissen Sinn als traditionelle Weisheitslehre bezeichnen kann, sind die »Abhandlungen« Sera Jacobs und Walda Heywats Philosophie im strikten Sinn des Wortes. Diese Distinktion zwischen kritischer Philosophie als Philosophie und traditioneller Weisheitslehre, die nicht oder doch nicht im strikten Sinn so aufzufassen ist, in der Sumner mit wichtigen Wortführern der afrikanischen Philosophie übereinstimmt, wird im folgenden (Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren«) zur Diskussion gestellt.

 

Notiz II Beteiligung an einem Kurs über»Zeitgenössische Philosophie« in Nairobi

Der Kurs »Zeitgenössische Philosophie« am Philosophie-Department der Universität von Nairobi umfasst eine Vorlesung von 4 Stunden und 2 Stunden Übung (tutorial) pro Woche. Für das tutorial wird die Gruppe (175 Studenten) geteilt, um die Gesprächsmöglichkeiten für den einzelnen zu vergrößern. Der Kurs dauert zwei mal 4 Wochen. In der ersten Hälfte wird ein allgemeiner Überblick über fünf Hauptströmungen der zeitgenössischen Philosophie gegeben: Existentialismus, Pragmatismus, Marxismus, Phänomenologie, Analytische Philosophie (in dieser Reihenfolge). Jeder Strömung sind drei Stunden gewidmet. In der letzten Vorlesungsstunde der vierten Woche wird ein schriftlicher Test geschrieben. Dieser erste Teil wird von einem Senior lecturer (Dr. G. Wanjohi) gegeben.

 Die zweite Hälfte folgt im äußeren Aufbau der ersten. Sie hat ein doppeltes Ziel. Aus jeder Strömung sollen ein oder zwei Autoren herausgegriffen und bestimmte Ideen genauer behandelt werden. Außerdem sollen die Philosophien dieser Automn auf die Situation in Kenia bezogen werden. Dieser zweite Teil wird vom einem Lecturer (Dr. S. Monyenye) gegeben.

Mein Auftrag ist, an dieser Vorlesung mitzuwirken. Ich kam 10 Tage vor Beendigung der ersten Hälfte. Bei den beiden Übungsstunden, die in dieser Zeit noch stattfanden, habe ich mich zur Verfügung gestellt, um Fragen der Studenten zu beantworten. In der zweiten Hälfte übernehme ich die genauere Behandlung einiger Autoren des Existentialismus (Heidegger und Sartre), des Marxismus (Marx' Frühschriften und seine ökonomische Theorie) und der Phänomenologie (Husserls Intersubjektivitätstheorie und seine Konzeption der Lebenswelt). Die Beziehung auf die Situation in Kenia wird selbstverständlich von dem Kollegen aus Nairobi hergestellt, der auch zu Pragmatismus und Analytischer Philosophie die genauen Behandlung einzelner Autoren und ihrer Ideen übernimmt. Dies sind Dewey bzw. Russell.

 

Philosophische Probleme IV Wider den Gegensatz mündlich schriftlich

Die äthiopischen schriftlichen Quellen zur afrikanischen Philosophie sind von großem Wert. Soweit ich sehe, finden sie auch in den Unternehmungen afrikanischer Philosophen bei weitem nicht die Beachtung, die sie verdienen. Der Vorrang, der allenthalben der westlichen Philosophie gegeben wird, lässt dazu in der heutigen Praxis wenig Raum. Freilich sollten diese Quellen nicht stärker beachtet werden, weil sie schriftlich sind, sondern weil sie afrikanisch sind, weil sie schon seit langem (5. Jahrhundert) Europäisches und Afrikanisches amalgamieren. Dadurch könnten sie eine historisch-propädeutische Funktion erlangen, die ihrem Wert entspricht. Dies sei zur Verdeutlichung noch einmal gesagt, bevor ich zu zeigen suche, dass der Gegensatz zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung, der für die Situa-tionsbestimmung der afrikanischen Philosophie eine so große Rolle spielt, unterlaufen werden kann und dass dadurch die Ein-bringung traditioneller Gedanken und Motive in die heutige, westliche und andere philosophische Einflüsse verarbeitende philosophische Diskussion in Afrika erleichtert und verstärkt werden kann.

Eine bestimmte Richtung innerhalb der neueren Philosophie in Frankreich, aber sie hat ihre Vertreter nicht nur dort, sondern auch in Deutschland, Belgien, Italien, US-Amerika und anderen Ländern, ich nenne sie: Philosophie der Differenz, kritisiert das Denken in Gegensätzen.[77] Dieses Denken ist durch die zweiwertige Aristotelische Logik auf den Weg gebracht. Es kennzeichnet den Aufbau der metaphysischen Systeme seit Aristoteles und den Neuplatonikern: die himmlische und die sublunare Sphäre, theoria und praxis, das Eine und das Viele, das Gute und das Böse. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Dieses Denken ist ebenfalls anzutreffen in der Unterscheidung von schriftkundigen und schriftlosen Völkern oder Kulturen. In Hegels Dialektik erfasst sich das Denken in Gegensätzen als die Methode des Denkens der Metaphysik. Hierbei zeigt sich, dass es auf der Voraussetzung beruht, die Hegel formuliert: »alle Dinge sind an sich selbst widersprechend«.[78] Durch die folgenden Ausführungen wird diese Voraussetzung in Zweifel gezogen, indem ein grundlegender Gegensatz zurückgewiesen wird.

 Nun wird mit dem Unterschied einer mündlichen und einer primär schriftlichen Kommunikations- und Überlieferungsform zweifellos eine Realität beschrieben, die für die heutige Situation der afrikanischen Philosophie von großer Bedeutung ist. Dabei sind sich die afrikanischen Philosophen dessen bewusst, dass der Übergang von der einen Überlieferungsform zur anderen nicht nur Gewinn mit sich bringt, sondern auch Verlust. Mit der Einführung des Schreibens als überwiegendem Kommunikations- und Überlieferungsmedium erschlafft das Gedächtnis.[79] Der Lebenszusammenhang der mündlichen Überlieferung stirbt ab und damit gehen viele unschätzbar wertvolle Weisheitslehren für immer verloren. Was davon nun noch schriftlich aufgezeichnet werden kann, sind nur Reste. Sie dienen gewissermassen als Beweis, dass diese Form der afrikanischen Philosophie überhaupt bestanden hat.

Es ist auch bekannt, dass verschiedene afrikanische Völker (z.B. im heutigen Ghana) zeitweise eine Schrift im Sinne des Aufzeichnens von Gesagtem gekannt haben. Da diese Schrift im Kommunikations- und Überlieferungszusammenhang des Lebens dieser Völker keine bedeutsame Funktion hatte, wurde sie wieder aufgegeben.[80] Bis heute sind sieben westafrikanische Völker bekannt, die ihre eigene Schrift gehabt haben. Bevor die Schrift durch die europäische Kolonisation nach Afrika gebracht wurde, ist unter anderen in den Sprachen Fulani, Haussa und Wolof arabische Schrift übernommen worden, als diese Völker teilweise den islamischen Glauben übernahmen. Dies geschah zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert. In Ostafrika reichen die ältesten Texte mit arabischen Schriftzeichen im Suahili zurück bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts. Die arabische Schrift wurde auch in einigen Sprachen entlang der westafrikanischen Küste gebraucht. Die ältesten Formen des Schreibens, die im Zuge der europäischen kulturellen Invasion nach Afrika gelangten, wurden von portugiesischen Missionaren im 16. Jahrhundert gebracht.[81]

Über den Wert schriftlicher Texte im Vergleich zu mündlicher Überlieferung wird von den afrikanischen Philosophen verschieden geurteilt. Während Hountondji für philosophisch relevante Arbeit sich ausschließlich auf geschriebene Texte stützen will,[82] betont Olabiyi Yai, dass die Eigenbedeutung mündlich überlieferter Kulturgehalte schon vorher durch R. Finnegan deutlich herausgearbeitet worden ist.[83]

Es ist das Verdienst Derridas, einen Schriftbegriff entwickelt zu haben, durch den der Gegensatz von schriftkundigen und schriftlosen Kulturen hinfällig wird.[84] Dieser Schriftbegriff ist nicht zeichentheoretisch begründet. Denn im Kontext der Zeichentheorie kommt die Schrift ohnehin in eine sekundäre Position. Das Schriftbild ist Zeichen des gesprochenen Wortes; das gesprochene Wort ist Zeichen eines Dinges oder eines Sachverhalts. Sofern die Zeichentheorie weiterhin eine Rolle spielt, betont Derrida im Anschluß an Lacan, dass es ein letztes Bezeichnetes nicht gibt, dass jedes Bezeichnete (signifid) wieder ein Bezeichnendes (signifiant) ist und dass diese Kette kein Ende hat. Damit kommt die Schrift aus ihrer sekundären Position. Die Schriftzeichen haben gegenüber dem Klangbild den Vorteil, dass sie immer wieder aufs neue gelesen und zum Gegenstand neuer Interpretationen gemacht werden können. Eine letztgültige Interpretation ist nicht nur unmöglich, sie wird auch gar nicht angestrebt. Dies führt auf schwierige Fragen des Wahrheitsbegriffs, die an späterer Stelle noch genauer erörtert werden. Es hat in bezug auf den Schriftbegriff zur Folge, dass diese nicht mehr als (sekundäres) Zeichen, sondern als Spur aufgefasst wird, die in einem in sich unendlichen Verweisungszusammenhang gelesen wird.

Wenn aber Schrift als »sichtbare und lesbare Spur« begriffen wird, ist sie ebenso alt wie die gesprochene Sprache. Fußabdrücke im Sand, ein gebrochener Ast oder ausgelegte Kieselsteine sind dann in derselben Weise Schrift wie Einritzungen auf Felsen oder Kalebassen, Stammes- und Geschlechtskennzeichen oder Kriegsbemalungen auf dem menschlichen Körper oder Bilder (Hieroglyphen), die durch Wörter interpretiert werden können. Es gibt keine Hierarchie mehr zwischen gesprochener Sprache und Schrift. Derrida hat deutlich gemacht, dass in der Geschichte der Metaphysik ein Vorrang der gesprochenen Sprache geherrscht hat, von Platos These im »Siebten Brief«, dass man die Wahrheit nicht aufschreiben kann, über Rousseaus Kennzeichnung der Schrift als bloßer Gedächtnisstütze für das gesprochene Wort bis zu Hegels Gedanken, dass die gesprochene Sprache wegen ihrer relativen Immaterialität der absoluten Idee näher ist als jede Art von Schrift. Dem Logozentrismus der Metaphysik, der die Vernunft, das rationale Denken zentral stellt, entspricht ein Phonozentrismus, der dem gesprochenen Wort den Vorrang gibt.

Für unsere Überlegung ist es wichtig, dass die politische Funktion der Schrift im Sinne des Wortzeichens verschiedene Aspekte hat. Solange nur einzelne schreiben können, verleiht ihnen diese Fähigkeit Ansehen und Macht. Das hat der Häuptling der Nambikwara sehr schnell begriffen, den Lévi-Strauss in seinem Bericht über die »Schreibstunde« schildert, die er unter den Mitgliedern dieses Stammes organisiert hat. Der Häuptling mimt den Gestus des Schreibens und erntet dafür große Bewunderung. Sein weiteres Schicksal kann hier unerwähnt bleiben.[85] Die angesehene Rolle des Schreibers in Dörfern oder Städten, die nicht alphabetisiert sind, ist bekannt. Die Funktion der Schrift schlägt um in dem Augenblick, wo alle schreiben können. Sie dient dann nicht nur dazu, Gesetze und Anordnungen der Regierung zu verbreiten, sondern auch zur Organisation der Gegenmacht. Kampfschriften, Flugblätter, Wandzeitungen sind unverzichtbare Mittel revolutionärer Praxis.

Der Gedankengang Derridas, der zu einer Neubewertung des Verhältnisses von mündlicher und schriftlichen Überlieferung führt, nimmt eine einigermassen paradoxe Wendung, wenn er vom Logozentrismus über den Phonozentrismus eine Linie zieht zum Ethnozentrismus. Das metaphysische Denken setzt auf der einen Seite die Schrift herab als sekundäres Zeichen und prägt auf der anderen Seite den Gegensatz zwischen schriftkundigen und schriftlosen Kulturen, in dem den ersteren ein enormer Vorrang eingeräumt wird. Diese Widersprüchlichkeit kennzeichnet aber nicht Derridas Gedankenentwicklung, sondern ist dem metaphysischen Denken inhärent, zeigt dessen innere Brüchigkeit. Konsequenterweise hätte das metaphysische Denken denjenigen Kulturen einen Vorrang einräumen müssen, deren Kommunikations- und Überlieferungsformen überwiegend an das gesprochene Wort gebunden sind. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Darin zeigt sich der Ethnozentrismus dieses Denkens. Auch Levi-Strauss mit seiner Hochschätzung des »wilden Denkens« und seinen melancholischen Beschreibungen der Schönheit und Unschuld naturnaher Völker bleibt im Gewande des Anti-Ethnozentrismus dem Ethnozentrismus verhaftet, denn er hält an dem Gegensatz von schriftkundigen und schriftlosen Kulturen fest.

Derrida will mit dem erweiterten Schriftbegriff das hierarchische Denken in Bezug auf gesprochene Sprache und Schrift hinter sich lassen. Beides bildet keinen Gegensatz, es besteht nebeneinander und hat jeweils eigene spezifische Funktionen.

Daraus möchte ich hier einige Folgerungen ableiten, die zu dem Ergebnis führen, dass mündliche Überlieferung und Kommunikation immer Elemente der Schriftlichkeit enthält und sich umgekehrt im Schriftlichen Elemente des mündlichen Sprechens aufzeigen lassen.

Überwiegend mündliche Kommunikations- und Überlieferungsformen sind nicht schriftlos, ebensowenig wie überwiegend schriftliche wortlos oder stumm vor sich gehen. Das Zusammenspiel von Schrift als »sichtbarer und lesbarer Spur« und gesprochener Sprache ist lediglich von anderer Art, wenn das Mündliche gegenüber dem Schriftlichen überwiegt, als im umgekehrten Fall. Das Eindrücken, Einritzen oder Einzeichnen von Spuren in weiches oder härteres Material hatte wie wir aus der Geschichte wissen wichtige Funktionen im überwiegend mündlichen Kommunikationszusammenhang, es spielte eine bedeutsame Rolle bei der Überlieferung praktischer Fertigkeiten, religiöser Gebräuche und medizinischer Kenntnisse (man denke etwa an die »Herbalisten«). Im Zusammenhang der Überlieferung von geschichtlichen Erfahrungen und Weisheitslehren scheint es geringere Bedeutung gehabt zu haben. Das letztere spielte sich in der Tat sehr stark im Medium des gesprochenen Wortes ab. Die sichtbaren und lesbaren Spuren als Elemente des Schriftlichen waren in diesem Fall bestimmte Inszenierungen der jeweiligen Erzähl- oder Belehrungssituation. Diese Inszenierungen hatten bestimmte rituelle Formen. Das Brechen und gemeinsame Essen einer Kolanuß gehörte ebenso zu der Situation des Sich-Rat-Holens wie die Pause des Schweigens vor der Bekanntgabe eines wichtigen Beschlusses. Je nach Anlass und Gegenstand waren solche Situationen auch in sich vielfältig. Die Wiederholung desselben war hierbei wichtig, aber auch die Formgebung für das Neue.

Von hier aus legt es sich nahe, den Akt des Schreibens im Sinne des Aufzeichnens von Worten und anderen Sinneinheiten der gesprochenen Sprache nicht von den bestimmten Lebenszusammenhängen abzulösen, in denen er jeweils stattfindet. Feriengrüße von der See oder aus den Bergen sind etwas anderes als eine wissenschaftliche Abhandlung, eine Einkaufliste steht in anderen Zusammenhängen als ein lyrisches Gedicht usw. Nicht das Schreiben als solches macht die Bedeutung dessen aus, was hier geschieht, sondern der jeweilige Lebenszusammenhang. Deshalb ist es auch nicht so sehr das Beherrschen der Schriftzeichen, das kulturell relevant ist, als vielmehr das Wissen um den jeweils passenden Schreibstil. Auf diese Weise mischen sich Elemente mündlicher Kommunikation ins Schriftliche ein.

Die Wichtigheit des Erhaltens traditioneller Weisheitslehren durch ihre schriftliche Aufzeichnung soll damit gewiss nicht in Abrede gestellt werden. Dieser Vorgang bedient sich übrigens auch noch eines anderen Mediums als der Schrift, nämlich des Tonbandgeräts, das elektronisch und nicht schriftlich aufzeichnet. Das letztere geschieht erst im nachhinein. Wichtiger noch ist die Einsicht, dass diese Weisheitslehren in bestimmte Lebenszusammenhänge und in bestimmte rituelle Abläufe einbezogen waren. Im Sinne unseres Unterlaufens des Gegensatzes von mündlich und schriftlich erweist sich, dass die Überlieferungsformen der Weisheitslehren im traditionellen Afrika keineswegs schriftlos waren. Umgekehrt sollten wir im Schriftlichen Elemente des mündlichen Sprechens zur Geltung bringen, indem für das eigene primär schriftliche Philosophieren (in Afrika, aber nicht nur dort) der Stil bewusst eingesetzt und verschiedene Stile gebraucht werden.

 

Notiz III Elemente eines anderen philosophischen Stils?

In dem Kurs (Vorlesung mit Übungen/Tutorials) über »Zeitgenössische Philosophie« an der Universität von Nairobi, an dem ich als Dozent teilnehme, spielt die Frage eine große Rolle: Gibt es konkrete Beispiele in Kenia für dieses oder jenes philosophische Konzept?

Zum Beispiel: Das Problem der Entfremdung und des Warenfetischismus bei K. Marx wird zusammengefasst in der Aufgabe: Diskutieren Sie das Ausmass, in dem Sie mit Marx' Auffassung übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, dass menschliche Verhältnisse hauptsächlich ökonomisch sind, indem Sie Beispiele aus Kenia oder allen anderen Teilen der Welt gebrauchen.

Die eigene Situation als Student im 3. Jahr bildet den Ausgangspunkt. Familiäre Verhältnisse werden besprochen. Fragen der Tagespolitik in Kenia finden großes Interesse, aber auch die Beziehung Europa/US-Amerika und Entwicklungsländer. Südafrika und Nazi-Deutschland sind häufig gebrauchte Beispiele.

Dagegen steht: Die Liebe der Mutter zu ilmm Kind. Jesus, der sein Leben gibt für die Sünder. Ein Soldat, der für die Sicherheit seiner Landsleute kämpft. Jemand, der sein Leben riskiert, um andere zu retten.

Ein zweites Beispiel. Die Wahrheitskonzeption von W. James führt zu der Aufgabe: Der Pragmatismus geht im allgemeinen davon aus, dass der einzige Grund, warum wir eine Sache für wahr halten, ist, dass sie sich im praktischen Handeln bewährt. Untersuchen Sie diese Auffassung kritisch mit Bezug auf einen Parlamentskandidaten, der Stimmen kauft und auf diese Weise seinen Gegenkandidaten bei der Wahl schlägt.

Die Skala der Konkretisierungen gleicht der vorigen, soweit es darum geht, den Wahrheitsbegriff des Pragmatismus zu veranschaulichen. Die Kernfrage ist: Werden durch das Handeln des Kandidaten, sofern es zum Erfolg führt, nicht moralisch falsche Handlungen gerechtfertigt? Dagegen steht: Wird sich das falsche Handeln auf die Dauer als wahr bewähren? Man ist sich dessen bewusst: »Das Gesetz hat einen langen Arm«. Am Schluß der Debatte bleiben starke ethische Zweifel an diesem Wahrheitskonzept.

Man wird zuerst geneigt sein, in dieser Art der Fragestellung oder Aufgabenstellung eine grobe Vereinfachung zu sehen. Differenzierte und komplizierte Thesen werden zurückgebracht auf einfache Formulierungen. Das scheint eher passend für einen Besinnungsaufsatz in der Oberstufe des Gymnasiums als für eine Philosophie-Veranstaltung an der Universität.

Bei etwas genauerem Hinhören bemerkt man, dass vielen philosophischen Fragen, die erkenntnistheoretisch oder ontologisch gemeint sind, eine ethische Wendung gegeben wud. So wird auch Sartres Insistieren auf der Möglichkeit der Wahl, der »schlechte Glaube« an eine inhaltliche Bestimmung des Wählenkönnens als Rechtfertigung beliebiger moralischer und amoralischer Handlungen verstanden. »Ethik« ist das Lieblingsfach vieler Studenten, die ich daraufhin befragte. Es hat in der Geschichte der neueren Philosophie eine Kopernikanische Wende gegeben und eine sprachphilosophische (linguistic turn), warum sollte es nicht auch eine »ethische Wende« geben?

Ein andere Deutung ist meines Erachtens angemessener. Die philosophischen Fragen, die aus einer anderen Welt stammen, müssen zunächst angeeignet werden, zu eigenen Fragen gemacht werden, um den Status philosophischer Fragen zu erlangen. Sonst bliebe es ein Nachplappern, auch auf dem differenziertesten Niveau, Das Aneignen schließt offenbar das Bedürfnis zur Veranschaulichung ein. Sprichwörter, bildhafte Ausdrücke, die Beschreibung konkreter Situationen werden in großer Fülle gebraucht. Aber es ist nicht nur das Bildhafte, vor allem ist es auch das Narrative, das stark in den Vordergrund tritt, einschließlich theatralischer Szenen, die gelegentlich eingeschoben werden.[86] Dies sind wie mir scheint Elemente eines anderen philosophischen Stils, die unprogrammatisch und vielleicht auch unreflektiert bei der Besprechung westlicher philosophischer Konzepte hervortreten. Es erinnert mich daran, in welch starkem Mass für die altäthiopischen Philosophen (seit dem 5. Jahrhundert) übersetzen zugleich adaptieren bedeutet hat. Näheres dazu ist in Philosophische Probleme III: »Äthiopische Geschichte als Propädeutik zur Erfassung der heutigen Situation in Afrika« ausgeführt.

Selbstverständlich gibt es andere Eindrücke. Die Diskussionen in der Philosophical Society der Studenten von Nairobi (jeden Montagabend) sind sehr geschliffen. Argumente werden ausgetauscht im Stil renommierter englischer oder amerikanischer Universitäten. Vor allem darf man keinen »categorical mistake« machen oder ein Argument gebrauchen, das »selfdefeating« ist. Was hier geschieht, ist erstaunlich lebendig. Es ist keine Kopie, auch wenn der Stil weniger originell ist und in eine andere Richtung geht als die oben beschriebene anschaulich-erzählerische.

 

Philosophische Probleme V Zur Diskussion der Wahrheitsfrage

Wir gehen davon aus, dass die Frage: »Gibt es afrikanische Philosophie?« eine historische Frage ist. Die Diskussion dieser Frage hat die afrikanischen Philosophen eine Zeitlang in zentraler Weise beschäftigt, wie wir in Philosophische Probleme I und II gezeigt haben. Ihre Beantwortung hat nicht nur für Afrika, son-dern für den internationalen philosophischen Diskurs zu einem neuen Begriff der Philosophie geführt, zu einem neuen Ver-ständnis dessen, was geschieht, wenn wir philosophieren. Es be-steht Übereinstimmung darüber, dass die Erfassung der intellek-tuellen Grundlagen der heutigen Situation in Afrika erfordert, (1) die Voraussetzungen der afrikanischen Kultur, (2) deren rasche Veränderungen durch den Einfluß der westlichen Ökonomie, Wissenschaft und Technologie und (3) die Mittel des philosophi-schen Arbeitens, wie sie in der westlichen Welt entwickelt wor-den sind, zusammenzubringen. Es ist indessen kontrovers unter den afrikanischen Philosophen, ob und in welchem Mass die tra-ditionellen Weisheitslehren der verschiedenen Stämme und Völker (Ethnien) einen Beitrag zur heutigen afrikanischen Philoso-phie liefern können, das heißt, zur Lösung der Aufgabe, vor die sich die heutige afrikanische Philosophie gestellt sieht.

In dieser Frage vertreten K. Wiredu und H. Odera Oruka diametral entgegengesetzte Positionen. Wiredu hält im Blick auf die traditionelle Weisheitslehre einen Beitrag zu aktuellen philo-sophischen Fragen nicht für möglich, während Oruka gerade daran arbeitet, die »sage-philosophy« zugänglich und für aktu-elle Probleme nutzbar zu machen. Es ist aber nun interessant, dass sie nicht über diese Frage in eine kontroverse Diskussion verwickelt sind, sondern über ihre jeweilige Wahrheitsauffas-sung. Es ist indessen zu vermuten, dass beide Fragen miteinander verknüpft sind.

Ein Mitarbeiter Orukas, D.A. Masolo, sucht zu zeigen, dass Wiredus und Orukas kontroverse Auffassungen in der Wahr-heitsfrage der Schlüssel sind für das Verständnis ihrer entgegen-gesetzten Positionen in bezug auf das Problem, welche Rolle die traditionellen Weisheitslehren für die und in der heutigen afrika-nischen Philosophie spielen können. Ich stütze mich hierfür auf eine unveröffentlichte Arbeit Masolos über Kwasi Wiredu: Truth and the question of African philosophy (1989).

Anders als Masolo möchte ich zeigen, dass die Wahrheitsauf-fassung Wiredus und seine Beurteilung der traditionellen afrika-nischen Philosophie nicht notwendig miteinander zusammen-hängen. Wenn man Wiredus Ausführungen zur Wahrheitstheorie von Heidegger und Nietzsche aus liest, müßte Wiredu offen da-für sein, dass die traditionellen Weisheitslehren für die philoso-phische Erfassung der heutigen Situation einen wichtigen und geradezu unverzichtbaren Beitrag liefern können.

Betrachten wir zunächst die »Diskussion der Wahrheitsfrage«. Teil III des Buches von Wiredu Philosophy and an Afri-can culture ist ganz der Wahrheitsfrage gewidmet, insbesondere die Kapitel 8, 9, 11 und 12.[87] Das 8. Kapitel: »Truth as opinion« ist ursprünglich in der Zeitschrift Universitas. An Inter-Faculty Journal der Universität von Ghana im Jahr 1973 erschienen. In derselben Zeitschrift, Jahrgang 1975, veröffentlichte Odera Oruka unter dem Titel »Truth and belief« seine Kritik an Wire-dus Wahrheitsbegriff. Daraufhin sah sich Wiredu veranlasst, seine Position zu verteidigen und näher zu verdeutlichen. Dies geschah in dem Artikel »On behalf of opinion. A rejoinder«, der zunächst ebenfalls in Universitas, Jahrgang 1976, erschien und dann unter etwas verändertem Titel: »In defense of opinion« als Kapital 11 in das erwähnte Buch aufgenommen worden ist. Schließlich hat Oruka erneut seine kritische Position ausgearbeitet in dem Artikel »For the sake of truth«, der in der Zeit schrift Quest. An international African journal of philosophy, Jahrgang 1989, veröffentlicht ist.[88]

Nachdem Wiredu in seinem Buch in mehreren Kapiteln bereits die Wahrheitsfrage angeschnitten hat, gibt er dem 8. Kapitel nun die Funktion, direkt und im einzelnen auf darauf einzugehen: »Was ist Wahrheit?« Er beruft sich auf J. Dewey, der in seinem Werk How we think (New York 1910) bestimmte Prozesse des Denkens aufgezeigt hat, die im Grunde recht offensichtlich sind, die aber von den Philosophen regelmäßig übersehen oder geleugnet werden. Zu diesen Denkprozessen gehört, dass wir in unserer alltäglichen Erfahrung von bestimmten Aussagen wissen, dass sie wahr sind. Von hier aus bezieht Wiredu die Kantische Unterscheidung zwischen den Dingen, wie sie an sich sind, und ihrer Erscheinung in den Zusammenhang seiner Erörterung mit ein. »Jeder Anspruch, etwas zu erkennen, wie es an sich ist, wäre insofern ein Widerspruch, als er in der Tat nur bis zu dem Anspruch gelangen kann, etwas zu erkennen, wie es erkannt werden kann.« Er radikalisiert diese These und schließt sich, was die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten betrifft, an bei Berkeley's »esse est percipi«. Dies schließt für die Wahrheitsfrage ein, dass wahr sein bedeutet, auf einer Meinung, einem Standpunkt der Wahrnehmens, beruhen: »to be true is to be opined« oder »truth is a view from some point«.[89]

Die Wortwahl ist an dieser Stelle zweifellos äußerst unglücklich, denn Meinung (opinion) hat etwas Subjektives, nicht gut Begründetes, Ungewisses. Es hilft dann auch nicht zu betonen, dass Meinung »natürlich nicht in diesem Sinn gemeint ist«. Offensichtlich kann ein ganzer Artikel »Zur Verteidigung der Meinung« diese unglückliche Wortwahl nicht wieder gut machen.[90] Die Standpunktgebundenheit der Wahrheit ist von Nietzsche als »Perspektivismus« beschrieben worden. Die Perspektiven sind vielfältig, aber sie sind nicht willkürlich oder durch ein Individuum beliebig einnehmbar. Für Wiredu heißt das, allein rational begründete Meinungen, Behauptungen (assertions), können wahr sein. Dass sie gemeint oder geglaubt werden aufgrund eines bestimmten Standpunkts, ist seiner Auffassung nach nicht rein rational, aber ihre Begründung muss es sein. Mit dieser Unterscheidung weicht Wimdu von Deweys Wahrheitskonzeption ab. Er sieht den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Meinung nicht rein analytisch, sondern synthetisch. Das heißt, es geht ihm nicht um die formale Bedeutung der Wahrheit, sondern um die »substantielle Natur des Glaubens«, Meinens, Behauptens.[91]

Masolo folgt Wiredu in dieser Verdeutlichung. Schon aus Wiredus erster Exposition lässt sich seiner Darstellung nach entnehmen, dass die meisten Vorwürfe Orukas nicht Wiredus Intention treffen: dies sei Relativismus und Subjektivismus, so könne alles für wahr erklärt werden; dass zwei mal zwei gleich vier sei, könne niemals eine Sache der Meinung sein, sondern sei objektiv wahr, glauben könne man auch einander entgegengesetzte Sachverhalte, was Wiredus Wahrheitsbegriff, wenn er sich ernstnimmt, nicht zulasse. Masolo sucht die Position Wiredus zu unterbauen durch den Hinweis auf wissenssoziologische Auffassungen. Das »Ich«, das einen Standpunkt einnimmt, ist nicht ein beliebiges Subjekt, das in dieser Sache willkürlich operieren kann, sondern letztlich »die Gesellschaft« mit ihren intersubjektiven und geschichtlich bedingten Verbindlichkeiten. Das ist zweifellos eine Möglichkeit, Wiredus unglücklich formulierte Position plausibler zu machen, den rational nicht völlig aufzuhellenden Entstehungskontext einer als wahr behaupteten Aussage näher zu erläutern. Man könnte es auch so ausdrücken: Wiredu sagt zwar, es gebe »ebenso viele Wahrheiten wie es verschiedene Standpunkte (»points of view«) gibt«.[92] Aber er versäumt   zu sagen, wie viele Standpunkte es gibt, d.h. wann ein Standpunkt nicht beliebig ist, sondern einem begründbaren übersubjektiven und in diesem Sinne objektiven Zusammenhang entstammt. Diese Frage sucht Masolo mit Hilfe der Wissenssoziologie zu beantworten. Ferner verweist er mit Recht darauf, dass Wiredu für den Rechtfertigungskontext einer behaupteten Wahrheit »universal« gültige Regeln des rationalen Argumentierens voraussetzt.[93]

Daraus ergibt sich, dass im Blick auf die Konzeption Wiredus für den Entstehungskontext einer mit dem Bewusstsein, wahr zu sein, begleiteten Behauptung zusätzliche Erläuterungen notwendig sind. Nietzsche hat den Perspektivismus der Wahrheit in weitere historische Dimensionen gestellt als die Wissenssoziologie. Für bestimmte historische Perioden gilt, dass darin einmal eingenommene Standpunkte in ihren Möglichkeiten durchgespielt werden. Solche Perioden sind: die christlichplatonische Tradition der Leibfeindlichkeit oder die ihr vorausliegende Zeit der tragischen Verwicklungen in der griechischen Geschichte, die darauf beruhen, dass der Mensch nicht weiß, welches Schicksal ihm von den Göttern bestimmt ist. Für den Standpunkt jeder Periode ist es charakteristisch, dass er etwas sichtbar macht und etwas verhüllt. Das braucht für die genannten Beispiele nicht näher illustriert zu werden, denn sie sind offensichtlich ganz einseitig. Für Nietzsche gleicht die Wahrheit einem Weib, das den Schleier gebraucht, um seine Reize, indem es sie verhüllt, stärker zur Wirkung zu bringen, das sich entzieht, um begehrt zu werden.[94]

Damit ist Heideggers Wahrheitsauffassung weitgehend vorbereitet, die er als »Offenbarkeit« beschreibt, die durch das jeweilige Verhältnis von Entbergen und Verbergen gekennzeichnet wird. Das Denken der Metaphysik in der europäisch-abendländischen Tradition ist seiner Darstellung nach eine bestimmte Konstellation dieses Verhältnisses, die sich selbst als einzig mögliche, universale begreift. Das führt zu einer Fixierung und Selbstüberschätzung des metaphysischen Denkens. Ihm geht eine andere Periode voraus, in der bei den Griechen die Zeitlichkeit und damit auch die Veränderlichkeit dessen, was sich entbirgt und was dadurch zugleich verborgen wird, gedacht worden ist. Dem entspricht eine Haltung, in der es gerade darauf ankommt, jede Form der Hybris zu vermeiden.[95] Diese Periodisierung von Standpunkten oder Perspektiven der Wahrheit kommt mit derjenigen Nietzsches weitgehend überein.

Die Wissenssoziologie ist eine auf die bestimmten Verhältnisse einer jeweiligen Gesellschaft bezogene Konkretisierung der Kritik am metaphysischen Wahrheitsverständnis. Nietzsches und Heideggers Lehre von der Wahrheit steht nicht nur in weiteren historischen Dimensionen, sondern was Heidegger metaphysisches Denken nennt, umfasst auch die amerikanische Philosophie des Pragmatismus, logischen Positivismus und der Sprachanalyse. Das zeigt sich schon daran, dass diese Philosophie wie andere Spielarten der Metaphysik einen Universalitätsanspruch erhebt. Der Hintergrund dieses Denkens ist für Wiredu in starkem Mass bestimmend: Das kommt innerhalb seiner Wahrheitstheorie in der Annahme des Universalismus zum Ausdruck, der für den Rechtfertigungskontext einer Wahrheit (eines Standpunktes) vorausgesetzt ist. Damit ist zugleich auch das Gebiet der Übereinstimmung zwischen Wiredu und Oruka bezeichnet, auf das er anspielt, das er aber nicht deutlich benennen kann.[96]

Was Wiredu indessen als Entstehungskontext einer Wahrheit denkt, durchbricht den Rahmen der »analytischen Philosophie«, um die genannten Richtungen einmal so zusammenfassend zu beschreiben. Von Nietzsche und Heidegger her lässt es sich aber durchaus einem größeren Zusammenhang einordnen. Trotz seiner Kritik an Dewey wird Wirdu diesen Schritt nicht Mitvollziehen wollen, da er die entsprechenden Voraussetzungen der analytischen Philosophie nicht preiszugeben geneigt ist. Diese Zwischenstellung macht seine Position schwierig.

So gesehen ist Orukas Argumentation gegen Wiredus Wahrheitstheorie geschlossener. Sein letzter Artikel macht deutlich, dass er gegen jede Art der Auslegung einer standpunktgebundenen Wahrheit diese schließlich als universal verteidigen will. Dabei verweist er besonders auf den Status mathematisch-logischer Wahrheiten, die seine Auffassung stützen können.[97] Er erweist sich indessen in keiner Weise als offen für eine Kritik der metaphysischen Konzeption. Der Gedanke der Zeitlichkeit und Veränderlichkeit allen Seins bleibt ihm fremd.

Für Wiredu entsteht aber nun die paradoxe Situation, dass er die »analytische Philosophie«, die sich selbst universalistisch versteht, als den für das heutige Denken, das auch zur Erfassung der afrikanischen Situation benötigt wird, gültigen Standpunkt auffasst. Es geht ihm darum, die intellektuellen Grundlagen der heutigen Situation in Afrika mit den Mitteln der analytischen Philosophie zu erfassen. Das ist seine »Meinung«, die den Wahrheitsstandpunkt dieser Philosophie konkretisiert. Das führt ihn in der Tat dazu, den traditionellen Weisheitslehren der afrikanischen Völker für die Lösung dieser Aufgabe keine direkte Bedeutung zuzuerkennen. Diese sind von einem anderen Standpunkt aus gedacht. Wenn damit für Wiredu die relevanten Standpunkte genannt sind, die sich jeweils in »Meinungen« konkretisieren, wird man stark an Th. S.   Kuhns Begriff des Paradigmas erinnert.[98] Das heutige Paradigma der analytischen Philosophie ist ein anderes als das der traditionellen afrikanischen Weisheitslehren. Deshalb können beide nicht zusammengebracht werden.

Wiederum ist Orukas Position, die darin von Wiredus unterschieden ist, ganz klar. Universale Wahrheit kann nicht direkt erfasst werden. Sie konkretisiert sich in verschiedenen philosophischen Traditionen. Weil die verschiedenen Traditionen auf dasselbe Ziel gerichtet sind: die universale Wahrheit, können sie zusammenarbeiten und sich gegenseitig verstärken auf dem Weg zu dem gemeinsamen Ziel. Von der afrikanischen traditionellen Weisheitslehre aus kann ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel gegeben werden.

Deutet man hingegen die Zwiespältigkeit in Wiredus Wahrheitsauffassung von dem her, was er über den Entstehungskontext der Wahrheit sagt, fügt sie sich ein in den weiteren Zusammenhang der Kritik an der europäisch-abendländischen Metaphysik, zu der auch die analytische Philosophie mit ihrem Universalitätsanspruch zu zählen ist. Wenn man es so betrachtet, erweist sich gerade auch seine Position als sehr fruchtbar, um dem traditionellen afrikanischen Denken einen bedeutsamen Platz einzuräumen.

Die Denkmittel der Metaphysik sind zweifellos unverzichtbar, wenn die heutige Philosophie ihrer Aufgabe gerecht werden will. Denn dies ist die Philosophie, die zur Tradition und Entstehungsgeschichte der modernen Welt gehört. Darin hat Amerika und die spezifische Gestalt des europäisch-abendländischen Denkens, die dort entwickelt worden ist, einen bestimmten Platz. Aber dies alles ist ein historisch bedingter Zusammenhang. Die Kritik an der Metaphysik betont das Unzulängliche ihrer Mittel, um die gegenwärtige Situation zu erfassen. Wiredu hat dieses Problem im Blick auf Afrika treffend umschrieben, das hier gestellt ist: »Es würde uns wenig helfen, alle Technologie der Welt zu gewinnen und den humanistischen Kern unserer Kultur zu verlieren.«[99] Aber er zieht daraus nicht die Konsequenz, dass die Denkmittel der analytischen Philosophie oder überhaupt der europäischen Geschichte nur bedingt geeignet sind, um dieses Problem zu lösen.

Für Nietzsche und Heidegger beinhaltet diese Konsequenz, dass sie ein »anderes Denken« anvisieren, einen neuen Standpunkt (»point of view«) vorbereiten. Das geht nicht von heute auf morgen, es ist eine lange und schwere Arbeit. Diese Arbeit bedarf der Quellen, aus denen sie schöpfen kann. Für Nietzsche ist dies das tragische Zeitalter der Griechen und vor allem die mythologische Gestalt des Dionysos. Für Heidegger ist es die vorsokratische griechische Philosophie und die mythologische Poesie Hölderlins. Was läge näher, als dass es für Wiredu die Weisheitslehre der afrikanischen Völker ist?

Wenn wir es in dieser Weise betrachten, entsteht eine Öffnung für interkulturelle Philosophie. Kritik der Metaphysik, auch in der Form einer kritischen Metaphysik, oder allgemeiner ausgedrückt: ein kritischer Gebrauch der westlichen Philosophie und ihrer Geschichte ist notwendig, um die gegenwärtige Situation in Europa und in Afrika, das so sehr vom Westen beeinflusst ist, zu beyeifen. Die Kritik der Metaphysik, die durch Nietzsche und Heidegger ausgearbeitet ist, zeigt deren Mängel und fragt nach einem anderen Denken, das diese vermeiden kann. Die Quellen, aus denen geschöpft werden kann, um das metaphysische Denken zu transformieren, sind außerhalb dieses Denkens (oder als unterdrückte Unterströme in ihm) zu finden. Welche Quellen das sind und wie sie gebraucht werden können, ist ungewiss. Deshalb entsteht die Herausforderung, diese Leerstelle von verschiedenen Ausgangspunkten aus zu füllen. Proliferation mag eine Hilfe sein, um das Problem zu lösen. Für Europa und Afrika sind die folgenden Quellen benannt: das tragische Zeitalter in der antiken griechischen Geschichte, die vorsokratische Philosophie, mythologische Poesie, traditionelle afrikanische Weisheitslehren, Denkvoraussetzungen in den Sprachen afrikanischer Völker. Die spezifische Chance einer interkulturellen Philosophie liegt darin, die verschiedenen Quellen zusammenzubringen, um die Hilfsmittel zu maximieren auf dem Weg zu einem anderen Denken.[100]

 

Tagebuchaufzeichnung III »Fahrt durch Turkanaland«

Lake Turkana Lodge, 14.9.1989

Dieser Teil von Kenia, das Gebiet der Turkana, hat einen ganz anderen Charakter als die weiter südlich gelegenen Landstriche. Man fährt von Nairobi aus in Richtung Norden am Rand des Rift Valley entlang bis Nakuru, von dort über Eldoret, eine Handels-, Industrie- und Universitätsstadt, nach Kitale. Dann durchquert man den nördlichen Teil der Cherengani Berge und gelangt in eine Steppe. Unter sengender Sonne gedeihen nur noch Sträucher und niedrige Bäume, die sich durch Stacheln davor schützen können, völlig kahl gefressen zu werden. Ein schwacher Hauch von Grün verrät, dass in der Erde Wurzeln sind, aus denen nach dem Regen Gras wachsen wird. Eine gut asphaltierte Strasse zieht sich durch diese Einöde immer weiter in nördliche Richtung. Der Bewuchs wird immer spärlicher, die Landschaft beginnt mehr und mehr einer Stein- und Sandwüste zu gleichen. Immer häufiger trifft man auf ausgetrocknete Flussläufe, die quer zur Strasse verlaufen, wesentlich tiefer liegen und nur durch massive Betonbefestigung auch in der Regenzeit die Befahrbarkeit ermöglichen.

Es ist kaum vorstellbar, aber in dieser endlosen Steppe bewegen sich große Herden von Tieren: Ziegen, Esel, Kamele. Dann taucht ab und zu jemand auf, der diese Tiere hütet, ein hochgewachsener Mann, mit einem Tuch bekleidet, das er über einer Schulter trägt, und mit einem Stock oder Hütestab in der Hand. Nach einer Weile sieht man verlassene Siedlungsplätze in der Nähe der Strasse: Dornengestrüpp, das eine Ansiedlung umgeben hat, darin verfallene Hütten, die einstmals aus schmalen Palmblättern und Stangen gebaut waren. Dann tauchen auch bewohnte Ansiedlungen auf, kleine Dörfer mit Hütten, kralähnlichen Plätzen für das Vieh und Abgrenzungen gegenüber der Nachbarfamilie.

In einer alleinstehenden Hütte wohnt eine alte Frau, die am Boden sitzend, mit einer Art Lendenschurz bekleidet, aus Sisal Körbe flicht und im übrigen davon lebt, dass sie sechs Ziegen besitzt. Diese Ziegen nimmt ein Hütejunge mit, der mit einer größeren Herde im Umkreis von 15 km herumzieht, wo diese Tiere wunderbarerweise noch genug zu fressen finden. Was diese Frau wirklich am Leben erhält, deren Mann vor Jahren verstorben ist und deren beide Töchter verheiratet sind und nun zu der Familie ihres Mannes gehören, ist der Besuch ihres einzigen Sohnes. Er arbeitet in einem Gasthaus ungefähr 200 km südlich in den Cherengani-Bergen. Alle vier Wochen besteigt er den Bus und besucht seine Mutter, wobei er nicht mit leeren Händen kommt.

Die Menschen hier leben noch großenteils traditionell. Sie sind keine Bantu, sondern nilotischer Abstammung, darin den Masai vergleichbar. Die halbnomadische Lebensweise ist die einzige Möglichkeit, damit die Tiere auf größerer Fläche genügend Futter finden. Kleidung und Schmuck sind nicht europäisiert. Zahlreiche Ohrringe und ein Schmuckstück, das an der Unterlippe hängt, fallen auf. Die Frauen tragen um den Hals Dutzende von Ketten aus bunten Perlen und an den Armen ebenfalls Perlenketten und Armbänder aus Metall. Bei den Männern sieht man häufig Federschmuck auf dem Kopf und eine Lehmkappe, die vielleicht vor der unbarmherzigen Sonne einen gewissen Schutz bietet.

Die Fahrt durch Turkanaland dauert drei bis vier Stunden. Man passiert ein größeres Dorf und eine kleine Stadt: Lokichar und Lodwar. Dann erreicht man den Turkanasee. Die Luft scheint stillzustehen von Hitze und Staub. Es ist ein einzigartiger Anblick: ein Meer in der Steppe, 20 bis 30 km breit und mehr als 200 km lang. Das nördliche Ufer reicht bis ins Dreiländereck: Kenia-Äthiopien-Sudan. Das Wasser ist salzig und hat eine graublaue Farbe. Die Konsistenz scheint ein wenig milchig zu sein. Der Himmel über dem See ist blau, aber auch mit einem leichten Grauschleier vermischt. Diese Farbeffekte haben bewirkt, dass der Turkanasee auch See aus Jade genannt wird. Die Touristen erwartet eine gut eingerichtete lodge, auf einer Art Düne gelegen, etwa 100 m vom Seeufer entfernt. Von der Terrasse des Restaurants aus hat man einen hervorragenden Blick auf den See und die ihn umgebenden Berge.

Die Turkana, die in der Nähe des Sees wohnen, leben von der Fischerei: Der See ist so fischreich, dass bei Ebbe vor einer Sandbank zahlreiche auch größere Fische in langsam austrocknenden Wasserlachen zurückbleiben, die dann nur noch eingesammelt werden müssen, um für ein Abendessen gebraucht zu werden. Obgleich die Touristen dringend gewarnt werden, Wasser aus dem See zu trinken, sieht man am Nachmittag die Frauen zwischen dem nächstgelegenen Dorf und dem Seeufer hin und hergehen, kleinere und größere Gefäße tragend, um den täglichen Wasserbedarf ihrer Familie zu befriedigen.

In einer Broschüre, die im Souvenirladen der lodge erhältlich ist, werden auch die Rituale der Turkana beschrieben. Hier sollen nur zwei Dinge erwähnt werden: l. Es fällt auf, dass sie ganz im Unterschied zu den Masai die Beschneidung der Jungen und Mädchen, wenn sie geschlechtsreif werden, nicht mehr praktizieren. 2. Ihre Gottesvorstellung ähnelt in überraschender Weise der christlichen. »Die Turkana sind Monotheisten. Sie glauben an einen Gott, den sie Akuj nennen. Akuj ist allmächtig, männlich und den Menschen wohlgesinnt ... Er wohnt im Himmel, weit weg und doch nahe. Er ist der Vater aller Turkana ... Er beschließt letztendlich über Leben und Tod ... Er wird oft um Hilfe angerufen durch Gebete oder durch die Vermittlung des Priesters (Medizinmannes) ...«

Bei einem Spaziergang am Ufer des Sees werden Touristen sogleich von einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen umringt, die alle gut Englisch sprechen und viel zu erzählen haben, von ihrer Schule, von ihren Berufsplänen und von Reisewünschen. Niemand will Fischer oder Viehhüter werden. Die Skala reicht von Ingenieur über Pilot bis Arzt. Ein Studium in Amerika zum Nutzen des eigenen Volkes bildet die höchste Wunscherfüllung. Vorläufig sind alle noch barfuss und tragen zerschlissene Hemden und Hosen. »Und dann ist da das Problem der Bücher«, sagt ein elfjähriger Wortführer. »Wenn wir keine Bücher haben, schickt unser Lehrer uns nach Hause. Könnt Ihr uns nicht helfen? Jeder Betrag ist willkommen!« Es fällt schwer, ihnen nicht etwas Geld zu geben. Aber am Ende ist es für sie auch bereits ein Glückstag, als jeder von ihnen einen Kugelschreiber bekommt.

 

Poesie I Aus »Idanre und andere Gedichte« von Wole Soyinka[101]

Luo[102] Ebenen
Kenia

Plage

Von Kometenschweifen [103], von Bluthorizonten[104]
Wogegen sich Federbüsche[105] am Himmel abzeichnen
Welten die den Siegerwimpel[106] wollen

Seenebel

Auf ihren[107] Gruben ohne Schatten, ausgedörrt
Am Wasserloch. Schleier. Geschmolzenes Silber
Entlang dem Wolkenfluß einer Alchemisten-Sonne ...
Die graue Salbe eines Sees in der Dämmerung?

Jene Dämmerung

Ihre Augen waren wie mit Speeren der sinkenden Sonne
angespitzt
Die Farben der Jahreszeit auf ihrem Pergament, doch
Ihr verborgener See

Vergibt!

Denn sie hat wiederum die roten Dämmerungs-
Speere gemolken, giftige Schilfrohre leergesaugt
Zu einer Hirtenflöte. Die Ebenen
Sind wieder schnell auf wandernden Flügeln
Und der Kaktus
Blüht, der Adler wacht.

Plage

Von Kometenschweifen,
von Bluthorizonten
Wogegen sich Federbüsche am Himmel abzeichnen
Welten die den Siegerwimpel wollen
Seenebel
Auf ihren Gruben ohne Schatten, ausgedörrt
Am Wasserloch.
Schleier.
Geschmolzenes Silber
Entlang dem Wolkenfluß einer Alchemisten-Sonne ...
Die graue Salbe eines Sees in der Dämmerung?
Jene Dämmerung
Ihre Augen waren wie mit Speeren der sinkenden Sonne
angespitzt
Die Farben der Jahreszeit auf ihrem Pergament, doch
Ihr verborgener See
Vergibt!
Denn sie hat wiederum die roten Dämmerungs-Speere gemolken, giftige Schilfrohre leergesaugt
Zu einer Hirtenflöte. Die Ebenen
Sind wieder schnell auf wandernden Flügeln
Und der Kaktus
Blüht, der Adler wacht.

 

Philosophische Probleme VI Traditionelle Weisheitslehren

Die Bedeutung der traditionellen Weisheitslehren für die heutige afrikanische Philosophie ist bei der Besprechung der Philosophischen Probleme I-V mehrfach erwähnt worden. Ihre Bedeutung für die Aufgaben der afrikanischen Philosophie heute ist umstritten. Jedenfalls ist wichtig, dass nicht einfach traditionelle Volksweisheit als Geschichte oder Vorgeschichte der heutigen afrikanischen Philosophie und damit als Vergleichsgröße für die Geschichte der europäischen Philosophie herangezogen wird. In diesem Punkt hat Wiredu recht: man sollte nicht elaborierte Formen europäischer Philosophie mit traditioneller afrikanischer Volksweisheit vergleichen. Dann wäre es eher adäquat, die Volksweisheit der jeweiligen Traditionen nebeneinander zu stellen.[108]

Wie wir an früheren Stellen gesehen haben, hat Odera Oruka einen Unterschied eingeführt zwischen Volksweisheit (folk philosophy) und philosophischer Weisheit (sage-philosophy),[109] der von seinen Schülern und auch von anderen in der weiteren Diskussion übernommen worden ist. Diese Diskussion, die zum Teil auch auf verborgene Weise im Zusammenhang mit der Erörterung anderer Probleme (s. Philosophische Probleme V: »Zur Diskussion der Wahrheitsfrage«) geführt wird, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Wir wollen fragen: worum handelt es sich bei den traditionellen Weisheitslehren? Was sind ihre hauptsächlichen Inhalte? Welche Beispiele sind verfügbar?

Bevor wir diesen Fragen nachgehen, sollte wohl noch einmal unterstrichen werden, dass die Kriterien, nach denen »folk philosophy« und »sage-philosophy« unterschieden werden (kritisch, Reflexion zweiter Stufe/Ordnung, rational nachvollziehbar, individuell verantwortet, methodisch bewusst) einseitig an der heutigen Gestalt der europäischen und US-amerikanischen Philosophie orientiert sind. Es ist zwar realistisch anzunehmen, dass nur eine Philosophie, die den Massstäben der herrschenden europäischen und US-amerikanischen Schulen gerecht wird, Aussicht hat, in der internationalen Diskussion ernstgenommen zu werden. Zugleich beugt man sich aber mit der einseitigen Orientierung an dieser Gestalt der Philosophie dem Herrschafstanspruch, den sie erhebt. Vom Standpunkt einer interkulturellen Philosophie aus wäre zu wünschen, dass von den traditionellen Weisheitslehren nicht nur dasjenige ermittelt, aufgezeichnet, übersetzt und veröffentlicht wird, was den genannten Kriterien entspricht.

Es ist zwar wahr, dass der philosophische Gesprächspartner der weisen Männer nur von den Voraussetzungen seiner philosophischen Schulung aus Fragen stellen und das Gespräch in vorsichtiger Weise beeinflussen kann, um Inhalte in Erfahrung zu bringen, die den Rang philosophischer Weisheit besitzen. Diese Voraussetzungen sollten aber im Gespräch selbst aufs Spiel gesetzt werden. Es ist ja durchaus möglich, dass die Weisheitslehrer über eigene Kriterien verfügen, um alltägliche und philosophische Weisheit voneinander zu unterscheiden. Und umgekehrt kann man fragen: Warum steht das kritische Denken heute in so hohem Ansehen? »Kritik der Macht« ist notwendig und bleibt eine wichtige Aufgabe der Philosophie.[110] Es ist jedoch ein Irrglaube der Aufklärung, dass Macht letzten Endes aufhebbar sei. Zur Macht gehört Gegenmacht, und die Philosophie steht mit der zweiten häufig genug auf einleuchtende Weise im Bunde. Wir sollten indessen nicht vergessen, dass noch bei Kant, dem Inaugurator der kritischen Philosophie, der Begriff Kritik breiter gemeint ist als im Neopositivismus oder in der Frankfurter Schule. Kant meint damit bekanntlich: das Ausmessen des Geltungsbereiches objektiver Erkenntnis, ethisch akzeptabler Handlungsmaximen und allgemein anerkannter Urteile über Zweckmäßigkeit und Schönheit.

Auch für die Erforschung der traditionellen afrikanischen Weisheitslehren gibt es eine ethnologische oder ethnophilosophische Phase. Bekannte Beispiele hierfür sind M. Griaules Gespräche mit Ogotemmeli, einem Vertreter der Dogon im heutigen Mali, und die Forschungen von J.O. Sodipo und B. Hallen zur Unterscheidung von Glauben und Wissen im Denken der Yoruba im heutigen Nigeria.[111] Oruka zeigt, dass es bei Ogotemmeli und bei den von Sodipo/Hallen befragten »Onisegun (masters of medicine)« nicht um philosophische Weise in seinem Sinn geht. Ogotemmeli hat sich nicht ausreichend von religiösmythischen Vorstellungen frei gemacht und die »Onisegun« reflektieren nicht auf den spezifischen Weisheitscharakter ihrer Weisheit (erster Stufe). Es wird deutlich sein, dass die westliche Wissenschaftsdogmatik bei diesen Abgrenzungen mit im Spiel ist. Wichtiger scheint uns, dass die Ethnologen oder Ethnophilosophen von außen kommen und die Denkinhalte der Dogon oder Yoruba zum Gegenstand objektivierender Beschreibung machen. Diesem methodischen Dilemma bleiben auch Oruka und seine Schüler stärker verhaftet als nötig.

Bis heute ist Odera Oruka sehr sparsam in der Mitteilung von Inhalten der »sage-philosophy«, die er unter dem Titel Thoughts of Kenyan Sages gesammelt hat.[112] Diese Arbeit ist freilich auch noch unabgeschlossen, das Ziel einer flächendeckenden Befragung traditionell weiser Männer im gesamten Gebiet des heutigen Kenia noch nicht erreicht. Größere zusammenhängende Texte finden sich in der bereits erwähnten Dissertation von A.S. Oseghare, einem nigerianischen Philosophen, der in Nairobi bei Oruka und Masolo promoviert hat über The relevance of sagacious reasoning in African philosophy (1985). Kapitel IV bietet unter dem Titel »Some Kenya Paradigm Cases« Gedanken folgender weiser Männer zu bestimmten Themen[113]:

A. Paul Mbuya (Luo)

I. Der lineare Zeitbegriff der Luo
II. Religion und der Begriff Gottes
III. Die Erziehung der jungen Menschen
IV. Mann und Frau: Beide spielen gleichermassen wichtige Rollen in der Gesellschaft
V. Über die Idee des Kommunalismus
VI. Überlegenheit des Menschen über das Tier
VII. Über die Kluft zwischen Freiheit und Glück
VIII. Über Gesetz und Strafe
IX Völker verschiedener Rassen und Stämme müssen lernen, in Frieden zusammenzuleben
X. Über das Verhältnis von Leben und Tod

B. Oruka Ranginya (Luo)

I. Der Begriff der Zeit und Geschichte
II. Über Religion und den Gottesbegriff
III. Über die Erziehung der Jugend
IV. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau: Familie und Gesellschaft
V. Der Mensch ist den Tieren überlegen
VI. Über den Begriff »Tuyanga« (Freiheit)
VII. Gesetz und Strafe
VIII. Die Unterschiede zwischen Rassen und Stämmen sind nur Schein, nicht wirklich
IX. Medizinmänner sind kluge »Psychologen«
X. Darüber, warum Menschen sterben: Der Tod ist die Weise der Natur, den Stoffwechsel im Universum zu vollziehen.
XI. Der Himmel ist deshalb eine Illusion

C. Nyandara Oigara (Kisii)

I. Über Gott, Religion und Gesellschaft
II. Verstehen kommt vor dem Erklären
III. Die Idee der Zeit bei den Kisii
IV: Anachronismus und traditionelle Glaubensinhalte und Werte
V. Einige Geheimnisse des Universums
VI. Über Privateigentum in der traditionellen Kisii-Gesellschaft
VII: Über Gesetz und Strafe
VIII. Gegen Tribalismus
IX. Die Idee der Freiheit

Die Fragen nach dem Zeitverständnis nehmen offensichtlich eine herausgehobene Stellung ein. Insbesondere die Betonung der Zukunft als eigenständiger Dimension, die durch den Fragesteller ins Spiel kommt, ist durch den Widerspruch zu J.S. Mbitis These zu erklären, die dieser zum Ausgangspunkt seiner Religionsphilosophie gemacht hat, die Afrikaner verfügten nicht über ein Wort für Zukunft im Sinne einer ferneren Zukunft und hätten auch der Sache nach kein Bewusstsein davon.[114] Auf diese These, die den Befund eines afrikanischen Stammes unzulässig verallgemeinert, wenn dieser Befund überhaupt richtig ist, werden wir noch zurückkommen.[115] Für die Luo und Kisii gilt er offensichtlich nicht. Wie ein lange zurückliegendes Ereignis durch den Zusammenhang mit einer Hungersnot oder einem Krieg zeitlich eingeordnet werden kann, so haben Seher und Propheten auf derartige Ereignisse in ferner Zukunft hingewiesen. Im übrigen erweist sich der Zeitbegriff der Luo nicht als ärmer, sondern eher als reicher im Vergleich zum europäischen. Neben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es »chieng«, das sich auf vergangene und zukünftige Ereignisse beziehen kann. Es drückt aus, dass ein nicht gegenwärtiges Ereignis zeitneutral zu verstehen ist.

Fragesteller und weise Männer scheinen darüber einig zu sein, dass Fragen der Religion eine hohe Priorität zukommt. Religiöse Auffassungen und religiöse Gebräuche haben offenbar traditionellerweise für die praktische Lebensbewältigung eine große Bedeutung. Die Wichtigkeit dieses Bereiches wird dadurch bestätigt, dass die Konfrontation mit den Europäern, die in Afrika eindringen, immer zugleich eine Konfrontation mit ihrer Religion ist. Die weisen Männer zeichnen sich dadurch aus, dass sie Zaubern und Wunderglaube rational erklären, bis hin zu der Auffassung, dass der Himmel als Ort Gottes oder der Toten eine Illusion sei. Oruka Ranginya will offenbar sagen, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist. Das leitende Interesse dieser Darlegungen scheint mir zu sein, dass die traditionellen Religionen gegenüber dem Christentum nicht als naiv oder »abergläubisch« abgetan werden können.

Schließlich haben auch Erziehungsprobleme einen hohen Stellenwert. Der Wandel ist in diesem Gebiet tiefgreifend: von traditioneller Eingliederung in den Stammverband zu modern europäisierter Schule, die ein Tor zur Welt ist, sowohl zur eigenen sich modernisierenden Welt als auch zur Welt draußen. Erziehung war und ist in himmelweit voneinander verschiedenen Kontexten eine wichtige Sache. Das drückt sich darin aus, dass die Fragen nach ihrer traditionellen Bedeutung bei den Gesprächen mit Paul Mbuya und Oruka Ranginya auf Platz III stehen. Im Gespräch mit Nyandara Oigara kommen diese Fragen allerdings nicht ausdrücklich zur Sprache.

Auch für das Mann-Frau-Verhältnis gilt, dass sich vieles verändert hat und dass für die traditionellen Formen ein Erklärungsbedarf besteht. Die Rolle der Frau war nicht einfach schlechter als in Zeiten weitgehender Emanzipation. Sie muss aus ganz anderen Lebenszusammenhängen verstanden werden.

Gesetz und Strafe sind nichts Neues, seit die Europäer kamen. Ihre Funktionen in der Gesellschaft und für die Gesellschaft waren deutlich festgelegt.

Freiheit wird in ihrer Relativität erfahren und begriffen, um diesen Punkt als letzten herauszugreifen. Vollständige Bindungslosigkeit darf nicht mit Freiheit verwechselt werden. Die Situationen vor der Befreiung, der Befreiung selbst und danach geben allen Anlass zu der Frage: »Was bedeutet Freiheit wirklich?«.

Dies alles ist nicht als zusammenfassendes Referat der Gespräche mit den drei weisen Männern aus Kenia gemeint. Das Material, das diese Gespräche ans Licht gebracht haben, sollte so bald wie möglich veröffentlicht werden, damit traditionelle afrikanische Weisheitslehre, soweit sie noch besteht und dokumentierbar ist, Teil der philosophischen Weltliteratur werden kann.[116] Mein Interesse war, sichtbar zu machen, warum die Fachphilosophen welche Fragen stellen und aus welcher Situation heraus die weisen Männer antworten und argumentieren. Denn die traditionellen Weisheitslehren waren für ihre Überlieferung und Weiterentwicklung an praktische Situationen gebunden, wo sie Hilfe und Rat in schwierigen Umständen bieten sollten. Ist ein Krieg geboten? Wie kann man eine Dürrezeit am ehesten überstehen? Wie sind persönliche Schwierigkeiten oder soziale Konflikte zu lösen, wenn die Betroffenen keinen Ausweg mehr sehen? Das Durchdenken solcher Fragen führt zu einem Vorrat an Weisheit und im Blick auf solche Fragen wird aus diesem Vorrat geschöpft und wird er zugleich weiter angereichert. Dieser praktische Bezug ist auch für die afrikanische Philosophie heute von großer Wichtigkeit. Darin hält sich die Tradition der philosophischen Weisheitslehren durch. Die Erforschung und Dokumentation dieser Lehren sollte nicht selbst quasi situationlos erfolgen oder ohne Reflexion auf die Situationsbestimmtheit, die für diese ganze Arbeit und für die einzelnen zu stellenden Fragen massgebend ist.

 

Poesie II Für Mirjam
Aus einer Einleitung in ostafrikanische Poesie (zum Schulgebrauch)[117]

Einleitung der Herausgeber

Die Sprecherin in dem Gedicht Für Mirjam ist eine alte Frau, die ihren Enkelkindern von ihren Erfahrungen erzählt, seit »der Westen Einlas fand«. Am Ende jeder Strophe steht der Refrain: »Ich bin immer noch ich«. Die Bedeutung dieses Verses wird schrittweise deutlicher, wenn das Gedicht weitergeht. Wenn du liest, bedenke, was für die Sprecherin durch die Veränderungen hin, die sie beschreibt, dasselbe bleibt.

Text

Kinder, warum fürchtet ihr euch, warum wendet ihr euch ab? Wisst ihr nicht, dass diese knorrigen, rauen Hände dieselben sind,
die eure Brüder aus dem Mutterleib holten und zogen?
Diese roten Augen sahen euch zuerst. Diese geschwollenen Füße
liefen, um Wasser zu holen, zur Labsal eures Vaters.
Dieses schwächer werdende Gedächtnis war schnell darin,
die Schillinge abzuzählen, um ihn zur Schule zu schicken. Er kann euch sagen, wie.
Ich bin immer noch ich.
Warum zweifelt ihr? Weil die Finger hart sind und steif?
Hart, ja, Töpfe vom Feuer heben, die von der Hitze zerborstenen Furchen hacken, das Getreide dreschen, die Bohnen doppen,
Kinder hart zu strafen, aber formend, gerade heraus, ganz eingehend auf jedes und voll Liebe. Ihr lacht? Wann änderte sich dies?

Ich weiß es nicht. Nur zu wahr, die Tasse zittert, die Nadel weicht dem Faden aus. Gelenke knirschen. Doch ich streichle euch.
Ich bin immer noch ich.
Zieh dich selbst an, Kind. Sieh, wie ich mit Sorgfalt
mich bedecke, es sei denn, dass manchmal Fieber mich schüttelt
und ich Ort und Zeit vergesse. Doch wahrlich,
das erste Tuch war Verwirrung für mich, wir schämten uns
auf neu begangenen Wegen. Aber wir kannten unsere bescheidenen Pflichten,
gingen lustig dann, listig, pflichtbewusst, erwartungsvoll, lachten über den Fremden. Ihr lacht und ich lache auch.
Ich bin immer noch ich.
Wir versteckten uns vor den Impfärzten unten am Fluss lacht, ihr seht es vor euch, wie ich dort sitze, typisch ich, mit einem Baby, laut schreiend im Ried,
die Ärzte und Helfer wütend. Aber Strasse und Markt breiteten schnell sich aus, wir hatten keine Verstecke mehr.
Keine Angst so lange man das Blut für sich selbst behält und betet,
Bett und Bettzeug getrennt. Jetzt können sie mich nicht mehr umkrempeln.
Ich bin immer noch ich.
Wir schrieen unsere Sorge hinaus, standen getadelt, so wendeten wir uns
um zu Jesus, verwandelten uns und wurden neu gemacht. Die Pfeife ist zerbrochen und die Perlen verstreut, die Kinder eingeschult, die Schriften auswendig gelernt.
Ich kenne neue Verpflichtungen, Gesichter, Begräbnisse,
doch selbst das Selbst im Heiland immer noch dasselbe, immer noch hart, listig, lachend. Er gibt mich mir zurück.
Ich bin immer noch ich.
Dies Baby-Gesicht ist bleich, aber seht die Züge,
Linie für Linie gleichen sie den meinen. Dieser wird zur Schule
gehen, jener auch, einer graben, einer in der Stadt leben.
Du brauchst es mir nicht zu sagen. Bin ich nicht gewachsen,
stieg ich nicht steile Treppen, sah sich bewegende Bilder sprechen,
ass gesittet, bat um alle Gerätschaften,
die sie an meinen Ort nicht brachten. Alt, niemandes Narr,
ich bin immer noch ich.
Das Afrika unserer Väter hat sich nicht verändert,
Zählt nicht Alter noch? Die Bande sind dieselben,
das Blut, gehütet und gegründet, gibt Nahrung neuem Leben.
Die Pfade wie Adern sind befestigt zu Strassen,
stummer Tausch kristallisiert zu Münzen,
der morgendliche sonnenbeschienene Speichel trocknete auf unseren Lippen,
die Wanderung steht still, doch Mutter Afrika lacht,
ich bin immer noch ich.
Dinge, die offen waren, weil wir sie gut fanden,
sind nun diskret bedeckt, Brüste mit Kleidung,
Blut-Fehde durch Grenzmarkierung, Waffen durch die Scheide,
Vaterschaft durch heimliche Verbindung. Dinge, die bedeckt waren,
weil wir sie damals schlecht fanden, liegen nun weit offen, unerwünschte Babys,
unbezahltes Vieh, Weisen, den Schoß zu verschließen. Obgleich Zauberei weitergeht,
 ich bin immer noch ich.
Kannst du dich der Zeit erinnern als das heimische Misawa[118]
ebenso fremd klang wie Jambo[119]? Damals ernährten wir uns von Bohnen,
Getreide und Milch, sahen unsere Träume Wirklichkeit werden.
Sprich nicht zu mir von Veränderung, nicht einmal von Freiheit:
Ich habe Veränderungen mitgemacht, und ich bin zufrieden,
wurde gerettet, bin frei. Wenn Sprache und Temperament vergehen,
der Körper steif wird und verfällt, warum fürchtest du dich?
Ich bin immer noch ich.

Marjorie Oludhe Macgoye

 

Philosophische Probleme VII Gott und die Geister

Für Tempels, Jahn und Mbiti, die in früheren Abschnitten als Ethnophilosophen gekennzeichnet worden sind (s. Philosophische Probleme II: »Geschichte«), gehören Religion und Philosophie sehr eng zusammen. In der Tat besitzen religiöse Fragen in den traditionellen Weisheitslehren Afrikas eine hohe Priorität. Das hat sich auch bei der Darstellung der Auffassungen weiser Männer in Kenia gezeigt (Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren«). Und es bestätigt sich in K. Gyekyes Buch über das Denksystem der Akan im heutigen Ghana. Das erste Kapitel der Darstellung dieses Denkens handelt von »Gott und anderen Kategorien des Seins«.[120] Gyekye situiert Gott dabei nicht an der Spitze einer Seinspyramide, wie es E.G. Parrinder noch getan hat, sondern als oberste Sprosse einer »Leiter«, bei der die höhere jeweils Verfügungsgewalt über die niedrigere(n) hat.[121] Dennoch wird man vorsichtig sein müssen. Die traditionellen weisen Männer sind nicht notwendigerweise Priester oder Leiter der religiösen Rituale. (Bei den Priestern sind auch häufig Frauen anzutreffen.) Es gibt eine eigene Tradition der Weisheitslehre. Und mit der Entstehung der »Departments of Philosophy« ist ein selbständiges Fach hervorgetreten, das zunächst häufig mit den »Departments of Religious Studies« eine Einheit bildete, dann aber Philosophie als eigenständiges Gebiet konstituiert hat.

Es besteht noch immer eine besondere Nähe der Philosophie zu den Religionswissenschaften, Das mag in derselben Weise als kennzeichnend gelten für die afrikanischen Universitäten wie die Tatsache, dass sie gewöhnlich keine besonderen theologischen Fakultäten etwa für christliche oder islamische Theologie kennen, sondern eben Religionswissenschaften als eine Abteilung (Department) innerhalb der »Faculty of Arts«. Sofern die Philosophie auch Weltdeutung ist, Begründung des Sinns der Welt und des Lebens, erhält sie in Afrika allermeist eine religiöse Dimension.

Von christlicher Seite aus war es früher üblich, den Unterschied zu betonen zwischen primitiven, heidnischen Religionen in Afrika und der eigenen Hochreligion. Was vor allem Abscheu und Abkehr auslöste, war der Fetischismus, die sog. Verehrung und Anbetung toter Dinge, die von den Menschen selbst gemacht sind. Gerade auch für religiöse Vorstellungen wurden Evolutionstheorien im Sinne E.B. Tylors gebraucht. Das primitive Stadium galt als historisch frühes, das in einem langen Entwicklungsprozess zu den Höhen des Christentums gelangt war. Als Kennzeichen historisch früher Perioden gilt unter anderem, dass sie nicht über schriftliche Überlieferungs- und Kommunikations-Formen verfügen. Das sind sehr problematische Gesichtspunkte. Parrinder konstatiert dann auch, »dass afrikanische Religion mehr missverstanden wurde als jedweder andere Teil des afrikanischen Lebens«.[122]

Neuerdings ist eine umgekehrte Sichtweise vorherrschend. Die afrikanischen Religionen werden so gedeutet, dass sie von sich aus zu den Lehren der christlichen Religion hinführen. In dieser Hinsicht hat das Werk J.S. Mbitis, eines katholischen Priesters afrikanischer Herkunft und Professors an der Makerere-Universität in Uganda, Schule gemacht. Er hat die Vielfalt afrikanischer religiöser Vorstellungen studiert und unter bestimmten Rubriken zusammengefasst.[123] In diesem Punkt setzt er das Werk von Parrinder u.a. fort. Wenn er großes Gewicht darauf legt, dass diese Religionen im Grunde monotheistisch sind oder eine Ten denz zum Monotheismus erkennen lassen, folgt er dem Grundmotiv der Studien von Tempels. Mehr oder weniger in apologetischer Absicht kehrt dieses Motiv in vielen religionswissenschaftlichen und religionsphilosophischen Texten wieder,[124] bis hin zu dem erwähnten Abschnitt in K. Gyekyes Buch (s. Anm. 1). Wozu bedarf es einer solchen Apologetik?

Diese letztere Sichtweise korrespondiert mit einer bestimmten Deutung der Kolonialgeschichte. Während die politische Unterwerfung und die gesellschaftliche Bevormundung kritisch gesehen werden, erscheint die christliche Mission als ein positives Geschehen. In der Literatur wird zwar häufig gezeigt, wie politisch-gesellschaftliche Unterwerfung und Christianisierung sich gegenseitig in die Hand spielen, etwa in Ch. Achebes Things fall apart.[125]Aber die positive Deutung der christlichen Mission, die einer inneren Tendenz in den afrikanischen Religionen zum Durchbruch verhelfe, hält sich daneben mit großer Hartnäckigkeit. Sie wird in dem oben zitierten Gedicht mit unübertrefflicher Prägnanz zum Ausdruck gebracht: »Er (der Heiland) gibt mich mir zurück« (s. Poesie II). Vielleicht muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass die christlichen Kirchen den Sklavenhandel mehr geduldet als aktiv betrieben haben und seit dem frühen 19. Jahrhundert an seiner Abschaffung mitgewirkt haben.

Dass die Afrikaner sich das Christentum weitgehend zu eigen gemacht haben, zeigt sich an den vielen unabhängigen christlichen Kirchen, die sich von ihren ursprünglichen Missionskirchen gelöst haben und Formen des Christentums entwickeln, die dem afrikanischen Temperament und der traditionellen afrikanischen Kultur stärker angepasst sind. Es wird spontan gesungen, in die Hände geklatscht und getanzt. In Südafrika und dort vor allem in den (in der Apartheidszeit) sog. Homelands hat man etwa 1000 verschiedene »Independent Christian Churches« gezählt.[126] Diese Bewegung wächst in vielen Ländern Afrikas. Der Katholizismus ist hiervon freilich nicht betroffen. Er hat auch stärker als die protestantischen Denominationen die genannten Stilelemente in den Gottesdienst aufgenommen. Neben unabhängigen anglikanischen Gemeinden trifft man häufig auf solche, die zur Pfingstbewegung gehören (Independent Pentecostal Churches).

Zur näheren Veranschaulichung: Auf einer Fahrt von Legon-Accra nach Koforidua in Ghana (Entfernung etwa 60 km) habe ich 13 verschiedene christliche Kirchen und Gemeinschaftshäuser gesehen und 1 Moschee. 5 Kirchen waren europäischer Herkunft: Presbyterian, Roman Catholic, Methodist, Baptist und YMCA; 8 Kirchen waren unabhängig afrikanisch-christlich: Christian Faith Fellowship, 12 Apostles Healing Church, Apostolic Revelation Society, Brethren of the Cross Church, Nazarene Healing Church, Light of Christ Church, Mosame Disco Christian Church und Brothers of St. John of God. Die Kirchen europäischer Herkunft befanden sich hauptsächlich in den größeren Ortschaften, die unabhängigen in kleineren Dörfern. Auf einer Fahrt in eine andere Richtung kann man erwarten, einige dieser acht unabhängigen Kirchen wiederzufinden, aber gewiss auch einige andere, die auf dieser Strecke nicht vertreten waren. Bei einer solchen Zählung darf man freilich nicht vergessen, dass diese Beobachtungen für die südlichen und mittleren Gebiete Ghanas gelten. Je weiter man nach Norden kommt, desto mehr verschiebt sich das Verhältnis von Christen und Moslems zugunsten der letzteren, und es gibt Gebiete, in denen die traditionellen Religionen deutlich überwiegen (s. Tagebuchaufzeichnung VI: »Ein Wind von Norden«).

Nun ist es zwar richtig, dass die religiöse Situation in Afrika südlich der Sahara überwiegend vom Christentum bestimmt ist und von der christlichen Sicht auf die traditionellen Religionen. Man darf indessen den Einfluss des Islam nicht unerwähnt lassen. Grob gesprochen ist von Arabien und von nördlich der Sahara aus in südliche Richtung missioniert worden. Dies geschah weniger im Zuge politischer Unterwerfung als ökonomischer Beeinflussung. Jedermann, der Handelspartner war, hatte Zugang zum islamischen Glauben.[127] Zu einem nicht geringen Teil war der Handel, den die Araber mit den Afrikanern trieben, freilich Sklavenhandel. Im 18. und 19. Jahrhundert übernahmen in Westafrika einige theokratische Königreiche (Masina, Samori, Fulani, Bornu) den Islam, ohne ihre traditionellen Religionsformen ganz fallen zu lassen.[128] Heute ist ein Streifen südlich entlang der Sahara, der von Senegal und Guinea über Teile Malis und Burkina Fasos, Nigers, Tschads und den Sudan bis ins südliche Äthiopien und nach Somalia reicht, stark islamitisch geprägt. Hinzukommt die Suahili-Kultur in Ostafrika, die entlang der Küste des heutigen Kenia und Tansania seit dem 15. Jahrhundert von arabischen Händlern beeinflusst wurde. Die besondere Rolle, die hierbei die der Küste vorgelagerten Inseln, insbesondere Lamu und Sansibar, gespielt haben, ist bekannt.

Die traditionellen Religionen sind freilich nicht verschwunden. Die Vielfalt der Rituale in ihnen ist unübersehbar groß. In dem Band African traditional religion (19623) sucht E.G. Parrinder einen zusammenfassenden Überblick zu geben, der auf seinen eigenen früheren Forschungen und auf einer Kenntnis der einschlägigen ethnologischen und ethnographischen Literatur basiert. Allenthalben findet man die Annahme eines höchsten Wesens und einer Welt der Geister, die als Zwischeninstanz fungiert. In Westafrika werden auch zahlreiche Naturgottheiten (Blitz und Donner, Regen, die fruchtbare Erde, starke oder kluge Tiere usw.) verehrt, die gewissermassen zwischen dem höchsten Wesen und den Geistern stehen. Die letzteren sind Personifizierungen spiritueller Kräfte (Magie, Zauberei, Beschwörung) und die nach dem Tod weiterlebenden Eltern und Voreltern (»ancestors«). Alles, was geschieht, hat eine Ursache in der Geisterwelt. Eine Krankheit z.B. kann darauf beruhen, dass man einem der Verstorbenen nicht die erforderliche Ehre erwiesen hat, die vor allem in Trankopfern (»libations«) und anderen Gaben besteht. Dabei werden noch die gerade erst Verstorbenen (»living dead«), die noch den endgültigen Weg in die Geisterwelt finden müssen, und die seit längerer Zeit Verstorbenen (»dead«) unterschieden, von denen vor allem diejenigen wichtig sind, die im Leben eine einflussreiche Rolle gespielt haben.

Man kann individuelle Rituale (Geburt, Beschneidung, Heirat, Tod) und auf die soziale Gruppe bezogene Rituale (Erntefeste, Dankfeste für bestimmte Gottheiten, Siegesfeste usw.) unterscheiden. Die Rituale werden geleitet von hierfür besonders ausgesuchten Männern und Frauen. In Westafrika, wo es für die Gottheiten bestimmte Altäre (»shrines«) und Tempel gibt, kann man auch von Priestern sprechen, die auf ihre Arbeit in einer längeren Einweihungsperiode vorbereitet werden. In den »shrines« und Tempeln befinden sich Fetische (Figuren aus Holz, Keramik oder anderem Material), die bestimmte Bedeutungen haben (Fruchtbarkeit, Tapferkeit im Krieg, Gesundheit usw.) und helfen können, die darin ausgedrückten Wünsche zu verwirklichen. Religiös besonders bedeutsame Personen sind ferner Magier und Zauberer, die über Zauberkraft (»witchcraft«) verfügen, und Heiler (»witch-doctors«), die häufig auf bestimmte Krankheiten spezialisiert sind und über große Kenntnisse heilkräftiger Kräuter verfügen.

In einem Land wie Benin kann man für die gesamte Bevölkerung sagen, dass sie in ihrer Mehrheit an den traditionellen Religionen festhält. Für dieses Land ist kennzeichnend, dass vor allem im Küstengebiet der Voodoo-Kult sehr verbreitet ist. Das ist eine Religion, die von Sklaven wieder eingeführt wurde, die als freie Menschen aus Brasilien, Cuba oder Haiti nach Benin (früher Dahomey) zurückkehrten. Die ekstatischen Zustände der von Gott »Besessenen«, die zu diesem Kult gehören, sind häufig missverstanden worden. Im Zusammenhang afrikanischer Religionen bilden sie eher eine »normale« Erscheinung.

Voodoo kommt aus der Fon-Sprache, die im Süden Benins vorherrscht, und bedeutet »Gott« oder »Geist«. Der Voodoo-Kult gehört zu der religiösen Strömung des Juju, die in Westafrika sehr verbreitet ist (und in ehemaligen französischen Kolonien auch »grigri« heißt). Die Voodoo- und Juju-Zeremonien sind meistens Tanzfeste. Dabei haben Priester oder häufig auch Priesterinnen eine leitende Funktion. Aber jeder kann von Gott ergriffen (»besessen«) werden. Fetische bilden die eigentlichen Kultgegenstände. Sie beinhalten eine besondere Kraft; mit ihrer Hilfe können die Götter herbeigerufen werden. Eine wichtige Rolle spielt auch, dass Gin oder Schnaps den Göttern geopfert (spirit for the spirits) und von den am Kult Beteiligten getrunken wird. Ferner sind Heilzeremonien wichtig, bei denen vor allem Hühner gebraucht und auch als Opfertiere geschlachtet werden. Auch Speisen, Spirituosen und Tabak werden den Göttern als Gaben dargebracht.

Wie kann man aber nun den Übergang von traditionellen Religionen zum Christentum und zum Islam im heutigen Afrika philosophisch deuten? Der Titel des Buches von Mbiti: African religions and philosophy legt den Gedanken nahe, dass der Vielfalt der Religionen eine Philosophie gegenübersteht. In der Tat will Mbiti die vielen religiösen Vorstellungen, die er in Afrika findet, von einer bestimmten philosophischen Konzeption aus erklären. Er wählt hierfür den Zeitbegriff. Die Bantu-Sprachen, von denen er ausgeht (Kikamba und Gikuyu), kennen nach seiner Darstellung eine weit zurückreichende Vergangenheit (Zamani) und eine die rezente Vergangenheit und die kurz bevorstehende Zukunft mit umfassende Gegenwart (Sasa), jedoch keine echte Zukunft. Für Mbiti ist Zeit im traditionellen afrikanischen Denken »ein zweidimensionales Phänomen«.[129] Die traditionellen Kulte und Rituale sind an den Jahreslauf gebunden (Fruchtbarkeitsriten) und an die Einschnitte im individuellen Lebenslauf (Initiationsriten wie Beschneidung, Heirat, Kindes-Weihe, Übergang ins Alter der Weisheit). Die christliche Religion bringt eine »Befreiung« aus dem zyklischen Denken, die Ausrichtung auf ein Ziel, das Kommen des Gottesreiches in der Zukunft. Dadurch wird die Tendenz zur Annahme eines Gottes, der die höchste ontologische Kategorie des afrikanischen Denkens ist, definitiv gemacht.[130]

Mbitis Deutung der afrikanischen Religionen im Zusammenhang eines zweidimensionalen Zeitbegriffs ist vielfach kritisiert und abgelehnt worden. Besonders gründlich und klar in der Argumentation ist wiederum Hountondjis Buch.[131] Wie Tempels mit seiner Ontologie der Bantu macht Mbiti den Fehler, von einigen wenigen Bantu-Sprachen aus auf das afrikanische Denken im allgemeinen zu schließen. Es wird gezeigt, dass nicht nur westafrikanische Völker wie die Akan oder die Yoruba,[132] sondern auch Bantu-Stämme wie die Luo oder die Kisii (s. Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren«) die entferntere Zukunft der Sache nach kennen und dafür auch Worte haben.

Inhaltlich gesehen kann Mbitis Deutung als widerlegt gelten. Seine Methode bleibt jedoch charakteristisch für die Erklärung des Verhältnisses der traditionellen afrikanischen Religionen zu Christentum und Islam. Es geht immer wieder darum, dass von der Vielfalt der Götter und der transzendenten Wesen (Naturgottheiten und Geister) zu einem strikten Monotheismus fortgeschritten wird, zu dem Glauben an einen Gott. Diese auf Einheit gerichtete Entwicklung wird auch in der Deutung des Einflusses der islamischen Religion auf die afrikanischen religiösen Vor-Stellungen stark unterstrichen. Die Einheit Gottes verlangt die Einheit des Gottesdienstes und die Einheit der Gläubigen. Diese dreifache Einheit wird zusammengefasst als »shari'a«.[133] Damit ordnen sich die christliche und islamische Theologie der Geschichte des Einheitsdenkens ein. Denken heißt zur Einheit bringen. Religionsphilosophisch führt dies zur Annahme einer Entwicklung von der Vielgötterei des Animismus und des Fetischismus zur Lehre von dem einen Gott, der über alle und alles herrscht. Von hier aus lässt sich M. Webers These, die ja auch weitgehend religionsphilosophisch unterbaut ist, die »Entzauberung der Welt« sei ein universaler Rationalisierungsprozess, als Unifizierungsprozess deuten.[134]

Dem Monotheismus entspricht sozialpolitisch die Monarchie. Es gibt einen Herrscher, dem sich die verschiedenen sozialen Klassen oder Schichten unterordnen. Gott an der Spitze der Seinspyramide oder als oberste Sprosse einer »Leiter« repräsentiert im Feld der Religionsphilosophie ein hierarchisches Denkmodell. Jesus verkündigt nichts anderes als die »Königsherrschaft Gottes«. Hier bestätigt sich, dass Einheitsdenken Herrschaftsdenken ist. So gesehen erhalten traditionelle religiöse Vorstellungen in Afrika, die in dieser Hinsicht eine gewisse Offenheit erkennen lassen, einen deutlichen Vorzug. Gott als höchstes Wesen ist die stärkste Kraft im Kräftespiel des Seins. Dass dies nicht immer und überall deutlich zu erkennen ist, erscheint keineswegs als unangemessen. Zu diesem Kräftespiel gehören in Westafrika auch die Naturgottheiten und überall in Afrika die Geister, in denen die Verstorbenen auf gute oder auf böse Weise präsent sind. Bestimmte Tiere oder Dinge können zu Symbolen transzendenter Kräfte werden. Freilich ist Gott letztlich stärker als der Löwe und schlauer als die Schlange, er gebietet über Regen, Wind und Ungewitter. Aber trotzdem sind der Löwe und die Schlange oder der Blitz zu fürchten und bilden oft genug eine tödliche Gefahr. Davor muss man sich auf alle mögliche Weise zu schützen suchen. Gottvertrauen allein ist nicht genug.

Es ist nicht an mir, in dieser Frage Thesen aufzustellen. Es gibt mir jedoch zu denken, dass J.B. Danquah in seinem Buch The Akan doctrine of God drei Namen für das höchste Wesen unterscheidet und deren Kennzeichnung sorgfältig gegeneinander abgrenzt. »Onyame« ist die allgemeine Akan-Gottheit; »Onyamkopon Kwaame« ist Gott mit einem menschlichen Namen (Kwame heißen die am Samstag geborenen männlichen Kinder); »Odomankoma« ist Gott in seiner unendlichen Mannig-faltigkeit.[135] Gyekye hingegen beschränkt sich »der Einfachheit halber« darauf, den ersten Namen zu gebrauchen. Im übrigen unterstreicht er wie viele andere Autoren (z.B. Parrinder, Tempels, Kagame und Mbiti) den monotheistischen Charakter der afrikanischen, in diesem Fall der Akan-Religion.[136] Wenn ich zu wählen hätte, würde ich dem dritten der von Danquah mitgeteilten Gottesbegriffe den Vorzug geben. Denn er ist der umfassendste, der die anderen in sich enthält.

R. Horton, der nach seinem Aufsatz, in dem er unglücklicherweise das Nichtbestehen einer afrikanischen Philosophie konstatiert hat (s. Philosophische Probleme I), von der Universität in Ife an die in Port Harcourt in Nigeria übergewechselt ist, kommt in der Frage des Einen Gottes zu Ergebnissen, durch welche die etwas krampfhaften Monotheismusthesen in ein neues Licht gerückt werden. Er zeigt, dass sich die Alternative Monotheismus oder Polytheismus so nicht stellt. Die vielen Geister und Gottheiten sind in der religiösen Praxis auf einer anderen Ebene angesiedelt als der Eine Gott oder das höchste Wesen. Für private und familiäre Probleme, auch für Fragen des Dorfes und der überschaubaren Lebensgemeinschaft werden jeweils verschiedene Geister und Gottheiten angesprochen. Das höchste Wesen hingegen »verschafft die Mittel, ein Ereignis in den weitest möglichen Zusammenhang einzuordnen«. Tendenziell ist dabei der Eine Gott der ganzen Welt gedacht. Die Idee des Einen Gottes »scheint mehr der Hinweis auf eine potentielle Theorie (der Welt als ganzer) als der Kern einer ernsthaft ausgearbeiteten«. Das liegt nach Hortons Meinung daran, dass sich das soziale Leben im traditionellen Afrika allermeist in den bestehenden überschaubaren Gemeinschaften abspielt, so dass selten die Notwendigkeit entsteht, Ereignisse in einen weiteren oder gar universalen Zusammenhang einzuordnen. »An diesem Punkt verliert die Beziehung zwischen den vielen Geistern und dem Einen Gott viel von ihrer Aura eines Geheimnisses.«[137]

In seiner Doktordissertation (»PhD-thesis«) geht O.T. Oladipo (Ibadan) in seinem Eifer zu zeigen, dass die theoretischen Begriffe der Yoruba (»Olodumare« als höchstes Wesen, Gottheiten und Geister, Vorfahren, mystische Kräfte wie Beschwörung, Magie und Zauberei) in ihrer Mehrheit nicht religiös sind, für meinen Geschmack etwas zu weit. Er gelangt schließlich zu der Konstatierung, dass »Olodumare« und »Gott«, das höchste Wesen der Yoruba und das der Christen, so verschieden gedacht sind, dass es falsch wäre, »Olodumare« mit »Gott« zu übersetzen. Wenn das doch immer wieder geschehen ist, besonders von Kulturanthropologen und Theologen bzw. Religionswissenschaftlern, die selbst Christen waren, bedeutet dies, dass fremde Begriffe in subtiler Weise dem Denken der Yoruba auferlegt worden sind. Es handelt sich, mit seinen Worten, um eine Art subtiler »conceptual superimposition«.[138] Dieses Votum sollte Anlass genug sein, mit der Rede vom Monotheismus der afrikanischen Religionen vorsichtig zu sein. »Olodumare« ist zwar das höchste Wesen in der Hierarchie des Seienden, wie sie von den Yoruba gedacht wird, aber er ist weder außerweltlich gedacht noch als über allem schwebend. Die Gottheiten (»divinities«) »Orisanla« und »Ogun« z.B. haben bei der Erschaffung der Welt und insbesondere der Menschen mitgewirkt, und »Orunmila« wird von »Olodumare« zu Hilfe gerufen, um seine große Weisheit zu gebrauchen und Probleme für ihn zu lösen.[139]

J.M. Nyasani aus Nairobi entwirft eine afrikanische Metaphysik, die er übrigens keineswegs zur christlichen als konkurrierend empfindet. Den Kernpunkt sieht er darin, dass die Lebenden von der Gesamtheit aller Verstorbenen, d.h. von ihren Geistern umgeben sind. Das steht für ihn im Zusammenhang mit dem afrikanischen Gemeinschaftssinn. Dieser lebt aus einem ständigen Zusammensein mit den Ahnen, das die Anwesenheit des Göttlichen in der Gesellschaft unterstreicht. Die Geister der Ahnen können helfen und belohnen, aber auch hindern und bestrafen. Das letztere verlangt bestimmte Rituale und Opfer zu seiner Abwendung. Die Anwesenheit der Geister und ihre Eingriffe ins menschliche Leben sind auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet. Auf diese Weise sind sie auf die Erhaltung des Gemeinschaftssinnes bezogen.[140]

Aber die afrikanische Religiosität bleibt ein schwer zugängliches Gebiet. Abschließend will ich zwei Zeitungsberichte wiedergeben, die zeigen sollen, dass das christianisierte Afrika nicht identisch ist mit einem europäisierten Afrika und dass die bestehende Vielfalt des religiösen Lebens noch immer deutliche Einflüsse der traditionellen Kulte und Rituale umfasst. Einerseits steht der weiter fortschreitenden Christianisierung Afrikas eine Entchristianisierung Europas gegenüber. Aber darum geht es hier nicht; Christentum bedeutet in Afrika etwas anderes als in Europa. Und die traditionellen religiösen Vorstellungen vermischen sich nicht nur mit den christlichen oder islamischen. Sie sind auch als solche noch virulent. Andererseits steht in den traditionellen Religionen auch heute noch die Einheit des einen Gottes nicht für ein durchstrukturiertes Gottesreich, in dem die Herrschaftsverhältnisse deutlich umschrieben sind, sondern für ein vielfältiges Geschehen, in dem auf sehr verschiedene Weise eine Kraft als die höchste oder stärkste gilt oder geglaubt wird.

Am 10. September 1989 stand im Sunday Standard in Kenia ein Bericht über den plötzlichen Tod des Apostels Evans Mrima, der bei einem Auto-Unfall auf der Strasse zwischen Nairobi und Mombasa ums Leben gekommen war. Er war der Gründer der »Outreach Gospel Missionary Services Church« von Kenia. Hunderte seiner Anhänger beteten und sangen stundenlang in einer Art Trance, um ihren Apostel wieder zum Leben zu erwecken. Da dies nicht geschah, wurde eine großartige Bestattung »after grand prayers« anberaumt.

Der People's Daily Graphic in Ghana berichtete am 16. November 1989, dass eine siebzehnjährige jungfräuliche Priesterin Akosua Kwakoah in der östlichen Region Ghanas (in der Nähe des Ortes Akim Tafo) ein Kind geboren hat, das nach einer Schwangerschaft von nur ckei Monaten als ein kräftiges, lebensfähiges Baby zur Welt gekommen ist. Es heißt Kwaku Abrantee und ist nach einem der fünf Geister benannt, die regelmäßig von der jungen Priesterin Besitz ergriffen (»took possession«). Das Kind soll ein Fetisch-Priester werden. Vorläufig wurde den Journalisten nicht erlaubt, die Mutter, das Kind und die Familie zu photographieren. »Fragen von Lesern sind willkommen! «

 

Tagebuchaufzeichnung IV»Eine Universität und ihre Stadt«

Legon-Accra, 19.11.1989

Der Campus der Universität von Ghana, in Legon (einem Vorort von Accra) gelegen, ist bemerkenswert. Als erstes fällt auf, dass er erstaunlich groß ist. Alle Fakultäten außer der Medical School sind hier untergebracht. Die meisten Dozenten und Studenten wohnen auch hier. Zwischen den Gebäuden ist viel Platz: Grünflächen, Bäume, Sportplätze. Das alles ist schon in den 50er Jahren von den Briten angelegt. Für die Gäste gibt es 5 Wohnblocks mit je 6 Apartments von unterschiedlicher Größe und Preis (ich bezahle US $ 27,50 pro Tag); ferner ein Restaurant, in dem Frühstück und zwei warme Mahlzeiten preiswert angeboten werden. Dieser Komplex heißt »Ford Foundation« nach dem Geldgeber für den Bau. Ein großes Amphitheater im klassischen Stil soll nicht vergessen werden.

Aber der Campus ist auch »self contained«. Eine Post gehört ebenso dazu wie eine Tankstelle oder einige Bars und ein Lebensmittelgeschäft sowie zahlreiche Verkaufsstände für Obst und Snacks. Selbstverständlich haben die Studenten in ihren »Halls«, wo sie wohnen, auch eine Mensa. Die Bibliothek gleicht einem riesigen Antiquariat. Sie ist reich ausgestattet mit klassischen Werken. Nach den 50er Jahren ist wenig hinzugekommen. Über allem auf dem Gipfel eines Hügels thront die Verwaltung: ein Flügel für den »Vice-Chancellor«, der in un-mittelbarer Nähe auch seine Residenz hat, und einer für den »Registrar«. Zusammen mit einem Verwaltungsangestellten, der seit 18 Jalucn hier arbeitet, aber auch noch nie hier oben war, besteige ich den Aussichtsturm auf dem höchsten Punkt des gesamten Geländes.

Die Stadt Accra, die mit dem Bus oder Taxi in etwa 20 Minuten zu erreichen ist, erstreckt sich wie der Campus über eine sehr große Fläche. Die Innenstadt ist nicht sehr attraktiv. Sie ist etwa 12 km von Legon entfernt. Viele Gebäude sind alt und schlecht unterhalten. Die Abwässer werden weitgehend noch oberirdisch dem nahen Ozean zugeleitet. Hin und wieder sieht man Männer auf offener Strasse urinieren. Beinahe alles, was man zum Leben braucht, kann man an Verkaufsständen bekommen, die oft nur aus einem Stück Holz bestehen. Freilich gibt es einige Supermärkte mit vorzüglicher Klimaanlage. Man versteht, warum der große Strom der Touristen nach Nairobi und nicht nach Accra geht. Die Mehrzahl der weißen Geschäftsleute und Touristen trifft sich am Sonntagnachmittag auf »Labadi Beach«, einem abgegrenzten Stück Strand mit sicherer Schwimm-Möglichkeit. Aber auch hier sind die Afrikaner in der Überzahl.

Wird man sagen können, dass die Menschen hier freundlicher sind als in Ostafrika? Jedenfalls sind sie traditionsbewusster, in ihrem Verhalten auf eigene Wertvorstellungen bezogen. Man sieht auch in der Stadt vergleichsweise mehr Menschen in traditioneller Kleidertracht. Nicht nur Weiße, auch Inder und Moslems bestimmen viel weniger das Bild der Strassen. Seit 1974 ist der Linksverkehr abgeschafft, ein Erbe aus der britischen Kolonialzeit. Die Großstadt-Kriminalität, die ein Ausdruck der Entwurzelung der Menschen ist, weil sie die Bindungen an ihren Stamm verloren haben, scheint verhältnismäßig geringer zu sein. Jedenfalls wird man nicht gewarnt wie in Nairobi oder Dar es Salaam, bei Dunkelheit überhaupt nach draußen zu gehen.

 

Notiz IV Zur Organisation des Faches Philosophie in Ghana

Ein »Department of Philosophy« mit einem Studiengang für das Hauptfach Philosophie gibt es in Ghana nur an der »Universität von Ghana« in Legon-Accra, der ältesten und größten der drei Universitäten des Landes. Die beiden anderen in Kumasi und Cape Coast bieten nur philosophische Lehrveranstaltungen an, die auf andere Fächer bezogen sind wie z.B. »Philosophie der Erziehung« in Cape Coast.

Über den Campus der »Universität von Ghana«, seine Lage und seinen Umfang, habe ich in Tagebuchaufzeichnung IV: »Eine Universität und ihre Stadt« schon etwas gesagt. Das Philosophie-Department liegt zentral, unmittelbar neben dem »Department of Religious Studies«. Es verfügt über eine eigene kleine Bibliothek zur Ergänzung der ebenfalls bereits erwähnten zentralen »Bahme-Library«. Das Studium umfasst ein erstes einführendes Jahr, 2 Jahre B.A.-Studium und für erfolgreiche Absolventen 2 weitere Jahre M.phil.-Studium. Etwa 300 Studenten belegen in ihrem ersten Studienjahr Philosophie neben zwei anderen Fächern. Im zweiten Jahr lassen sie eins der gewählten Fächer fallen und im dritten Jahr können sie wahlweise zwei Fächer oder ein Fach studieren. Im M.phil.-Studium ist Philosophie das einzige Fach. Das gesamte Lehrangebot wird von 4 Dozenten gegeben: 1 Professor und 3 Lecturers. 2 der Lecturers kommen aus USA bzw. Kanada. Die regelmäßig angebotenen Kurse sind

Einführungsjahr
Elemente der deduktiven Logik (1)
Probleme der Philosophie (2)
B.A. Teil I
Deduktive Logik (obligatorisch) (3)
Rationalistische und empirizistische Philosophie des 17. und 18.
Jahrhunderts (4)
Moralphilosophie (5)
Antike griechische Philosophie (6)

B.A. Teil 11
Methodologie der Wissenschaften (obligatorisch) (7)
Politische und Sozialphilosophie (8)
Antike griechische Philosophie Plato und Aristoteles (9)
Moderne analytische Philosophie (10)
Afrikanische Philosophie (11)
»Philosophy of Mind« (12)

Im ersten Jahr sind beide Kurse obligatorisch, im zweiten und dritten nur die jeweils zuerst genannten. In B.A., Teil I kann der Student l, 2 oder 3 weitere Kurse mitmachen. In B.A., Teil II sind es l, 2 oder 4 weitere Kurse. Ob es purer Zufall ist, dass auf dem Informationsblatt für die Studenten in der Übersicht der Kurs Nr. 11 vergessen worden ist?

Das M.phil.-Angebot umfasst: Mathematische Logik, Ethik und Philosophie der (Sozial- und Natur-)Wissenschaften in einer gewissen Abweichung von den entsprechenden Themen im B.A.-Studium. Ferner gleichlautend: Politische und Sozialphilosophie, »Philosophy of Mind«, Afrikanische Philosophie und Antike griechische Philosophie. Neu hinzukommende Fächer sind: Philosophie der Logik und Philosophie der Religion. In all diesen Gebieten und in Mittelalterlicher Philosophie (griechisch-arabisch und lateinisch) werden die Studenten nach dem ersten Jahr geprüft und sie müssen unter Begleitung eines Dozenten verschiedene Essays schreiben, bevor sie die abschließende schriftliche Arbeit von nicht mehr als 40.000 Worten verfassen.

 

Philosophischen Probleme VIII»Philosophie in Sprichwörtern« und »Wie systematisch ist das afrikanische Denken?«

Während Tempels und Kagame die »Ontologie« der Bantu aus ihrer Sprache bzw. ihren Sprachen abgelesen und dann systematisiert haben, benutzen Abraham, der wie Gyekye und Wiredu an der Universität von Ghana gelehrt hat, und Mbiti weitgehend Sprichwörter zur Erfassung und Darstellung des afrikanischen Geistes bzw. der afrikanischen Religionen und Philosophie. Das letztere tut auch Gyekye, der allerdings umfassender und methodisch bewusster zu Werk geht. Als »Quellen für das afrikanische Denken« nennt er: Sprichwörter, Mythen, Sagen, Volkslieder, Rituale, Glaubensinhalte, Sitten, Traditionen, künstlerische Symbole, sozipolitische Institutionen und Praktiken. Und er betrachtet es als eine der fundamentalen Aufgaben der afrikanischen Philosophie, »die philosophischen Gehalte der Sprichwörter zu umreißen, und zu erklären, warum sie als Quelle der philosophischen Ideen der Akan benutzt werden können und sollen, neben den Mythen, Sagen« usw. dieses Volkes.[141]

Gyekyes Buch spielt für unsere Darstellung eine besondere Rolle, weil es die »Beziehung zwischen Philosophie und Kultur« zum Angelpunkt gemacht hat, um den sich seine Behandlung der afrikanischen Philosophie dreht.[142] Die Kulturgebundenheit der Philosophie indessen macht die Erarbeitung einer interkulturellen Philosophie notwendig, da das Suchen oder auch nur das Verweisen nach transkulturellen Allgemeinheiten nutzlos und sinnlos geworden ist. Dennoch wird hier nirgendwo das Buch Gyekyes als ganzes besprochen, sondern die Themen seiner Darstellung des Rahmens der Begriffe des Akan-Denkens werden an den entsprechenden Stellen unserer Erörterungen aufgegriffen. Die Rechtfertigung dieses Verfahrens ergibt sich aus dem folgenden.

Sprichwörter werden in Gyekyes Aufzählung an erster Stelle genannt als Quellen afrikanischen philosophischen Denkens, und sie werden auch von anderen Autoren bevorzugt benutzt. Warum? Worin liegt die besondere Affinität zwischen Sprichwörtern und philosophischer Sprache? In Sprichwörtern wird das Resultat der Reflexion auf bestimmte Erfahrungen »teleskopisch« zusammengefasst. Sie sind aus Erfahrung »destilliert«. Sie werden gekennzeichnet durch eine »elliptische und enzymematische« Ausdrucksweise. Mehrfach werden sie als »kernig« und »bündig« bezeichnet oder auch als »kryptisch«. In diesen Hinsichten werden Akan-Sprichwörter mit aphoristischer Philosophie verglichen, z.B. derjenigen Heraklits oder Sokrates'. Auch auf die indischen Upanischaden und auf Konfuzius wird ausdrücklich verwiesen.[143]

Diese Kennzeichnungen der Sprichwörter passen ausgezeichnet zu der Charakteristik der Arbeit des Philosophierens, die wir in Philosophische Probleme I gegeben haben. Die »Anstrengung des Begriffs«, die zu einer Verdichtung des sprachlichen Ausdrucks führt, lässt sich mit den angegebenen Kennzeichen ohne weiteres vergleichen. Und Russells Charakteristik des Philosophen als eines Mannes, in dem die Gedanken und Gefühle der Gemeinschaft, zu der er gehört, »kristallisiert und konzentriert« werden, wird auch von Gyekye ausdrücklich zitiert.[144] (Bei ihm freilich im Zusammenhang der Erörterung der Kultur-Gebundenheit der Philosophie.) Wenn wir die Arbeit des Philosophen als eine Arbeit in der Sprache und an der Sprache auffassen dürfen, können wir sagen, dass sie einen Verdichtungsprozess der Sprache darstellt.

Hier müssen wir indessen sogleich hinzufügen: einen Verdichtungsprozess bestimmter Art. Auch ein Gedicht ist verdich tete Sprache. Sprichwörter sind es. In der philosophischen Arbeit wird die gewöhnliche Sprache verdichtet zu so etwas wie »Begriffen«. Der Aufweis und die Herausarbeitung von Kategorien, von Allgemeinbegriffen, die für das Denken überhaupt voraus-gesetzt werden, ist ein eminent philosophisches Geschäft. So haben es Aristoteles und Kant jedenfalls aufgefasst. Freilich wollen wir den Ausdruck »das Denken überhaupt« hier im Sinne der Kulturgebundenheit des Denkens relativieren. Hegels Unternehmung, das Sich-selber-Denken des Denkens rein zu vollziehen, hat zu seiner Wissenschaft der Logik geführt, die vielleicht das dichteste Buch der philosophischen Literatur genannt werden kann. Selbstverständlich ist auch Hegels Denken an eine Sprache und eine Kultur gebunden und insofern nicht rein. Aber es vollzieht paradigmatisch die Bewegung des »auf den Begriff Bringens«. Abgekürzt könnte man formulieren: Philosophieren heißt Begriffe bilden.

Die Frage ist nun, wie sich die sprachlichen Verdichtungs-Prozesse in Sprichwörtern und in der Arbeit des Philosophierens unterscheiden. Da ich nicht in der Lage bin, eine Analyse dieses Prozesses, sofern er zur Entstehung von Sprichwörtern führt, vorzulegen, bleibt mir nur der Weg zu fragen, wo und auf welche Weise in Sprichwörtern philosophisch-begriffliche Verdichtungen oder ähnliches anzutreffen sind. Dabei werde ich mich auf afrikanische Sprichwörter beziehen, wie sie bei Gyekye und bei Abraham herangezogen werden. Einige Standardbeispiele des ersteren sind[145]: »Kein Schicksal gleicht irgendeinem anderen«; »Wohltätigkeit bringt dem nichts Böses, der sie tut«; »Gott ist die Rechtfertigung und Ursache aller Dinge«; »Die Erde ist weit und Gott ist ihr Häuptling«; »Es gibt keine Kreuzwege im Ohr«. Abraham beruft sich vor allem auf Sprichwörter, wo er die Lehre vom Menschen und der Gesellschaft im afrikanischen Denken ausarbeitet. Unter vielen anderen zitiert er folgende Sprichwörter[146]: »Der Narr sagt: sie meinen Freund, nicht mich«; »Ein Narr ist, wer sich seine eigenen Tomaten verkaufen lässt«; »Armut hat keine Freunde«.

Die Beispiele aus Gyekyes Buch würde ich als philosophisch relevant ansehen. Sie enthalten offenbar Begriffe als Begriffe wie »Rechtfertigung« und »Ursache«, »Schicksal« und »das Böse« oder begriffliche Relationen wie die des »gleich Seins« und der »Rückwirkung«. Anderseits zeichnen sie sich durch metaphorische oder figürliche Verdichtungen aus: »Gott als Häuptling über alle und alles«. Ein besonders schönes Beispiel ist die von Gyekye so charakterisierte bildhafte Formulierung des principium non-contradictionis: »Es gibt keine Kreuzwege im Ohr«. Einen vergleichbaren Gebrauch von Metaphern und bildhaften Ausdrücken findet man auch in der Philosophie und offenbar besonders häufig im afrikanischen Denken.

Demgegenüber habe ich die Beispiele aus Abrahams Buch so ausgesucht, dass darin keine philosophischen (begrifflich verdichteten) Weisheiten, sondern Alltagsweisheiten ausgesprochen sind. Eine Wohltat anderer nicht auf sich beziehen oder sich seine eigenen Tomaten verkaufen zu lassen, ist närrisch, wie jedermann sofort versteht. Und dass der Arme seine Freunde verliert, lässt sich im Leben oft und leicht genug beobachten und erfahren.

Damit kommen wir zu einer Unterscheidung, die sich bei Gyekye nicht findet, die aber wohl in Orukas kritischer Analyse traditioneller Weisheitslehren vorgezeichnet ist (s. Philsophische Probleme VI). Wie Oruka »folk-philosophy« (Volksweisheit) und »sage-philosophy« (philosophische Weisheit) unterscheidet, möchte ich Sprichwörter, die philosophischen Gehalt haben, abheben von solchen, die Alltagswahrheiten ausdrücken. Sprichwörter sind also nicht per se Quellen des philosophischen Denkens, sondern nur sofern sie zur ersten Gruppe gehören. Und dies ist an dem Grad und dem Charakter der sprachlichen Verdichtung abzulesen.

Die Kriterien, die wir gebrauchen, um beide Arten von Sprichwörtern voneinander zu unterscheiden, sind aber nicht diejenigen Orukas, die wir oben ausdrücklich kritisiert haben, weil sie die Situation der Philosophie als Universitätsfach in der westlichen Welt auf unbefragte Weise zum Massstab erheben. Obwohl G.J. Wanjohi aus Nairobi ebenfalls diese Kriterien gebraucht, gelangt er bei der Untersuchung einiger Sprichwörter der Gikuyu zu interessanten Ergebnissen über ihren philosophischen Gehalt.[147] Er zeigt am Beispiel einiger ethisch relevanter Sprichwörter, dass sie kritisches und reflexives Denken voraussetzen. Sprichwörter wie: »Die einzige Schuld, die nicht bezahlt werden muss, ist die, jemanden zu vergiften« oder »Ein armer Mann ohne Schulden ist nicht arm«, argumentieren nach Wan-johi in einer Metasprache über Moral und gehören deshalb zur Gikuyu-Philosophie. (Das zweite Beispiel würde nach unseren Kriterien kaum als philosophisch gelten können.) Ferner zeigt er den philosophischen Charakter sich scheinbar widersprechender Sprichwörter dadurch auf, dass sie nicht wirklich zueinander im Widerspruch stehen.[148] Etwa: »Wer schweigt, ist zu loben« und »Schweigen bewahren, bedeutet einander zu hassen«. Es sind offenbar verschiedene Situationen, in denen das eine oder das andere richtig ist.

In Ergänzung zu Gyekyes Argumentation ist ein anderer Unterschied wichtig, den er nicht klar anbringt oder jedenfalls nicht durchhält. Die Sprichwörter sind Quellen der Philosophie. Sie können es sein wegen der verwandten Art der sprachlichen Verdichtung, die in beiden Gebieten anzutreffen ist. Das ließe sich auch für Dichtung zeigen oder andere Formen der Kunst, wahrscheinlich auch für Mythen, die ja nicht völlig in den Logos überführt werden, sondern dialektisch auf ihn bezogen bleiben. Deshalb sind diese Ausdrucksformen des Menschen aber nicht selbst Philosophie. Wenn Gyekye Akan-Sprichwörter mit Aphorismen Heraklits, Sokrates' oder Konfuzius konfrontiert, erweckt er den Eindruck, als seien jene in derselben Weise Philosophie wie diese. Das kann freilich nicht gemeint sein. Eine Sprichwörtersammlung ist kein philosophisches Buch. Erst dadurch, dass Sprichwörter philosophisch interpretiert werden, wie bei Gyekye oder bei Wanjohi, wird ihr philosophischer Gehalt erschlossen, erweisen sie sich als Quellen der Philosophie.[149] Das bedeutet dann auch, dass die Rekonstruktion eines konzeptuellen Schemas, sofern sie sich vorwiegend auf Sprichwörter und ähnliche Quellen stützt, Ethnophilosophie ist im oben umschriebenen Sinne. Diese Zusammenhänge werden von den Betroffenen nicht als Philosophie ausgesprochen, sondern von anderen als deren implizite Philosophie herausgestellt.

Für die gängige Argumentation zur Bestimmung der afrikanischen Philosophie als Philosophie und auch für Gyekyes Gedankengang ist wichtig, dass philosophische Ideen nicht kollektiv entstanden, sondern von Individuen gedacht worden sind. Nun gibt es zweifellos in der europäischen und auch in der fernöstlichen philosophischen Tradition eine Reihe herausragender Individuen. Es erübrigt sich, Namen zu nennen. Deshalb kann man fragen: Warum sollte es sie unter den afrikanischen Weisheits-Lehrern nicht auch gegeben haben? Der Gedankenschritt Gyekyes, dass sie die Hervorbringer der Sprichwörter waren, ist indessen nicht gut unterbaut. Dass die »anyansafo«, die Weisen des Akan-Stammes, Sprichwörter gebrauchen und rational auslegen, wenn sie ihre Lehre darstellen, soll als Beweis dafür dienen, dass sie auch die Hervorbringer der Sprichwörter sind.[150]

Auch das Argument, dass herausragende Individuen der traditionellen afrikanischen Philosophie nicht bekannt sind, weil keine primär schriftliche Überlieferung bestand, ist nicht sehr stark. Die Namen, wenn sie wichtig genug waren, hätten mündlich überliefert werden können, auch über längere Zeit. Es scheint mir eher so zu sein, dass es nicht als wesentlich empfunden wurde, die Namen der herausragenden Individuen zu überliefern. Dasselbe Phänomen ist auch bei herausragenden Kunstwerken der afrikanischen Geschichte gegeben: die Namen ihrer Schöpfer sind nicht überliefert  

Deshalb hilft es mehr, auf Gyekyes Erörterungen über »Kollektives und individuelles Denken« zu verweisen.[151] Auch die großen Philosophen Europas, Indiens oder Chinas waren ihrer Zeit und ihrer Sprache verpflichtet; sie benötigten für ihre philo-sophischen Entwürfe das Material der Vorstellungen und Auffas-sungen ihrer Zeit, wie es in ihrer Sprache gegeben war. Andererseits gibt es bewundernswerte Gedankengebäude in der europäischen oder indischen Philosophiegeschichte, deren Urheber nicht oder nur ungenau bekannt sind. Diese Beobachtungen sind geeignet, die Bedeutung der Überlieferung der Namen zu relativieren. Warum hätten die Akan oder andere afrikanische Völker die Namen ihrer großen Weisheitslehrer überliefern sollen? Wer sagt, dass dies wichtig ist?

Ein Student des Philosophie-Departments der Universität von Ghana, wo dieses Problem diskutiert wurde, gab noch eine andere Erklärung dafür, dass philosophische Theorien wohl, Sprichwörter aber nicht an den Namen ihrer Urheber gebunden bleiben. Sprichwörter werden in die gewöhnliche Sprache aufgenommen. Das ist bei philosophischen Theorien wesentlich schwieriger, weil sie in Form und Inhalt zu weit von der gewöhnlichen Sprache entfernt sind. Wegen ihrer Besonderheit bleiben sie mit dem Namen ihrer Urheber verknüpft.

Schließlich geht Gyekye von einer bestimmten Rangordnung zwischen aphoristischer und systematischer Philosophie aus. Sprichwörter hat er philosophischen Aphorismen gleichgestellt. Die bessere, eigentliche Philosophie ist aber das System. Deshalb ist Gyekye auch bestrebt, den konzeptuellen Rahmen des Denkens der Akan als deren philosophisches System zu interpretieren. Wir unterscheiden zwei Arten von Sprichwörtern: solche, die Alltagswahrheiten ausdrücken, und philosophische, und wir gehen davon aus, dass die afrikanischen Sprachen häufig sehr reich an Sprichwörtern sind.

Dem Gebrauch von Sprichwörtern als Quellen der Philosophie im afrikanischen Denken entsprechen in der europäischen Tradition philosophische Aphorismen. Gyekye hält es für einen Schritt in Richtung auf eigentliche Philosophie, wenn in Afrika aus philosophisch gehaltvollen Sprichwörtern vom heutigen Interpreten ein philosophisches System konstruiert wird, während in Europa ein entsprechender Schritt durch den Übergang von philosophischen Aphorismen zum System in der Geschichte der Philosophie vielfältig vollzogen worden sei.

Philosophische Weisheit des traditionellen Afrika als solche ist nur zugänglich, sofern sie von philosophisch denkenden weisen Männern erfragt wird, die in traditionellen Zusammenhängen leben. Dies ist stets in geringerem Mass möglich. Gyekye hat selbstverständlich auch diesen Weg beschritten und mit den weisen Männern des Akan-Stammes gesprochen. Im übrigen ist die Philosophie des traditionellen Afrika rekonstruierbar aus vielerlei Quellen, auf bevorzugte Weise aus Sprichwörtern mit philosophischem Gehalt. Dass dabei eine aufsteigende Linie angenommen wird von den (philosophisch gehaltvollen) Sprichwörtern zu einem philosophischen System, das darin (auf verborgene Weise) enthalten ist, möchte ich mit einem Fragezeichen versehen. Es könnte sein, dass dies auf einer Hochschätzung der systematischen Philosophie beruht, die in bestimmten vorherrschenden Strömungen in der europäischen und US-amerikanischen philosophischen Tradition vorgegeben ist.

Die Vorherrschaft dieser Strömungen ist inzwischen gebrochen durch Nietzsches aphoristisches philosophisches Werk, durch Heideggers Programm einer Destruktion der metaphysischen Systeme, durch Wittgensteins Idee der »Sprachspiele«, durch Adornos Negative Dialektik und durch Derridas Unternehmen, diese Systeme zu dekonstruieren. Für Heidegger und Derrida ist eine neue Nähe der Philosophie zur Kunst entstanden. Für Adorno ist der Kunst ein eigener Weg vorbehalten, der weiterführt als das philosophische Denken. Dieses ist nicht länger systematisch, sondern sucht Modelle zu entwickeln, vorläufige Konstellationen aufzuzeigen. Wer ein System bauen will, weiß den Sinn des Ganzen, auch wenn er, wie in der bisherigen durch Hegel geprägten Dialektik, das Negative in seiner vollen Härte aufzunehmen sucht. Aus der Kraft der Überwindung dieses Negativen kann man gerade zur Einheit und Ganzheit gelangen.

Wie dem auch sei, wir wollen nicht die Vorherrschaft des Systems durch die Vorherrschaft der aphoristischen Philosophie ersetzen, um dann zu sehen, ob sich die Darstellung des afrikanischen Denkens damit ebenfalls umkehrt. Denn mit der bloßen Umkehrung bleibt man im Bannkreis dessen, das man hinter sich lassen will. Ich beschränke mich darauf zu fragen, wie die Hochschätzung des Systemdenkens innerhalb der afrikanischen Philosophie entstanden ist. Ein Aufsatz von F.N. Agblemagnon aus dem Jahr 1962 über »Totalite et systemes dans les societes d'Afrique Noire« kann diesen Entstehungsprozess verdeutlichen.[152] Dieser Autor zeigt, dass für viele Afrikanisten und Anthropologen die Bestreitung des Bestehens einer afrikanischen Philosophie identisch ist mit der Behauptung, die Afrikaner seien zu logischem und das heißt systematischem Denken nicht fähig. Alles, was die Afrikaner auf den Gebieten der Kunst und der Religion zustandegebracht haben, sei Rhythmus, Gefühl, Instinkt. Er bezieht sich insbesondere auf Eugene Garnier und E.G. Parrinder. Er selbst schlägt als Arbeitshypothese vor, in jeder Gesellschaft ein Ganzes zu sehen, das sich im Denken dieser Gesellschaft auch irgendwie ausdrückt, und zwar als ein in sich komplex strukturiertes dynamisches Ganzes, das die Negativität in der Weise der Dialektik in sich aufnehmen kann.

Seither ist viel geschehen, um das afrikanische Denken in seiner Systematik zu erfassen, von Tempels und Kagames Büchern über Ndaws Entwurf der »Pensee africaine« und verschiedene Sammelwerke zu African systems of thought[153] bis zu Gyekyes Deutung des konzeptuellen Rahmens der Akan-Philosophie als deren philosophisches System. J.C. Thomas warnt in seiner Einleitung zu C.A. Ackahs Buch über Akan ethics, dass »die Versuchung vermieden werden muss, System und Ordnung aufzuerlegen auf etwas, das nicht systematisch präsentiert ist«. Er hält es für »eine Verfälschung des traditionellen Denkens, wenn es bei seiner Veröffentlichung als ein deutlich zurechtgeschnittenes und poliertes System des Denkens wiedergegeben wird«.[154] Hountondji hat den eurozentrischen Hintergrund der Ethnologen und Ethnophilosophen durchschaut, wenn sie zu schnell bereit sind, afrikanische Vorstellungen und Ideen als »Systeme des Denkens« zu bezeichnen. Er stellt dagegen, dass »Philosophie eine Geschichte ist, nicht ein System«, ein »offener Prozess, ein ruheloses, endloses Fragen, nicht in sich abgeschlossenes Wissen«.[155] Mit System meint er System im starken Sinn des Wortes, eine philosophische Doktrin, die als definitive Wahrheit betrachtet werden will. Spinoza und Hegel sind Exponenten dieser Art von System, sofern sie beanspruchen, dass es »absolutes Wissen« enthält. Natürlich ist alle Philosophie in gewissem Sinn systematisch: Zusammenhänge werden hergestellt, Argumentationen aufgebaut und Folgerungen gezogen. Hountondji will sich nicht gegen Systeme in diesem schwachen Sinn wenden, ebenso wenig wie ich das will. »Es versteht sich von selbst, dass philosophische Reflexion in diesem Sinn unvermeidlich einen systematischen Aspekt enthält.«

Es ist nicht meine Rolle zu entscheiden, ob afrikanisches Denken die Form eines Systems haben muss oder nicht. Ich stelle lediglich die Frage, wie systematisch afrikanische Philosophie ist. Systematisches Denken steht nicht höher als aphoristische oder historische Arten der Philosophie. Es besteht keinerlei Notwendigkeit für das afrikanische Denken, die Form des Systems zu haben. Es geht mir darum, einer Offenheit dafür das Wort zu reden, dass dies von außen her auferlegt sein könnte. Im Feld der Religionsphilosophie habe ich in Philosophische Probleme VII zu zeigen gesucht, dass der Gegenstand den Systematisierungs-Verschen, die hier vorgenommen worden sind, nicht adäquat ist. Die Einheit des einen Gottes wird eher in der Weise der christlichen oder islamischen Theologie, als in der der afrikanischen Religiosität gedacht.

Für den Zusammenhang der gegenwärtigen Erörterungen möchte ich aufgrund dieser Sachlage eine Tendenz verstärken, die bei Mbiti angelegt ist und die Gyekye meiner Meinung nach nicht entschieden genug aufnimmt. Mbiti schlägt vor, Sprichwörter situationsbezogen zu interpretieren. Der philosophische Inhalt der Sprichwörter ist nach seiner Darstellung »hauptsächlich situationsbezogen«.[156] Dieser Gedanke wird von Gyekye durchaus übernommen. Er fügt dieser Aussage Mbitis andere hinzu von William Bascom und Ruth Finnegan, in denen die Situationsbezogenheit der Sprichwörter verdeutlicht wird als bezogen auf die Situation, zu der sie gehören oder in der sie zitiert werden. Nach J.C. Thomas wird dieser Sachverhalt noch deutlicher ausgedrückt durch R.S. Rattray, der konstatiert, »dass ein Sprichwort nichts ist ohne die Situation«.[157] Dies ist für Gyekye aber nur ein erster Schritt, um zu einer allgemein philosophischen Deutung zu kommen.[158] Demgegenüber habe ich in Philosophische Probleme II: »Geschichte« bereits vorgeschlagen, die situationsbezogene Deutung weiter aufzufassen und, sofern das möglich ist, aus dem Sprichwort seine Entstehungssituation zu extrapolieren. Für das Akan-Sprichwort »Wenn du deinem Nachbarn neun nicht gönnst, wirst du keine zehn haben«, ergab sich daraus der Verweis auf die Nachbarschaftssituation im Dorf und in der Sesshaftigkeit gegenüber der stärker feindseligen Haltung benachbarter Nomadenstämme. Dies mag eine konkretere und fruchtbarere Deutung sein als der Verweis auf die »Zurückweisung des ethischen Egoismus«, der sich bei Gyekye findet. Die Anwendbarkeit von einer konkreten Situation, die rekonstruiert wird, auf eine konkrete Situation, die erlebt wird, scheint besser möglich zu sein als über den Weg abstrakter Maximen.

 

Notiz V Die Universität wird geschlossen

Während der Monate August und September 1989 war an der Universität von Nairobi alles sehr friedlich. Die Studenten er-schienen pünktlich und mehr oder weniger vollzählig zu den Vorlesungen und Übungen (tutorials). Das letztere wurde ab und zu kontrolliert, indem die Namen aufgerufen und die Anwesen-heit konstatiert wurde. Es gab wöchentlich eigene Veranstaltungen der Studenten, die sehr diszipliniert und mit ehrerbietiger Höflichkeit gegenüber anwesenden Dozenten verliefen. Deshalb kam es sehr überraschend, dass die Universität vom 9. bis 16. November 1989 geschlossen wurde wegen Protesten der Studenten gegen schlechte Versorgung mit Mahlzeiten. Wer danach zum Studium wieder zugelassen werden wollte, musste bei der erneuten Einschreibung zusammen mit seinen Eltern erscheinen. Außerdem gab es andere harte Bedingungen (»stiff conditions«) für die Wiederzulassung, wie mir ein Kollege aus Nairobi schrieb.

Dieses Ereignis ist aber keineswegs singulär im afrikanischen Universitätsleben. Am 30.11.1989 berichtet die Ghanaian Times: »Sambias Copperbelt Universität in der nördlichen Bergbaustadt Kitwe wurde gestern geschlossen nach fünftägigen gewaltsamen Protesten der Studenten, die höhere Zuschüsse zu den Kosten für die Mahlzeiten forderten.

Der größte Universitätscampus des Landes in der Hauptstadt Lusaka wurde vorige Woche nach ähnlichen Störungen geschlos-sen.«

Es gibt wohl kaum eine Universität in Afrika südlich der Sahara, die nicht schon mehrere Male von der Regierung geschlossen worden ist. In Ghana ist es zur Gewohnheit geworden, dass der Beginn des Studienjahres, das eigentlich von Oktober bis einschließlich Juni läuft, um einige Monate hinausgezögert wird. In diesem Jahr beginnen die Vorlesungen am 4. Dezember und die Lehrenden hoffen (ebenso wie die Gäste), dass die Studenten sich »ruhig« betragen werden. Über die besondere Situation der Universidad Nationale du Benin, die sich während meines Besuchs im Januar 1990 im Streik befand, wird weiter unten (Tagebuch-Aufzeichnung VII und Notiz VII) Näheres berichtet.

 

Philosophische Probleme IX »Kommunalismus« und »Philosophie des Wir«

Der afrikanische Gemeinschaftssinn ist oft gepriesen worden. Er wird als eines der unterscheidenden Kennzeichen gesehen zu europäischen Verhältnissen. Die Familie, nicht als Kleinfamilie, sondern in weitem Sinn als »extended family« ist die bestimmende soziale Umgebung der Menschen. Der Clan, das Dorf, der Stamm und in manchen Gebieten Westafrikas das Königreich werden als weitere Kreise gesehen, die sich um die Familien-Struktur herum gebildet haben. Wer zu dieser erweiterten Gemeinschaft gehört, gilt als Bruder oder Schwester, wenn es sich um die gleiche Altersgruppe handelt, Vater bzw. Sohn oder Mutter bzw. Tochter, wenn die Beziehung zwischen den Generationen artikuliert wird. Der Einzelne wird als Mitglied der so entstehenden Gesellschaft gesehen. Seine Bedeutung bestimmt sich danach, in welchem Mass er in seinem Handeln und Streben auf die soziale Gruppe bezogen ist, welchen Beitrag er zum Gemeinwohl leistet. Der Schwerpunkt liegt bei der Gruppe, der Gemeinschaft, dem Stamm. Das bedeutet nicht, dass das Individuum keine Rolle spielt oder keine Rechte hat. Es bedeutet auch nicht, dass es in dieser Gemeinschaft keine Konflikte, Konkurrenzverhältnisse oder egoistische Bestrebungen gibt. Sondern es hat eine »ontologische« Bedeutung: für alles, was das Individuum ist oder tut, ist das Sein der Gemeinschaft vorausgesetzt.

Die »extended family« einer Sippe oder eines Stammes bedeutet ferner, dass es keinen individuellen Besitz gibt. Alles gehört im Prinzip allen und wird nach den Bedürfnissen verteilt. Wer viel verdient oder erntet, gibt denen, die durch unglückliche Umstände wenig haben. Niemand wird in seiner Not allein gelassen. Es gibt viele Beispiele dafür, dass die »extended family« einigen Begabten Ausbildung und Studium bezahlt. Wenn ihnen dies zu Ruhm oder Reichtum verhilft, wird erwartet, dass daran wiederum die ganze Familie teilhat. In vielen afrikanischen Ländern hat dies dazu geführt, dass politisch Erfolgreiche, Präsidenten oder regionale Leiter, ihren Verwandten wichtige Posten gegeben haben. Hier geraten traditionelle Werte und moderne politische Verhaltensweisen deutlich in einen Konflikt.

Als soziale und politische Doktrin formuliert, heißen die gesellschaftlichen Verhältnisse der »extended family«: »Kommunalismus«. In älteren Texten wird auch von Kommunismus oder Kollektivismus gesprochen. Das kann freilich leicht zu Verwechslungen mit europäischen Erscheinungsformen des Marxismus führen. Diese Verwechslung gilt es indessen zu vermei-den. L.S. Senghor unterstreicht die größere Bedeutung der Gruppe gegenüber dem Individuum für die traditionelle afrikanische Gesellschaft. Diese ist mit seinen Worten eine »Gemeinschaftsgesellschaft« (»community society«).[159] Darin sieht er die Voraussetzung für einen eigenen afrikanischen Weg zum Sozialismus. Es geht nicht nur darum, dass von dieser Voraussetzung aus der Weg zum Sozialismus gewissermassen abgekürzt werden kann, wie es J. Nyerere mit seiner Theorie und Politik der Ujamaa-Dörfer versucht hat (s. Philosophische Probleme II). Der afrikanische Sozialismus wird auch inhaltlich anders bestimmt. K. Nkrumah vertritt den Standpunkt, dass afrikanischer Sozialismus auf einer Aktualisierung der Prinzipien des Kommunalismus unter modernen Verhältnissen beruht. Seine Auffassung, dass es in Afrika keinen Klassenkampf gäbe, hat er allerdings später auf das traditionelle Afrika eingeschränkt. Dies führte ihn zur Annahme der Notwendigkeit einer gewaltsamen Revolution.[160] Touré betont den humanistischen Charakter der Gemeinschaftlichkeit, die als Voraussetzung für das Bestehen des Individuums angenommen wird.[161] Und J. Kenyatta stellt heraus, dass dies auch moralische Verantwortlichkeit und soziale Verpflichtung des Einzelnen für die Gemeinschaft einschließt.[162]

Auf dem »Ersten gemeinsamen Symposium von Philosophen aus Afrika und den Niederlanden« in Rotterdam (1989) hat J.M. Nyasani den Versuch unternommen, diese Existenzweise des afrikanischen Menschen ontologisch und metaphysisch zu deuten.[163] Er schließt dabei an bei dem Gedanken der »Lebenskraft«, mit dem Tempels die Entwicklung einer afrikanischen »Ontologie« begonnen hatte. Mit Zustimmung zitiert er eine Beschreibung der »lebendigen Einheit« (»vital union«) die nicht nur die jetzt lebenden Mitglieder einer Gemeinschaft verbindet, sondern auch die bereits verstorbenen.[164] Er entwirft das Bild einer »mythischen Welt«, in der jeder Einzelne in seinem Denken und Handeln auf alle lebenden und lebendtoten Mitglieder seiner Gemeinschaft bezogen ist. Und er sucht zu zeigen, dass diese Haltung ein Schutzsuchen des Einzelnen hinter dem Schild der Gemeinschaft ist. Diese Haltung erklärt er dadurch, dass die Menschen in Afrika einer feindlichen Natur mit wilden Tieren, vielfach kargen Böden und einer unbarmherzigen Sonne ausgesetzt sind. Es war und ist eine Frage des Überlebens der Einzelnen, sich zu starken schützenden Gemeinschaften zusammenzuschließen. In diesem Sinne antwortete er auf die Frage nach dem Gemeinsamen, das einer Philosophie zugrunde liegt, die für das gesamte Afrika südlich der Sahara sprechen will: »We are facing the same sun.«

Auf demselben Symposium hat K. Gyekye den Gedanken näher ausgearbeitet, der auch in seinem vielfach zitierten Buch von 1987 schon anzutreffen ist, dass der Kommunalismus nicht zum Individualismus im Gegensatz steht.[165] Kollektivismus und Individualismus ist vielmehr ein europäischer Gegensatz, der für Afrika nicht gilt. Der Kommunalismus schließt die selbständige und autonome Rolle des Individuums nicht aus. Das ist nach seiner Darstellung von den afrikanischen Philosophen und politischen Theoretikern zu wenig ausgearbeitet worden. Gyekye unterstreicht eine Aussage Senghors„die in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellt: »Das Mitglied der Gemeinschaft beansprucht für sich selbst ebenfalls seine Autonomie, um sich in seinem Sein zu bestätigen.«[166]

Um dieser vorherrschenden Tendenz entgegenzuwirken, sucht Gyekye den afrikanischen Gemeinschaftsgedanken vom Einzelnen, von der Person aus aufzubauen. Er stützt sich hierfür wiederum auf die Philosophie seines Volkes, der Akan, wie er sie vor allem in Sprichwörtern ausgedrückt findet. Aus dem Sprichwort: »Alle Menschen sind Kinder Gottes; niemand ist ein Kind der Erde«, leitet er die Ebenbildlichkeit zwischen Gott und Mensch ab, die bedeutet, dass die menschliche Person in sich selbst vollständig (»self-complete«) ist. Es ist insbesondere die Seele (»okra«) die göttlichen Ursprungs ist, die das eigentliche Selbst der Person ausmacht und ihren unveräußerlichen Wert (»intrinsic value«) repräsentiert. Deshalb kann die Person nicht von der Gemeinschaft abgeleitet oder durch sie konstituiert werden. Die Gemeinschaft entsteht vielmehr, indem Personen durch natürliche und andere Bande miteinander verbunden werden.

Man kann indessen nicht Individuum und Gemeinschaft gegeneinander fixieren. Es gehört zu dem In-sich-selbst-vollständig-sein der Person, dass sie ohne ihre gesellschaftlichen Bedingungen nicht gedacht werden kann. Zum Leben der Person gehört die soziale Dimension. Und es gehört zur Gemeinschaft, dass sie aus individuellen Personen besteht. Die Akan sagen: »Wenn eine Person vom Himmel herabsteigt, gelangt er/sie in die menschliche Gesellschaft.« Wir möchten das Anliegen Gyekyes dahingehend zusammenfassen, dass der Eigenwert und die Autonomie der Person im Kommunalismus nicht abwesend sind oder übersehen werden. Individuelle Person und Gemeinschaft haben je ihre eigene Realität, die aber nicht losgelöst voneinander bestehen können.

Gyekye kommt im Gegenzug gegen das Überwiegen der Gemeinschaft im afrikanischen Denken zu diesem Ergebnis. Inhaltlich dasselbe Ergebnis habe ich in meiner Philosophie des Wir erreicht, die im Gegenzug gegen das Überwiegen des Ich in der europäischen Tradition ausgearbeitet ist:[167] Die Gruppe, das Wir, ist aus Individuen zusammengesetzt. Und die Individuen sind, was sie sind, als Mitglieder eines Wir bzw. verschiedener Wir-Einheiten. Wie bisher im afrikanischen Denken eine genaue Analyse des Ich, seiner Einmaligheit, Autonomie und Reflexionsfähigkeit fehlt, findet man in der europäischen Philosophie keinen Aufweise der Strukturen des Wir, die in Staat, Gesellschaft, Familie usw. konkretisiert werden. Dabei steht das Wir, die Gemeinschaft für die Vielheit, das Ich, die Individualität, für die Einheit. Die beiden gegenläufigen Denkbewegungen, die sich gewissermassen in einer Mitte treffen, kann man also auch als Bewegungen von der Vielheit zur Einheit und von der Einheit zur Vielheit beschreiben. Wichtig ist, dass in der Mittellage ein Primat vermieden wird: Beide, die Gemeinschaft in ihrer Vielheit und das Individuum in seiner Einheit sind gleich ursprünglich und gleich wichtig.

Nun hat Nyasani in seinem Beitrag zu dem erwähnten Symposium von einer Philosophie des Wir berichtet, die der zairische Philosoph T. Ntumba bei einem Stamm seines Landes gefunden hat. Im Lingala heißt wir: »biso«; und dieses Wort gibt den weiteren Zusammenhang an, in dem das Ich sich immer schon befindet, es zeigt das Subjekt im Licht der anderen, die jeweils als ein Du begegnen. Diese Philosophie der bisoitb (»Wirheit«) konfrontiert Ntumba mit dem europäischen Denken der moitib (»Ichheit«). Nicht wissend, dass in Europa inzwischen auch eine Philosophie des Wir entworfen worden ist, polarisiert er weiterhin afrikanisches und europäisches Denken in diesem Punkt: »Unserer These, dass diese Philosophie der Ichheit (Selbstheit) im Okzident unausrottbar ist, stellt sich die andere entgegen, dass die Philosophie der Wirheit (Dichduheit) in Afrika gleichermassen unausrottbar ist. Dort besteht der Primat des Ich, hier der Primat des Wir.«[168] Damit fällt er hinter die oben beschriebene Mittelposition zurück.

Was Ntumba ferner über die »bisoite« berichtet, lässt es allerdings als fraglich erscheinen, dass die von ihm vorgenommene Polarisierung der Sache angemessen ist. Die »bisoitd« ist ein »Sein mit«, und zwar mit allen und allem.[169] Dem entspricht es, dass unsere »Philosophie des Wir« davon ausgeht, dass (1) alle Wir-Einheiten zu einem Wir der Menschheit gehören, das in sich selbst vielfältig bleibt, und dass (2) die Natur ein Partner ist im Leben (Geschehen) des Wir. Das »Sein mit« (etre-avec) bedeutet nach Ntumba immer und ursprünglich ein »Sein da« oder »Dasein« (etre-lh). Damit ist ein »absolutes Sein« (etre-absolu) aus-geschlossen, es erweist sich als eine solipsistische Abstraktion. Das könnte mit denselben Worten in der erwähnten europäischen Wir-Philosophie stehen.

Zugleich ist damit der Ausgangspunkt einer interkulturellen Philosophie bezeichnet. Ein abstraktes allgemeines Wir gibt es nicht. Das Aufstellen eines abstrakten höchsten Seienden oder Guten (summum bonum ens) gehört in der Tat in den Denkduktus der »Philosophie des Ich«, der schließlich im Sich-selber-Denken des Denkens gipfelt. Jedes Wir ist ein konkretes Wir, das an einen konkreten Ort (seine Kultur) gebunden ist. Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten können nicht über ihnen (in einem Ideenhimmel) durch die Abstraktion gefunden werden, sondern nur zwischen ihnen durch den Dialog. Diese Gemeinsamkeiten werden deshalb niemals absolut sein, sondern sind im Dialog jeweils neu zu bestimmen und von den Verschiedenheiten abzuheben. Der Aufweis der letzteren ist ebenso wichtig wie das Streben nach ersteren. Vorläufig gilt, dass in Afrika der Kommunalismus und in Europa der Individualisrnus relativ überwiegen. Es hilft überhaupt nicht weiter, darin etwas »Unausrottbares« (inexcrucinable) zu erblicken.

 

Poesie III Aus »Aufforderung. Gedichte aus Tansania«[170]

Ich grüße dich, Ujamaa[171]

Ujamaa
Ich grüße dich!
Enkel, geboren aus
Sklaveni,
Feudalismus,
Kapitalismus;
Ich glaube an die Gesetze der Natur;
Die Neugeborene
Ist vollkommener
Als ihre Eltern.
Ich grüße dich,
Ujamaa,
Du bist ein Klumpen
Ugali[172]
Festsitzend
In der Kehle
Eines Mannes,
Ergebnis kolonialer Zeiten:
Er kann ihn weder ausspeien
noch herunterschlucken.
Elephantenbulle Ujamaa,
Erwürge mich nicht.
Ich ergebe mich.
Karibu[173],
Gelange dann in meinen Magen,
Und, denke daran:
Bringe mir neues Leben!
Ich will mich anpassen
 An Ujamaa.
Sage mir,
Büffel Uhuru[174],
Was soll ich tun
Mit meinen
Reichtümern,
Damit sie geweiht werden
Und aufrichtige
Mjamaa[175]?
Ich habe eine Bar,
Ein Hotel,
Einen Fleischerladen,
Alle von mir,
Von mir allein.
Sage mir,
Ujamaa,
Vollkommenes System,
Was soll ich damit tun?
Sozialisieren,
Ist das nicht recht?
Liebes Nashorn,
Stoße mich nicht zu Boden; Ich bin nicht schnell genug, Dir wegzulaufen,
Schau ...
Ich habe Mietshäuser Und möblierte Wohnungen Im Zentrum der Stadt; Sage mir,
Kann ich beanspruchen, Dass sie
 Sanga gehören, Meinem Enkel,
Oder Klawe,
Meinem Onkel?
Dirigiert mich,
Generale der Ujamaa
Und Selbstverantwortlichkeit;
Was soll ich tun
Mit den Hausdienern
Und den Boys,
Die auf den Feldern helfen?
Soll ich sie vorübergehend
Anstellen,
Die Ernte gleich mit ihnen teilen
Oder sie freilassen?
Eine Minute, bitte, General,
Gib noch nicht den Feuerbefehl!
Ich hatte vor,
Eine Reparaturwerkstatt zu beginnen,
Eine Geflügelfarm,
Ein Studio,
Busse zu kaufen
Und private Krankenhäuser zu errichten:
Sage mir,
Wie soll ich es ohne Anstoß tun
Und in der Art, die du wünschst?
Höre ich dich sagen:
Arbeite zusammen
Mit anderen Wajamaa[176]?
Ich plädiere dafür, dass Fahren
Auf einer geraden Strasse sicherer ist
Als auf einer kurvenreichen.
Wie kann ein Land
Zur Entwicklung eilen
Während Eigeninteresse,
Egoismus
Und Uneinigkeit regieren?

K. Faraja

 

Philosophische Probleme X: Erkenntnistheoretische Fragen

Skeptiker im Blick auf eigenständige afrikanische Philosophie verweisen gerne darauf, dass diese keine »Erkenntnistheorie« besitze. Damit ist meistens gemeint »Erkenntniskritik« im Sinne Kants, die die Grundlagen »objektiv gültiger« wissenschaftlicher Erkenntnis untersucht. Eine solche besitzt die europäische Philosophie vor Kant oder, wenn man das empirische und das rationale Element der Erkenntnistheorie gesondert betrachtet, vor Hume und Descartes auch nicht. Für indische, chinesische, islamische Philosophie gilt dasselbe. Die Skepsis begründet sich also auf gegenwärtige westliche Philosophie, die seit Kant er-kenntniskritisch und wissenschaftstheoretisch ist. In Wahrheit ist es so, dass das afrikanische Denken durchaus erkenntnistheoretische Implikationen hat, die aber von der westlichen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in entscheidenden Punkten abweicht. Das kann interkulturell auch ein Anlass sein, die letztere in Frage zu stellen.

Dass Erkenntnis eine empirische (auf Anschauung beruhende) und eine rationale (durch Denken zustandgebrachte) Seite besitzt, ist dem afrikanischen Denken keineswegs fremd.[177] Aber das ist nicht alles. Es wird als Einengung menschlicher Erkenntnis-Möglichkeiten erfahren, wenn gültige oder sichere Erkenntnis darauf beschränkt bleibt. Kants Haltung des Nichtwissens gegenüber metaphysischen Aussagen, insbesondere der Aussage: »Gott existiert«, wird von vielen afrikanischen Autoren zurück-gewiesen. Die Behauptung, dass darüber sehr wohl sicheres Wissen besteht, wird mit dem Hinweis auf die Intuition als Erkenntnisquelle verbunden. Dass über Gottes Existenz eine »unmittelbare Gewissheit« besteht, wird von Danquah so gedeutet, dass diese auf einem »Gefühl« und einer rationalen Wurzel (»ratio-cination«) beruhe, also in sich vollständige Erkenntnis sei.[178] Um zu untermauern, dass die Erkenntnis Gottes für die Akan »intuitiv und unmittelbar« ist, führen Abraham und Gyekye das Sprichwort an; »Niemand hat ein Kind Gott gelehrt«, das Kind hat aus sich selbst ein Wissen von Gott und seiner Existenz.[179] Gyekye leitet daraus auch ab, dass die Akan an »ideae innatae« glauben. Zur Stützung dieser These führt er weitere Sprichwörter an.

Nun ist diese Art der Gewissheit freilich nicht Teil objektiv gültiger wissenschaftlicher Erkenntnis in dem Sinne, dass sie unter gleichen Bedingungen jederzeit durch jedermann wiederholbar ist. Viele Autoren verweisen jedoch darauf, dass die Gewissheit der Existenz Gottes allen afrikanischen Völkern und Ethnien gemeinsam sei. Deshalb wird sie für afrikanisches Denken als real aufgefasst. Von hier aus gesehen, kann es als eine künstliche Unterscheidung betrachtet werden, dass nach der heutigen Wissenschaftstheorie Intuition zwar gewiss notwendig sei, um zu (neuer) wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen, dass diese aber nicht konstitutiv sei für den Gegenstand, der in der Erkenntnis und durch die Erkenntnis aufgebaut wird.

[180] In diesem Fall darf man wohl verallgemeinernd sagen, dass dies für das afrikanische Denken insgesamt gilt. Es wäre zweifellos eine Reduktion der Weltbezüge, wollte man die Beziehungen zur Geisterwelt als nicht real ausschalten. Die pure Negation würde eine Verarmung bedeuten. Diese Verarmung ist vielleicht für das europäische Denken kennzeichnend. »Divination«, »traditional healing«, »witchcraft« und »spirit mediumship« sind Formen des Umgangs mit den Geistern der Ahnen und mit göttlichen Wesen, die im realen Leben eine wichtige Rolle spielen, die häufig genug auch reale Folgen haben. Diese Erscheinungen sind in Afrika weit verbreitet. Nach Mbiti sind sie nahezu in jedem Stamm in Afrika anzutreffen.[181] Sie bilden einen integralen Teil der Kultur. In der Literatur finden sich unzählige Beispiele.

Gyekye weist darauf hin, dass diese Dimensionen der Erkenntnis in das wissenschaftliche Denken der westlichen Welt Einlas finden auf dem Weg der Parapsychologie.[182] Telepathie, Hellsehen (Präkognition) und Psychokinese werden auch experimentell untersucht. Das sollte in jedem Fall geschehen, auch wenn nicht von vornherein deutlich ist, wie negative Ergebnisse solcher Untersuchungen zu deuten sind. Denn die Messbarkeit und objektive Konstatierbarkeit solcher Phänomene muss nicht das letzte Wort über ihr Vorhandensein darstellen. Für westliche Philosophie ist mit den Grenzen des wissenschaftlich Nachweisbaren der Bereich des sicheren Wissens definitiv umschrieben. Eine Öffnung dieser Erkenntnisbeschränkung liegt darin, dass nicht nur durch die Parapsychologie, sondern auch durch andere sehr avancierte Wissenschaften diese Grenzen verschoben werden können. Wenn sich die Afrikaner mit der Verwissenschaftlichung und Technisierung ihrer Welt diesem Massstab anzupassen haben, sollte er in seiner avanciertesten Form angewandt werden, die für solche Grenzverschiebungen offen ist.

Diese grundsätzlichen Erörterungen zu Fragen der Erkenntnistheorie in der afrikanischen Philosophie sollen nun ergänzt werden durch die kritische Behandlung verschiedener Texte, die in diesem schwierigen Gebiet einige Orientierung bieten. Zunächst will ich auf eine Studie verweisen, die einen vielversprechenden Ansatz erkennen lässt. B. Hallen und J.O. Sodipo, die beide in Nigeria lehren (zur Zeit ihrer gemeinsamen Forschungen waren sie an der Universität von Ife), gehen von Quines Unbestimmtheitsthese für Übersetzungen aus. Sie untersuchen den Unter schied zwischen »mo« (knowledge) und »gbagbo« (belief) im Denken der Yoruba und vergleichen den Gebrauch dieser Begriffe mit dem ihrer englischen Äquivalente.[183] Dabei haben ihre Forschungen überraschende Ergebnisse zutage gefördert. Sie können zeigen, dass das afrikanische Denken nicht in dem Sinne traditionell ist, dass es keine kritische Distanz oder Reflexion zweiter Stufe zulasse. Es ist nachweisbar, dass die Yoruba höhere Forderungen an die Beweiskraft einer Information stellen, bevor sie diese als Wissen bestimmen, ris die Engländer.

Im ganzen ist das Unternehmen Hallens und Sodipos indessen mit schweren Zweifeln an seiner methodologischen Zulänglichkeit behaftet. A.G.A. Bello (Ibadan) wirft ihnen vor, (1) dass sie »onisegun« (herbalists oder native doctors) und »babalawo« (Priester oder Hüter der Geheimnisse) als Gesprächspartner gewählt haben, statt zu den weisen Männern (sages) der Yoruba zu gehen, (2) dass sie, ohne dies methodologisch in seiner Bedeutung zu erörtern, die Verwobenheit von kognitiven und moralischen Aspekten bei den Yoruba konstatieren, (3) dass sie im Grunde volkstümliche Auffassungen zur Grundlage von Aussa-gen über das Denken der Yoruba gemacht haben, (4) und schließlich was sich meiner Beurteilungsmöglichkeit entzieht dass ihre Übersetzung des Yoruba häufig unsorgfältig ist, so dass z.B. der Zusammenhang von Intuition und Erkenntnis oder von Glauben und Wahrheit nicht richtig in den Blick kommt.[184]

Außer der Erkenntnis-Glaube-Unterscheidung haben Hallen und Sodipo auch Erscheinungen von Zauberei (»witchcraft«) und die Praxis der Beschwörungen bei den Yoruba untersucht. Zu diesem Thema möchte ich auf die Arbeit eines anderen nigerianischen Philosophen eingehen. A. Fadahunsi von der »Ogun State University« in Ago-Iwoye schreibt über »The logic of incantation«.[185] Unter Logik versteht er dabei nicht formale Logik, sondern Ordnungslehre. Er zeigt, welche Formen von Beschwörung (»incantation«) bei den Yoruba vorkommen. Und er gibt eine rationale Erklärung, soweit eine solche möglich ist. Es wird jedoch deutlich, dass die rationale Erklärung an bestimmten Punkten metaphysische Annahmen hinnehmen muss, die nicht weiter ableitbar sind.

Für Beschwörungen, die sich nur der Sprache bedienen, des Gebrauches bestimmter Formeln, entwickelt er die »Wellen-Hypothese«. Jedes Wort bringt etwas in Bewegung, löst in der Umwelt und beim Hörer etwas aus. Dies ist bei Beschwörungs-Formeln in verstärktem Maß der Fall. Die Verstärkung selbst entzieht sich rationaler Erklärung. Der Zauberer, der die Worte gebraucht, hat eine (bisher) nicht erklärbare Kraft.

Sofern außer Worten auch Zaubermittel verwendet werden (Amulette, Gürtel, Ringe, kleine Kürbisse usw.), gelangt Fadahunsi zur »Korrespondenz-Hypothese«. Denn die Zaubermittel müssen mit dem, das sie bewirken sollen, in irgendeiner Weise korrespondieren. So ist ein solches Mittel für einen Ringer ein Teil einer Katze, ihre Wirbel oder ihr Fell, da eine Katze wie man annimmt niemals auf dem Rücken liegt. Sofern die Beschwörung von »native doctors« oder »herbalists« durchgeführt wird, gilt ähnliches für die zu gebrauchende Medizin.

Dass die Kräfte der Zauberei und ihre Wirkungen bisher nicht wissenschaftlich-rational erklärbar sind, berechtigt nicht dazu, sie als nicht real zu betrachten. Fadahunsi verweist auf Sodipos Untersuchungen zum Kausalbegriff der Yoruba, der Ursache und Wirkung in ihrem Zusammenhang auf »persönliche Entitäten«, übernatürliche Wesen oder Götter, zurückführt. Er plädiert für eine Offenheit des rationalen Denkens, das heute vieles als real annimmt, was früher als unseriös abgetan wurde wie z.B. Akupunktur oder Hypnose. Warum sollten nicht Zauberei und Beschwörung, wie sie bei den Yoruba und vielen anderen afrikanischen Völkern häufig vorkommen, in der Zukunft eine wissenschaftlich-rationale Erklärung finden? Eine solche Offenheit ist dem Wissenschaftsprozess angemessener als ein statisches Denken, das den heutigen Stand der Wissenschaft festschreiben will.

In den Fragen einer Theorie der afrikanischen Erkenntnisweisen ist eine Studie von R. Horton bahnbrechend: »African traditional thought and Western science«.[186] Wenn wir diese Studie in ihrer Gesamtheit betrachten, wird auch deutlich, warum Horton einerseits über die Möglichkeit einer afrikanischen Philosophie so dogmatisch negativ geurteilt hat (s. Philosophische Probleme I) und in bezug auf den Gottesbegriff der afrikanischen Religionen einen so offenen und produktiven Standpunkt einnimmt (s. Philosophische Probleme VII). Im ersten Teil dieser Studie untersucht er sehr genau, in welchen Hinsichten traditionelles afrikanisches Denken und moderne westliche Wissenschaft strukturell übereinstimmen.

Horton wendet sich zunächst gegen die These von J. Beattie u.a., dass das traditionelle religiöse afrikanische Denken in keiner Weise ernsthaft als theoretisches Denken aufzufassen ist. Demgegenüber sieht er eine weitgehende Strukturgleichheit zwischen den Erkenntnisleistungen der modernen Physik und denen der traditionellen afrikanischen Religion. Im ersten Fall werden natürliche Phänomene im Rahmen einer Theorie inneratomarer Prozesse erklärt. Im zweiten Fall werden natürliche Phänomene im Rahmen einer Theorie übernatürlicher Kräfte erklärt. Die Unterschiede des jeweiligen »theoretischen Idioms« meint er vernachlässigen zu können. Beide Theorien haben die gleiche wesentliche Funktion, Phänomene, die im Horizont der alltäglichen Erfahrung und des »common sense« nicht erklärt werden können, von einem erweiterten kausalen Zusammenhang her erklärbar zu machen.

Die scheinbar verwirrende Vielfalt der Geister und Götter in den afrikanischen Religionen lässt sich nach Horton durchaus ordnen, wenn man bestimmte Arten von Kräften unterscheidet, deren Wirksamkeit sie erklären. Diese Erklärung verläuft wie die der modernen Wissenschaft in zwei Phasen: zunächst wird abstrahiert und analysiert und dann werden die einzelnen Elemente wieder zusammengefügt und synthetisiert. Horton verweist hier auf das Beispiel der Untersuchung der Verwandtschaftssysteme bei dem westafrikanischen Stamm der Tale, die von M. Fortes ausgeführt worden ist.[187] In diesen Verwandtschaftssystemen lassen sich drei »spirituelle« Instanzen unterscheiden, die das Leben des Individuums bestimmen:

  1. »segr« sie bestimmen das biologische Leben des Individuums, seine Gesundheit oder Krankheit, Leben oder Tod.
  2. nuor yin« sie bilden die Personifizierung der Wünsche,die das Individuum vor seiner Geburt bereits hegt, welche die Möglichkeit betreffen, ein vollwertiges Mitglied der Tale-Gemeinschaft zu werden.
    a) »gute nuor yin« sie stehen für den Erfolg dieser Wünsche
    b) »böse nuor yin« sie bewirken das Fehlschlagen dieser Wünsche
  3. »yin Vorfahren« die Geister von zwei oder drei der Vorfahren werden ausgewählt, um das persönliche Wohlergehen des Individuums zu beschützen. Dies geschieht nur im Falle der »guten nuor yin« die das Individuum dazu führen, ein anerkanntes  und geschätztes Mitglied der Tale-Gemeinschaft zu werden.

Diese drei Instanzen wirken zusammen, um dem Leben des Individuums eine allgemeine Richtung zu geben, deren genauere Bestimmung seinen freien Willensentscheidungen überlassen bleibt.

Eine weiten Strukturgleichheit zwischen beiden Typen von Erkenntnis lässt sich darin festmachen, dass unbekannte Erscheinungen in Analogie zu bekannten oder vertrauten Erscheinungen erklärt werden. Die moderne Wissenschaft wählt für ihre Erklärungen meist unpersönliche dingliche Modelle, während die afrikanische Religion das »persönliche Idiom« bevorzugt. Bestimmte personifizierte Geister und ihre Beziehungen zueinander erklären die Wirksamkeit von Kräften im Leben der einzelnen und der Gemeinschaft.

Von anderen Gleichheiten und Analogien, die Horton aufzeigt, will ich noch eine herausgreifen und näher erläutern.

Wenn ein Erklärungsmodell bestimmte Aspekte der Erscheinungen, die erklärt werden sollen, nicht mehr deckt, wird das Modell nicht fallengelassen, sondern in einer Weise erweitert, die von dem Vorkommen des Modells in der Alltagswirklichkeit abweicht. Aus der modernen Physik erwähnt Horton hier das Rutherfordsche Atommodell, das die Elektronen in ihrem Verhältnis zum Atomkern in der Weise von Planeten vorstellt, die um eine Sonne kreisen. Die Entdeckung frei beweglicher Elektronen und der Spaltbarkeit des Atomkerns weichen von dem gewählten Modell ab, das um diese Aspekte erweitert wird.

Für ein entsprechendes Beispiel aus der afrikanischen Religion greift Horton auf seine eigenen Feldforschungen unter den Kalabari im Mündungsdelta des Niger zurück. Die religiöse Vorstellungswelt der Kalabari enthält drei Kategorien von Geistern: Vorfahren, Helden und Wassergeister. Was als verwirrende und phantasiereiche Ausgestaltung besonders der »Helden« und der »Wassergeister« erscheint, erweist sich als Erweiterung des Erklärungsmodells quasi-menschlicher Handlungen und ihrer Folgen, die den Zweck hat, alltäglich nicht erklärbare Erscheinungen zu deuten.

Die Vorfahren unterstützen das Leben und die Kräfte des einzelnen in der Familie. Die Helden unterstützen das Leben und die Kräfte der Stammesgemeinschaft und ihrer Institutionen. Es sind besondere Fähigkeiten erforderlich, damit die Gemeinschaft im ihrem Kampf gegen die Natur bestehen kann. Die Wassergeister schließlich unterstützen das Leben und die Kräfte des menschlichen Individualismus und anderer unerwarteter Geschehnisse im guten wie im bösen. Zusammen bilden diese drei Kategorien von Geistern ein Dreieck von Kräften.

Dass die Helden keine menschlichen Nachkommen haben und nicht sterben und begraben werden, sondern auf irgendeine Weise verschwinden, unterscheidet sie von gewöhnlichen Menschen und ihren Möglichkeiten. Sie können dabei mit den Vorfahren kooperieren und den Familienzusammenhalt stärken oder auch zu ihnen in Opposition treten, wenn die Belange der Stammesgemeinschaft dies erfordern.

Die Wassergeister werden menschlich und als Python-Schlange vorgestellt. Das Unerwartete menschlicher Kreativität und der Naturkräfte wird in dieser bizarr erscheinenden Vorstellung zusammengebracht. Was der Mensch tut und was die Natur tut (das alles bestimmende Wasser des Niger-Deltas) kann im guten wie im bösen überraschend bzw. erschreckend sein. Das Handeln der Wassergeister kann auf die Helden und die Vorfahren unterstützend oder zerstörerisch bezogen sein. Insgesamt mag deutlich sein, dass den bizarr erscheinenden Vorstellungen eine wesentliche erklärende Funktion zukommt.

Bis hierher hat sich ergeben, dass die religiösen Vorstellungen einen deutlichen gedanklich-theoretischen Zusammenhang bilden. Damit sind viel gebrauchte Dichotomien, die den Unterschied zwischen moderner Wissenschaft und traditioneller Religion erfassen sollen, entscheidend diskreditiert. Solche Dichotomien sind:

                  intellektuell emotional

                        rational mystisch

  wirklichkeitsorientiert phantasiegebunden

           kausal orientiert übernatürlich ausgerichtet

                        abstrakt konkret

                     analytisch nicht-analytisch

Im zweiten Teil seiner Studie geht Horton dazu über, die Unterschiede zwischen traditionellem afrikanischem Denken und moderner westlicher Wissenschaft herauszustellen. Der Schlüssel zur Erklärung dieser Unterschiede ist für ihn das Begriffspaar »geschlossen« und »offen«, das er mit bestimmten Modifikationen von K. Popper übernimmt. Das traditionelle afrikanische Denken ist geschlossen, das heißt, (1) es hat kein Bewusstsein von anderen Erklärungsmöglichkeiten als den gegebenen, (2) es geht davon aus, dass seine Glaubensinhalte heilig und damit un-anfechtbar sind und (3) es zeigt eine große Besorgnis gegenüber Bedrohungen seiner Glaubensinhalte. Das moderne wissenschaftliche Denken ist offen, bedeutet demgegenüber, (1) es hat ein Bewusstsein von anderen Erklärungsmöglichkeiten, (2) es geht von verringerter Unanfechtbarkeit seiner Voraussetzungen aus und (3) es zeigt eine verringerte Besorgnis gegenüber Bedrohungen seiner Voraussetzungen.

Die Analyse der Unterschiede, die sich aus dieser verschiedenen Grundhaltung ergeben, führt ihn zu folgenden neuen Dichotomien. Man kann auch sagen, die Schlüsseldichotomie »geschlossen« »offen« wird in folgender Weise aufgefächert: (a) Magische versus nicht-magische Haltung gegenüber Wörtern, (b) Ideen gebunden an Gegebenheiten versus Ideen gebunden an Ideen, (c) Nicht-reflexives versus reflexives Denken, (d) Gemischte versus voneinander gesonderte Motive, (e) Beschützende versus zerstörerische Haltung gegenüber etablierten Theorien, (f) Beschützende versus zerstörerische Haltung gegenüber Kategoriensystemen und (g) negative Einstellung versus positive Einstellung gegenüber Veränderungen in der Zeit.

Die Dichotomien, zu denen Horton auf diese Weise gelangt, sind aber prinzipiell nicht von denen unterschieden, die er im ersten Teil seiner Studie mit so viel Scharfsinn und Sachkenntnis widerlegt hat. Denn es ist wieder so, dass die Bestimmungen des modernen wissenschaftlichen Denkens in theoretischer Hinsicht als höher gelten gegenüber denen des traditionellen religiösen Denkens. Damit fällt er in den neokolonialen Denkstil zurück, den er auf der Basis der Ergebnisse seines ersten Teils hätte überwinden können. Und es ist nur noch ein Schritt bis zu der These, dass es eine afrikanische Philosophie nicht gibt und nicht geben kann. Philosophie gehört zum westlich wissenschaftlichen Denken und ist deshalb einem anderen Theorietyp zugehörig als das afrikanische Denken. Was aber hindert ihn daran, jedem der besprochenen prinzipiell gleich strukturierten Theorietypen eine Philosophie zuzuordnen, außer eine Konzeption von Philosophie, die dogmatisch an den westlich wissenschaftlichen Theorietyp gebunden ist, gewissermaßen als der Identitätsbeweis seiner Überlegenheit?

Meines Erachtens ist es auf der Grundlage des ersten Teils der Hortonschen Studie angebracht, die Unterschiede zwischen beiden Theorietypen oder Erkenntnisweisen nicht dichotomisch zu bestimmen, sondern auf jeder der beiden Seiten erneut Vor- und Nachteile abzuwägen. Dann kann man immer noch sehen, ob sich ein Gleichgewicht ergibt oder ob eine der beiden Waagschalen schwerer ist und sich nach unten neigt. Wenn das letztere der Fall sein sollte, ist zu fragen, welche Gesichtspunkte das Übergewicht bewirken.

Bevor wir zu dieser Abwägung kommen, möchte ich auf einen Artikel von G. Sogolo eingehen, der ein Schüler Hortons in Ife war und jetzt in Ibadan doziert. Er untersucht, wie sich auf dem Gebiet der medizinischen Theorie traditionell afrikanisches und modern westliches Denken produktiv aufeinander beziehen lassen. Zu diesem Zweck geht er aus von der »soziokulturellen Konzeption von Gesundheit und Krankheit in Afrika«.[188] Sein Ziel ist jedoch zu zeigen, dass die »Konzeption von Gesundheit und Krankheit kulturgebunden ist«. Zu jeder Kultur, zur traditionell afrikanischen wie zur modern westlichen gehört eine bestimmte Konzeption von Gesundheit und Krankheit, gewissermaßen als ein integraler Bestandteil der jeweiligen Kultur. Ebenso wenig wie man sagen kann, dass die eine Kultur besser ist als die andere, kann man eine theoretische Überlegenheit der einen über die andere Konzeption annehmen.

Dass eine Krankheit verursacht wird durch den Fluch eines anderen oder durch die Verwünschung einer Hexe, verweist auf Probleme in der sozialen Umgebung des Kranken. Wenn die Geister der Vorfahren als Ursache angenommen werden, weil ihnen nicht die gebührende Ehre angetan wurde durch Trank- und Speiseopfer, handelt es sich um Schuldgefühle gegenüber diesen Verstorbenen. Die Therapie sucht diese Ursachen zu berücksichtigen. In aller Regel wird die Anwendung von Kräutern kombiniert mit rituellen Vorschriften, die der Regulierung der Verhältnisse zu der sozialen Umwelt und zu den Vorfahren dienen. Wenn die Behandlung durch den Heiler (»herbalist« oder »witch-doctor«) nicht zum Erfolg führt, werden andere Instanzen aus der Hierarchie der Leiter der Rituale oder der Priester zu Hilfe gerufen.

In der westlichen Medizin hat es eine Periode gegeben, in der das Medikament in seiner therapeutischen Wirkung isoliert gesehen worden ist. Heute wird dem Vertrauen zum Arzt, zu seiner ärztlichen Kunst, ebenfalls Bedeutung beigemessen, psychische und soziale Krankheitsursachen werden bei der Diagnose mit berücksichtigt. Die heilende Wirkung des Medikaments trägt im Unterschied zur afrikanischen Auffassung noch immer den Hauptakzent. Aber es sind auch erstaunliche Ergebnisse des Placebo-Effekts bekannt. Und in der Psychosomatik zeigt sich eine leichte Tendenz, dass westliche und afrikanische Medizin konvergieren. Für westliches Denken überwiegt die Betrachtung kranker Teile des Organismus, die durch bestimmte Eingriffe oder Medikamente geheilt werden können, während im afrikanischen Denken, etwa bei den Yoruba, die Gesamtheit des physischen, sozialen, psychischen und spirituellen Wohlbefindens als Gesundheit bzw. dessen Abwesenheit als Krankheit aufgefasst werden.

Dass die Afrikaner immer verschiedene Ursachen einer Krankheit annehmen und zu beseitigen suchen, ist häufig als inkohärentes Denken oder Irrationalismus aufgefasst worden. Es handelt sich jedoch im Grunde um zwei Kategorien von Ursachen, natürliche und übernatürliche, die auf verschiedenen Ebenen liegen und sich nicht widersprechen müssen. Eine ähnliche Unterscheidung von Erklärungsebenen, nämlich die alltägliche und die wissenschaftlich-theoretische, gibt es wie Horton ausführlich gezeigt hat in der westlichen Erfahrungswelt. Die Psychosomatik oder alternative Strömungen in der westlichen Medizin sind aber nun durchaus offen für die Erfahrungen afrikanischer Heiler. Darin zeichnet sich ab, wie sich das wissenschaftlich westliche und das traditionell afrikanische Denken produktiv aufeinander beziehen lassen.

Traditionelles und modernes Denken sind nicht getrennte Welten, zwischen denen eine strenge Dichotomie besteht, wie Horton noch annimmt. In der wesentlich veränderten und in ihrem begrifflichen Instrumentarium verfeinerten Version seiner Studie, 15 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Fassung, hält Horton an dieser Dichotomie weiterhin fest.[189] Es handelt sich für ihn um eine Strukturgleichheit in zwei theoretischen Erkenntnisweisen, die durch eine tiefe Kluft voneinander getrennt sind. Sie antworten auf jeweils völlig verschiedene technologische, ökonomische und soziale Situationen.

Kennzeichnend ist, dass Horton in der späteren Fassung nicht nur von den Erklärungsleistungen einer Theorie spricht, sondern auch ihre Stärke bezüglich der »Vorhersage« und »Kontrolle« von Ereignissen zum Maßstab erhebt. Damit gewinnt der westliche Theorietyp das Übergewicht. Dabei muss man jedoch anders als Horton folgende Schlussfolgerungen beachten: Das Kriterium ist nun nicht mehr die Wahrheit einer Theorie. In dieser Hinsicht lässt sich keine Entscheidung Mlen. Die traditionelle afrikanische und die modern westliche haben jede ihre eigene Wahrheit, die auf ihre Situation bezüglich ist. Es handelt sich vielmehr um zwei Auffassungen von Realität, die beide in gleicher Weise fiktiv sind. Es gibt nicht eine reale Realität, und das ist die modern westliche, und daneben andere fiktive, z.B. die traditionell afrikanische. Dass die modern westliche sich als überlegen erweist, ist keine Frage der Wahrheit, sondern eine Frage der Macht. Die Kraft der Vorhersage und der Kontrolle ist größer im modern westlichen Theorietyp.

Was die heutige Situation in Afrika verlangt, ist aber meines Erachtens nicht ein Übergang von der traditionellen zur überlegenen modernen Erkenntnisweise. Wie das Beispiel des Verständnisses von Krankheit und Gesundheit zeigt, lassen sich beide Theorietypen produktiv aufeinander beziehen. Es geht darum, eine Mischform zu finden, die der heutigen Situation in Afrika entspricht, wo Tradition und Modernität nebeneinander bestehen. Wenn moderne Erscheinungen traditionell afrikanische Züge tragen, muss das nicht ein zu überwindender Rest des Traditionellen sein. Es kann als Behinderung des Modernisierungs-Prozesses auftreten. Aber es kann auch eine Modifikation dieses Prozesses bedeuten, die dazu führt, dass dem westlichen Denken Dimensionen hinzugefügt werden, die darin lange Zeit hindurch verschüttet oder abgeblockt waren.

 

Notiz VI Beteiligung an vier Lehrveranstaltungen in Legon-Accra

Die Lehrveranstaltungen des Studienjahres 1989-90 begannen an der »University of Ghana« in Legon-Accra mit etwa zwei Monaten Verspätung am 4. Dezember 1989. Im »Department of Philosophy« wird das gesamte Lehrprogramm von drei Dozenten getragen; der vierte hat zur Zeit Forschungsurlaub. 10 der 1 Kurse werden von Anfang an gegeben; vorerst finden noch kein Kurse statt über »Antike griechische Philosophie Plato und Aristoteles« und über »Philosophy of mind«, beide innerhalb de Programms für Teil II, also für Studenten des letzten Jahres vor dem B.A.-Examen (s. Notiz IV). Die einzelnen Kurse werde~ wöchentlich in zwei Stunden gegeben. Verabredungen über zusätzliche »tutorials« sollen noch gemacht werden. Von den Studenten werden eigene Lesearbeit und das Schreiben kurzer Essays im Rahmen eines »continual assessment« erwartet.

An vier Lehrveranstaltungen habe ich mich während der drei Wochen bis zu den Weihnachtsferien regelmäßig beteiligt. Dabei habe ich diejenigen Veranstaltungen ausgesucht, zu denen ich wenn gewünscht unmittelbar einen Beitrag geben konnte. Eine »Intra-Faculty Lecture« der »Faculty of Arts«, übrigens die erste ihrer Art, die vom Vice-Chancellor der Universität inauguriert wurde, über »Civil society, state, and history in Hegel'! thought«, die ich gehalten habe, galt zugleich als Beitrag zu derr. Kurs über »Politische und Sozialphilosophie«. Dieser Kurs wurde von einer Dozentin aus USA gegeben, die aber hier schon seit Jahren auf der Grundlage eines ortsüblichen Gehalts arbeitet. Ein weiterer Beitrag zu diesem Kurs war eine Vorlesungsstunde über Marx' Hegelrezeption. Beide Themen bildeten eine Ergänzung zum Inhalt des Kurses, in dem Hegel nicht vorkam. Die aktuellen Diskussionen, die behandelt werden sollen, sind nicht spezifisch auf Dritte-Welt-Probleme oder Afrika bezogen, sondern schließen sich bei gängigen Themen der angloamerikanischen philosophischen Szene an: Popper, feministische Marxismuskritik und Rawls.

Den Studenten des Kurses über »Afrikanische Philosophie« habe ich einige Gedanken aus Philosophische Probleme VIII: »Philosophie in Sprichwörtern« und »Wie systematisch ist das afrikanische Denken?« vorgetragen, die lebhaft diskutiert wurden. Dies geschah, nachdem der Dozent, Prof. Gyekye, einige Stunden darauf verwendet hatte, annehmbar zu machen, dass Afrika eine eigene, weit zurückreichende philosophische Tradition hat und dass Sprichwörter eine Hauptquelle dieser afrikanischen Philosophie sind.

Für die Anfänger, Studenten des F.U.E.-Jahres (»First University Examination«), habe ich im Rahmen der Vorlesung über »Probleme der Philosophie«, die eine »Einführung in die Philosophie« bietet, eine Stunde lang über Kants Frage: »Was können wir wissen?« vorgetragen. Die Erkenntnisrestriktion auf endliche Gegenstände, deren Data in der Anschauung gegeben sind und die im Wege des Denkens als solche konstituiert werden, rief viele Fragen und Proteste hervor. Die Existenz Gottes zu bezweifeln, erschien unnötig und die Haltung des Nichtwissens im Sinne objektiver Erkenntnis gegenüber metaphysischen Aussagen künstlich oder gewollt. »Intuition ist real«, wurde argumentiert; sie sollte in einer Erkenntnistheorie ihren festen Platz haben. Jedenfalls war ein großes Staunen da, nicht als Anfang der Wissenschaft, sondern im Blick auf diesen Typus von Wissenschaft, der durch Kants Erkenntnistheorie repräsentiert wird.

Die vierte Veranstaltung, die ich besucht habe, war der obligatorische Kurs über »Methodologie der Wissenschaften« in Teil II, d.h. im dritten und letzten Jahr des B.A.-Studiums. In der ersten Hälfte des Studienjahres wird er von einem amerikanisch-kanadischen Dozenten gegeben; in der zweiten Hälfte von derselben Dozentin, die auch den Kurs über »Politische und Sozialphilosophie« leitet. Es handelt sich ausschließlich um Methodologie der Naturwissenschaften oder einer von den Naturwissenschaften aus konzipierten Einheitswissenschaft etwa im Sinne Poppers. Ein ergänzender Beitrag zur Philosophie (Methodologie) der Human- und Sozialwissenschaften wäre willkommen gewesen, ließ sich aber in der Kürze der Zeit, die ich an den Veranstaltungen teilnehmen konnte (drei Wochen), nicht unterbringen.

 

Philosophische Probleme XI Moralität als Erfüllung des Schicksals

Die traditionelle Moralität der afrikanischen Völker ist ein Teil ihrer traditionellen Lebensweise. Die Normen des richtigen und guten Lebens werden durch Erziehung, soziale Kontrolle und Teilnahme an den Ritualen vermittelt und internalisiert. Da die Rituale weitgehend religiös begründet sind und von Priestern oder Priesterinnen geleitet werden, ist auch die Moralität eng mit der Religion verflochten. Sofern das Moralische und das Recht einander berühren, wirken auch die traditionellen Instanzen der Rechtsfindung, der Häuptling und die Ältesten des Stammes, an der Einbettung der Moralität in den Lebenszusammenhang mit.

Wo die traditionelle Lebensweise aufgegeben wird, entstehen ethische Probleme. Die Kriminalität der Großstädte ist gewiss nicht ausschließlich ein afrikanisches Phänomen. Aber man kann in Afrika an dem Grad der Modernisierung mancher Großstädte, die mit dem Loslassen traditioneller Bindungen zusammengeht, ablesen, wie viel Verbrechen, Betrügereien, Beraubungen, Bedrohungen man erwarten kann. In dieser Hinsicht ist ein Vergleich zwischen Nairobi und Dar es Salaam in Ostafrika und zwischen Lagos und Accra in Westafrika sehr aufschlussreich. In Dar es Salaam oder Accra, die noch stärker eingebunden sind in traditionelle Strukturen, kann man sich wesentlich sicherer fühlen als in den stark europäisierten und modernisierten Städten Nairobi oder Lagos.

Wie man dem moralischen Verfall begegnen kann, der mit der Verstädterung und der Auflösung der Stammesverbände zusammengeht, ist ein schwieriges Problem. Auf der einen Seite wird von der Erziehung viel erwartet. Moralität lehren im Rahmen eines Erziehungs- und Bildungsprogramms scheint ein wichtiger Weg zu sein. Daran wirken auch Zeitungen und andere Medien mit. Anderseits ist eine Reaktivierung traditioneller Werte eine entscheidende und viel beschworene Möglichkeit. Sie ist insofern real, als die Religiosität vielfach auch in den Städten weiterhin eine bestimmende Größe ist und zu diesem Prozess etwas beitragen kann. Ob die traditionellen Werte in dem Maße wieder lebendig werden können, in dem Christentum und Islam afrikanisiert werden?

Jedenfalls steht fest, dass eine Reaktivierung traditioneller Ethik voraussetzt, dass diese nicht vergessen wird. An einer Erfassung und Deutung traditioneller Ethik wird in Ghana seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten aus gearbeitet. Die Forschungen beziehen sich vor allem auf die Akan-Stämme, aber auch andere, teilweise auch Stämme aus anderen Ländern werden mit herangezogen. Am Ende seines einleitenden Kapitels zu C.A. Ackahs Buch Akan ethics gibt J.C. Thomas eine Übersicht über das bisher vorhandene Material.[190] Diese Arbeit muss freilich im Zusammenhang umfassenderer Forschungen zu den Akan-Stämmen gesehen werden.[191]

In methodischer Hinsicht ist für eine Fallstudie über die Akan-Ethik Danquahs Buch The Akan doctrine of God besonders wichtig, das primär aus einem ethischen Motiv geschrieben ist und einen Abschnitt enthält: »Ethical canons of the doctrine«.[192] Darauf hat Thomas in dem erwähnten Text hingewiesen und auch sogleich zwei Schwierigkeiten benannt, die bei der Deutung dieses Abschnitts entstehen: 1. Danquah präsentiert Akan-Ideen in europäischem Gewand (vgl. Philosophische Probleme I) und 2. er behandelt Ethik nur in ihrer Beziehung zur Religion.[193] Der entscheidende Interpretationsrahmen seiner Ethik ist die Konzeption des Schicksals bei den Akan. (Der Begriff Schicksal wird durch zwei Äquivalente wiedergegeben, die aber keine wesentlich verschiedene Bedeutung haben: »hyebea« wörtlich: arrangiert in einer bestimmter Art und Weise; »ukrabea« wörtlich: Botschaft einer bestimmten Art und Weise.) Für die Auffassungen der Akan vom Schicksal kann man davon ausgehen, dass das Leben der Menschen in seinen allgemeinen Gegebenheiten (Geburt, grundlegende Charaktermerkmale, Stellung in der Gesellschaft und Tod) vorbestimmt ist. Das heißt aber nicht, dass ein Schicksalsglaube wie im Islam vorherrscht. Für den Einzelnen bleibt Raum zu freier Entscheidung. Denn nur die allgemeinen Grundzüge sind festgelegt. Die konkreten Einzelentscheidungen trifft das Individuum oder die Gruppe (Familie, Stamm, Volk) aus freiem Willen.

Wichtig ist, dass die Vorbestimmung nicht eine Alternative einschließt wie im christlichen Glauben: zum Guten oder zum Bösen, zur ewigen Seligkeit oder zur Verdammnis. Sie ist für die Akan immer eine Vorbestimmung zum Guten. Das Böse entsteht durch falsche Entscheidungen der Menschen und durch den Einfluss böser Mächte. Dies sind die Geister Verstorbener, denen Schlechtes angetan wurde oder in deren Leben das Böse die Oberhand hatte. Auch durch Unglücksfälle, die nicht im Schicksal festgelegt sind, kann die gute Vorbestimmung gewissermaßen verdorben werden.

Die Ethik ist insofern auf das Schicksal bezogen, als sie lehrt, dass jede gute Handlung zur Erfüllung des Schicksals beiträgt. »Jede Bemühung um das Gute wird als Verdienst in der Seele (>okra<) bewahrt und trägt bei zur fortschreitender Erfüllung durch das Individuum oder durch das Schicksal seiner Seele.«[194] Für diesen Begriff der Seele, die das Göttliche im Menschen repräsentiert (s. Philosophische Probleme IX), ist entscheidend, dass in ihr das Böse keinen Raum hat. Das Böse betrifft nicht diesen innersten Kern des Selbst. Es entsteht im Bereich des Geistes (»sunsum«), in dem die Entscheidungen nicht nur rational, sondern auch aus emotionalen Gründen getroffen werden. Hier kann auch der Einfluss der bösen Mächte eingreifen.

In ihrem Gutsein kann die Seele aber offensichtlich »wachsen«. Dies ist in erster Linie ein moralischer Fortschritt des Individuums, das zu Charakterstärke findet und dem Einfluss der bösen Mächte gegenüber immun wird. Der moralische Fortschritt des einzelnen überträgt sich und setzt sich fort in der Gemeinschaft. Je größer die Rolle ist, die ein Individuum in seiner Familie oder seinem Stamm spielt, desto mehr wird auch sein fort-schreitendes Gutsein für diese Gemeinschaften von Bedeutung sein. Dieser Prozess endet nicht bei den Gemeinschaften der direkten Umgebung. Er setzt sich fort in einer ganzen Region, innerhalb der gesamten Rasse. Tendenziell ist er auf die ganze Menschheit gerichtet. Was in diesen Auffassungen der Akan gedacht wird, ist nicht eine »moralische Erziehung des Menschen-Geschlechts«, wie sie etwa Lessing innerhalb der europäischen Tradition konzipiert hat, sondern die Tendenz oder das Postulat eines moralischen Wachstums, das vom Einzelnen ausgeht und auf die gesamte Menschheit gerichtet ist.

Das moralische Handeln des Menschen ist in diesem Sinne schicksalhaft. Es muss im Rahmen des eigenen und des Schicksals der Menschheit gesehen werden einschließlich aller Zwischenstufen. Es wirkt mit an dem Plan, den das höchste Wesen (»Onyame«) mit den Menschen und der Menschheit verfolgt, und hat deshalb eine deutliche religiöse Dimension. Trotzdem gilt, dass die Begründung der Moralität nicht religiös ist, sondern einen profanen Charakter hat. Was gut ist, ist nicht deshalb gut, weil es von Gott oder einer religiösen Instanz geboten ist. Es ist gut, weil es für den Menschen und für die Gemeinschaft gut ist. Gyekye unterstreicht diesen Aspekt der Akan-Ethik mit Nachdruck.[195] Der Mensch trägt dabei für sein Handeln die volle Verantwortung. Die Freiheit seines Willens ist nicht in dem Sinne eingeschränkt, dass das Böse für ihn unausweichlich wäre. Die bösen Mächte, die ihn beeinflussen können, haben keine absolute Macht über seinen Willen.

Beispiele für moralisch gutes Handeln sind: Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit; Schönheit und Eleganz des Handelns (dieser ästhetische Aspekt hat offenbar hohe Priorität); Weisheit und Geschicklichkeit (dies ist ein pragmatischer Aspekt); Mut und Unerschrockenheit (gegenüber natürlichen Gefahren und im Krieg); Gerechtigkeit und gleiche Behandlung aller (Gleichheit in einem rechtlichen Sinn); Gehorsam und Unterordnung unter eine Autorität (die väterliche Autorität und die des Häuptlings und der Ältesten stehen an erster Stelle); Großzügigkeit und Freigebigkeit (insbesondere gegenüber Gästen und Armen). Als umgekehrte Beispiele sind zu nennen: Mord; Selbstmord; Diebstahl; Heuchelei; Undankbarkeit; Selbstsucht; Faulheit; Unsauberkeit; Laszivität; Ehebruch; Inzest; Zauberei, die anderen schadet.[196]

Der Ort der Einübung der moralischen Werte ist vor allem die Familie. Bestimmte Werte werden eher vom Vater gelehrt. Insbesondere sucht er die männlichen Tugenden (Geschicklichkeit, Mut, Gerechtigkeit etc.) an die Söhne weiterzugeben. Ent-sprechend sucht die Mutter primär weibliche Tugenden (Schönheit, gleiche Behandlung aller, Großzügigkeit etc.) den Töchtern einzuprägen. Dabei spielen das elterliche Vorbild und der Gebrauch von Sprichwörtern und Volkssagen (oft auch beide kombiniert) eine wichtige Rolle. Es kann übrigens auch so sein, dass ein wenig erfolgreicher und angesehener Vater für den Sohn ein Anreiz ist, selbst auf jeden Fall zu Erfolg und Ansehen zu kommen. Ein Beispiel hierfür ist Okonkwo in Ch. Achebes Things fall apart.[197]

Für die Erzählungen und Volkssagen, die bei den Akan zur moralischen Erziehung gehören, soll hier ein kurzes Beispiel angeführt werden. In ihnen spielt meist Kweku Ananse (»Kweku« heißen alle an einem Mittwoch geborenen männlichen Kinder, »Ananse« ist: Spinne), ein schlaues und verschlagenes Wesen, die Hauptrolle. Hier die Geschichte: Ein Leopard, der auf der Suche nach Beute in eine Grube gefallen ist, kann durch die Hilfe einer Ratte wieder hinausklettern. Denn die Ratte befestigt einen Strick an einem Baum und wirft das andere Ende ii die Grube. Anstatt dankbar zu sein, überlegt der Leopard, di~ Ratte zu töten, damit niemand erfährt, dass er die Hilfe eines si viel Schwächeren benötigt. Während Leopard und Ratte darüber diskutieren, kommt zufällig Kweku Ananse vorbei: Er tut so, als glaube er nicht, was vorgefallen ist, und bringt den Leoparden und die Rate dazu, das Ganze zu wiederholen. Als der erster wieder in die Grube gesprungen ist, sagt Ananse: Jetzt bleib, w~ du bist und lerne dort, »dass man Gutes nicht mit Bösem vergelten soll«.[198]

Moralisches Fehlverhalten wird nach der Ethik der Akan von Gott selbst (»Onyame«), den Naturgöttern oder den Geistern de Verstorbenen bestraft, sofern nicht Autoritäten der Gemeinscha3 der Lebenden eine Sanktion auferlegen. Ein Amulett oder Talisman kann vor falschen Entscheidungen schützen. Auch könne die Geister der Vorfahren als Beschützer angerufen werden. Reue und das Streben, zugefügten Schaden wieder gut zu machen, tragen dazu bei, das Böse wieder aus dem Geist zu vertreiben.

Soweit die Fallstudie zur Akan-Ethik. Auch wenn ma. berücksichtigt, dass die Begründung der Moral hier nicht religiös ist, so zeigt sich doch, dass das praktische moralische Verhalte vielfach mit religiösen Vorstellungen und religiösen Gebräuche verbunden ist. Diese können deshalb einen Ansatzpunkt bilde für die moralische Erziehung und für eine mögliche Reaktivierung traditioneller Werte. Inhaltlich steht im Mittelpunkt de Gemeinschaftssinn, das Gemeinwohl und die gegenseitige Hilfe Die Tugenden, die dazu gehören, haben traditionell die Sozialstrukturen bestimmt. Das deutlichste Beispiel ist die »extended family« (vgl. Philosophische Probleme IX). Wenn diese Sozialstrukturen im Zuge der Modernisierung aufgelöst werden, verlieren die zugehörigen moralischen Werte nicht ohne weiteres ihr Gültigkeit. Es ist die Frage, ob sie auf der Grundlage veränderte Verhältnisse zu neuen Verhaltensmustern führen können.

Rein theoretisch ist hierüber wenig auszumachen. Die Beibehaltung der Verhaltensformen der »extended family« hat in vielen afrikanischen Staaten kurz nach der Unabhängigkeit zu schlimmen Beispielen von »Vetternwirtschaft« geführt. Die gegenwärtige Mischung von traditionell afrikanischen und modern westlichen Verhältnissen enthält ebenso sehr positive wie negative Möglichkeiten. Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich in den von mir besuchten afrikanischen Ländern gewonnen habe. Die traditionellen Tugenden müssten unter den Bedingungen des Modernisierungsprozesses das Verhalten auf neue Weise bestimmen. Wie das konkret auszusehen hat, kann sich nur in der Praxis erweisen. Es wäre ein würdiges Erbe der von Danquah entwickelten Perspektiven, wenn diese Praxis letztendlich auf die weltweiten Probleme ausgerichtet wäre. Das heißt Einbindung der Moral in das Schicksal.

 

Tagebuchaufzeichnung V »Besuch in Kumasi«

Kumasi, 18.12.1989

Die Hauptstadt der Ashanti-Region, des früheren Königreichs der Ashanti, ist einen Besuch wert. Die Stadt liegt etwa 260 km nordwestlich von Accra. Die Straße dorthin ist überwiegend in gutem bis sehr gutem Zustand, was aber nicht heißt, dass keine schlechteren Stücke vorkommen oder dass nicht jederzeit unerwartet ein böses Schlagloch vor dem Auto auftauchen kann. Die Stadt selbst besteht zum großen Teil aus einer Bausubstanz, die noch aus der Kolonialzeit stammt. Einige Straßen sind gut as-phaltiert, einschließlich der Gehsteige, andere sind schlecht oder sehr schlecht befahrbar. Wie in Accra in der Innenstadt oder noch mehr als dort werden die Abwässer aus den Häusern ober-irdisch in den Fluss geleitet, der durch die Stadt fließt (vgl. Tagebuchaufzeichnung IV). Ein riesiger Markt im Zentrum gibt den Eindruck einer sehr geschäftigen Stadt. Derselbe Eindruck wird auch vermittelt durch die vielen Stellen, an denen die Straßen ausgebessert, verbreitert und asphaltiert werden. Eine DDR-Firma: »Limex-Bau« scheint wesentlich daran beteiligt zu sein. Man kann sich fragen, ob es nicht besser wäre, zuerst eine Kanalisation zu bauen und dann im großen Stil die Straßen zu erneuern.

Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind: ein Kulturzentrum, ein Zoo und der königliche Palast. Das kleine Museum im Kulturzentrum informiert recht gut über die Ashanti-Kultur und Ashanti-Geschichte. Dieses Volk, das zusammen mit den Fanti und einigen anderen Stämmen zur Gruppe der Akan gehört, gilt traditionell als reich, vor allem wegen der Goldvorkommen, und als sehr kriegerisch und tapfer, Die Besonderheit dieses Königshauses besteht darin, dass die Erbfolge durch die mütterliche Linie bestimmt, der König selbst oder Asantehene jedoch ein Mann ist. Die Königinmutter oder Asantehemaa spielt bei der Ernennung eines Kandidaten aus der königlichen Familie, der dann von den Häuptlingen oder regionalen Königen gewählt wird, eine wichtige Rolle. Sie hat auch auf bestimmte Gebiete der Politik großen Einfluss. Der Asantehene erhält seine Würde, indem er auf dem königlichen Stuhl Platz nimmt. Der König wird also nicht inthronisiert, sondern »eingestuhlt« (stooled) und kann von den Häuptlingen (chiefs) auch wieder »entstuhlt« (destooled) werden.[199] Im 18. Jahrhundert während der Herrschaft des vierten Königs der Ashanti, »Nana Osei Tutu« (1680-1717), wurde nach Berichten autochthoner Historiker ein »goldener Stuhl« an drei Ketten vom Himmel heruntergelassen und von unsichtbaren Händen zu Füßen des Königs hingestellt.[200] Seither ist er das Symbol der Macht und Würde der Asantehene, die allerdings nie wirklich darauf sitzen. Er gilt als der Träger der »Seele« des Volkes und wird an einem geheimen Platz aufbewahrt. Als die britische Kolonialverwaltung den »goldenen Stuhl« in Besitz nehmen wollte, kam es zu einem blutigen Krieg, in dem die Ashanti ihr nationales Symbol erfolgreich verteidigten.

Als wir den Palast der Asantehemaa besichtigten, fragte uns ein Mann, der eine Art Aufsichtsfunktion hatte, ob wir die Königinmutter Afia Kobi Servaa Ampem II sehen möchten. Wir verabredeten einen Besuch am nächsten Vormittag. Einige Leute in einem Restaurant, wo wir zu Abend gegessen haben, informierten uns, dass wir eine Flasche aromatisierten »Schnaps« und etwas Geld mitzubringen hätten. Mit diesen Dingen ausgerüstet, gingen wir zum verabredeten Besuch. Der Aufsichtsbeamte führte uns zur Königinmutter, die im Hof saß, umgeben von etwa zehn Dienerinnen. Wir wurden vorgestellt und die Asantehemaa ließ uns fragen, was wir gerne wissen möchten. Ich verwies auf Zeitungsberichte über ihre Unterstützung der Frauenbewegung in Ghana und wollte wissen, wie sie dazu steht. Ihre Antwort war: »Es ist wahr, was Sie gelesen haben.« Meine zweite Frage bezog sich auf die Rolle der Frau in der heutigen ghanesischen Gesellschaft, was sie darüber denke. Ihre Antwort war wiederum sehr kurz und prägnant: »Bitte, gehen Sie in mein 'Public relation office', dort wird man Sie über alles informieren.« Damit waren wir entlassen. Wir überreichten unsere Geschenke dem Übersetzer und wollten noch ein Photo machen. Das erlaubte sie nicht, weil sie nicht entsprechend gekleidet sei. Tatsächlich trug sie ein schwarzes Tuch über der linken Schulter und ein oranges Tuch um ihre Hüften. Wie wir erfuhren, ist dies die Trauerkleidung. Ihr Sohn war vor einigen Monaten gestorben.

Der König und die Chiefs, die auch Könige sind, deren Erbfolge in derselben Weise geregelt ist, haben keine wirkliche Macht mehr im heutigen Ghana. Sie sind an der regionalen Verwaltung beteiligt. Aber ihre Autorität und ihr Einfluss sind groß. Bei Festen und anderen öffentlichen Anlässen haben sie rituelle Funktionen. Man kann sagen, dass die offiziellen Staatsorgane, sog. revolutionäre Komitees, konstruktiv mit den chiefs, dem Asantehene und der Asantehemaa zusammenarbeiten.

Kumasi hat auch eine Universität (UST University of Sciences and Technology). Der Campus ist fast so groß wie der in Legon (s. Tagebuchaufzeichnung IV), aber in der Anlage mehr naturbelassen. Als eine Folge des Klimas, denn die Stadt liegt auf Hügeln, und es ist etwas kühler, ist alles grüner und frischer. Die Bibliothek scheint stark naturwissenschaftlich-technisch orientiert zu sein und wenig philosophische und sozialwissenschaftliche Literatur zu enthalten. Ich drücke mich vorsichtig aus, weil ich nur einzelne Stichproben gemacht habe. Mich interessierte besonders das »College of Art« mit Klassen für Malerei, Skulptur, Keramikarbeiten, Holzschnitzkunst und Design. Eine ständige Ausstellung und einige Examenausstellungen von Studenten waren zu sehen. Gegenständliche Darstellung stand im Vordergrund, außer bei den Keramikarbeiten und den Beispielen von Design. Materialkunde und Übung im Materialgebrauch scheint im Unterricht eine wichtige Rolle zu spielen. Der Gedanke eines eventuellen Studentenaustausches mit der Bundesrepublik Deutschland oder den Niederlanden wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.

 

Philosophische Probleme XII Zeit, Geschichte und Entwicklung

In der kulturanthropologischen Literatur wird über den Zeitbegriff und die Zeiterfahrung verschiedener afrikanischer Stämme berichtet. E. Evans Pritchard hat untersucht, wie die Nuer die Zeit einteilen.[201] Zeit ist für sie nicht ein isolierter Begriff, sondern die Zeiterfahrung ist eingebettet in soziale Aktivitäten sowie ökologische und meteorologische Erscheinungen. Nicht die gleichmäßige Folge abstrakter Einheiten wie Sekunden, Minuten oder Stunden wird gemessen. Es gibt Trockenzeiten und Regenzeiten, die einen verschiedenen Lebensrhythmus bedingen. In der ersteren wird der Acker bestellt und im Dorf gearbeitet; in der letzteren ziehen die Männer hinaus zur Jagd. Ferner ist der Stand der Sonne oder des Mondes wichtig, die Wiederkehr der Markt-Tage und bestimmter Feste oder seit der Christianisierung der sonntäglichen Gottesdienste. Zusammenfassend nennt Evans Pritchard drei Ebenen der Zeiterfahrung: die physische; die ökologische, die von physischen Erscheinungen ausgeht; und die soziale, die ihrerseits die ökologische voraussetzt.

Ergänzende Information kann aus den Artikeln von P. Bohannan über »Concepts of time among the Tiv of Nigeria« und J. Ayoade über »Time in Yoruba thought« entnommen werden.[202] Das Wort für »Sonne« bedeutet in der Sprache der Tiv zugleich die Zeitspanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang; das Wort für »Mond« die Zeitspanne zwischen Vollmond und Neumond. Landwirtschaftliche Aktivitäten werden mit den Trocken- und Regenzeiten verknüpft, ohne dass ein ursächlicher Zusammenhang hergestellt wird. Die fünftägige Wiederkehr der Markttage wird später durch den siebentägigen Rhythmus der Tage zwischen den christlichen Gottesdiensten ersetzt. Die Lebensabschnitte eines individuellen Lebens helfen zur Einteilung länger dauernder Zeitabschnitte. Was die Zeitspanne eines individuellen Lebens überschreitet, wird durch Genealogien (zur Zeit des Großvaters oder seines Vaters usw.) oder legendäre Ereignisse angegeben, wobei die letzteren im Grunde zeitlos sind, un-bestimmt im Schoß der Vergangenheit ruhen.

Ayoade unterscheidet menschliche Maßstäbe und solche der natürlichen Umgebung für die Zeitmessung. Die ersteren sind entweder egozentrisch oder auf die Gemeinschaft zentriert. Dieses menschliche Zeitmaß ist linear und fortschreitend, während das natürliche zyklisch ist. Das letztere ist in sich dreifach: kosmisch, irdisch und ökologisch. Wichtig ist ein nicht rein quantitatives, sondern häufig auch qualitatives Zeitverständnis. Wenn ein Kind ganz erwachsen ist, ist es für die Yoruba ebenso alt wie seine Eltern. Neben Trocken- und Regenzeiten zählen die Yoruba auch Erntezeiten für verschiedene Früchte oder landwirtschaftliche Erzeugnisse (Mangos, Mais oder Yams). Friedliche Jahre sind weiblich, kriegerische männlich in der Erinnerung. Die Wocheneinteilung der Yoruba hat nach Ayoade einen rituellen Ursprung. Denn der Tag der Woche, an dem jemand geboren ist, bestimmt seinen Charakter und sein Schicksal.

Entschieden wendet sich Ayoade gegen Mbitis These, dass die Afrikaner in ihrer Zeiteinteilung praktisch keine Zukunft kennen oder Zukunft allenfalls als Zukunftsaspekte der Gegenwart (s. Philosophische Probleme VII: »Gott und die Geister«). Auch wenn ferne Zukunft nicht als abstrakter Begriff vorkommt, unterscheiden die Yoruba deutlich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Schauplatz der Geschichte. Dabei ist Zeit nicht unlösbar an Ereignisse gebunden, sondern auch als solche fassbar. Es besteht ein Bewusstsein des unumkehrbaren und ununterbrochenen Zeitflusses, der durch die Mondphasen symbolisiert wird.

Mbitis Deutung des afrikanischen Zeiterlebens, das sich auf die Sprachen und Gebräuche der Akamba und der Gikuyu stützt, wird auch von vielen anderen bestritten oder zumindest als falsche Verallgemeinerung abgelehnt. Die weisen Männer der Luo und Kisii geben Beispiele von prophetischer Vorausschau auf ferne zukünftige Ereignisse (s. Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren«). Gyekye kann neben dem Verweis auf Seher und Medizinmänner mit prophetischer Gabe Sprichwörter der Akan-Sprachen anführen, die ein lineares, in die Zukunft hineinreichendes Zeitverständnis implizieren: »Weil es zukünftige Zeit gibt, gibt es Hoffnung« oder »Alles wird eines Tages in einem Jenseits enden«. Das letztere zeigt auch die metaphysische Dimension des Zeitverständnisses an. Wie bei den Yoruba ist der Wochentag der Geburt bestimmend für das Schicksal.[203]

Dem Ausgangspunkt Mbitis, dass für die Afrikaner »Zeit einfach eine Zusammenfügung von Ereignissen ist, die stattgefunden haben«,[204] wird von Gyekye ebenso wie von Ayoade widersprochen. Die Akan haben nicht nur Worte für ferne Zukunft, sondern kennen auch in ihrer Grammatik eine erste und eine zweite Zukunft. Die Zeiteinteilung ist zwar an konkrete Ereignisse gebunden, aber Zeit wird auch unabhängig von ihnen gedacht: sie geschehen in der Zeit.[205] J. Nyasani berichtet darüber hinaus von einer Zeiterfahrung der Kisii, die gewissermaßen eine vierte Dimension kennt, in der Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. Vergangene Ereignisse können wiederkehren, Zeit erneuert sich aus sich selbst, weil sie eine Kraft im Leben der Gesellschaft ist.[206]

Schließlich soll noch die Zeitinterpretation Ndaws erwähnt werden, die von den Erfahrungen der Menschen in Senegal ausgeht.[207] Er unterscheidet eine physische Zeit, die objektiv ist und unabhängig vom psychischen Erleben, eine psychologische Zeit, die subjektiv und vieldeutig ist, und eine soziale Zeit, in der beide Zeitbegriffe verknüpft sind. Gerade die letztere ist in jeder Gesellschaft (in Senegal) eine andere. Die meisten ethnischen Gruppen kennen Kalender, die das Jahr nach ökologischen und religiösen Ereignissen und Gebräuchen einteilen. Eine Besonderheit des afrikanischen Zeitverständnisses ist nach Ndaw, dass Ewigkeit nicht als eine ins Unendliche verlängerte abstrakte Zeit aufgefasst wird, sondern spezifisch als Negation des sozialen Zeitbegriffs. Ewigkeit ist ebenfalls qualitativ bestimmte Zeit mit mythischen und kosmologischen Inhalten, die anders sind als die menschlich-sozialen.

Diese Beschreibungen des afrikanischen Zeitverständnisses in Abhebung vom europäischen besagen freilich philosophisch noch nichts. Die Zeit als »sukzessive Synthesis«, um mit Kant zu reden, als abstrakte Zeit der gleichbleibenden Folge gleicher Zeiteinheiten, ist nur scheinbar rein formal. In Wahrheit ist sie das Korrelat der Absolutheit der Technik, des Alles-Machen-Könnens. Die abstrakte Zeit ist die Zeit beliebiger Machbarkeit. Wie die Zeit an nichts gebunden ist, besteht auch für das Machen-Können kein qualitatives und kein quantitatives Maß. Die Folgen dieser Maßlosigkeit sind unabsehbar. Hier greift Heideggers Denken ein.[208] Es ruft unmittelbar eine Reihe von Fragen hervor. Gibt es die Möglichkeit einer Wendung zu einem »anderen« Denken? Oder sind vorbereitende Schritte alles, was uns bleibt? Bedeutet das nicht ohnmächtiges Warten? »Nur ein Gott kann uns retten«?

Aber auch im Blick auf den afrikanischen Zeitbegriff kommen viele Fragen auf. Was lässt sich vom traditionellen Zeitverständnis herüberretten ins sich modernisierende Afrika? Was bedeutet die Bindung des Zeitverständnisses an kosmische, psychische und soziale Ereignisse? Wird darin eine Gegeninstanz sichtbar gegen die Absolutheit der Technik? Religiosität, Gemeinschaftssinn, Einbindung des Handelns in das Schicksal sind nur vordergründige Gegebenheiten angesichts dieser Fragen. Zeit muss hervorgebracht werden, gezeitigt. Denn es ist nicht immer und überall Zeit des Machens. Sein und Zeit gehören zusammen. Das Sein ist nicht zeitlos dasselbe, und die Zeit ist nicht ohne bestimmte sich wandelnde Inhalte. Dieser Zusammenhang wirft Probleme auf, die Afrikaner und Europäer jeder für sich nicht lösen können, so dass ein interkultureller Dialog darüber zumindest eine zusätzliche Chance darstellt.

Aus dieser Sicht des Zeitproblems ergeben sich für den Entwicklungsgedanken einige prinzipielle Erwägungen. Zweifellos hat Hegel unrecht, wenn er sagt, dass Afrika keine eigene Geschichte gehabt hat und haben kann. Nach Hegel ist das bereits durch die geographischen Gegebenheiten des afrikanischen Kontinents bedingt. Er ging davon aus, ganz Afrika (südlich der Sahara) sei ein Hochland ohne in sich differenzierte Landschaft und könne schon deshalb kein Schauplatz für Geschichte sein oder werden.[209] Aber auch abgesehen von dieser irrigen Auffassung passt Afrika keineswegs (ebenso wenig wie Amerika) in das Geschichtsbild Hegels. Weltgeschichte ist für ihn Vorgeschichte des modernen europäischen Verfassungsstaates, die sich im Orient, im Mittelmeerraum und in Europa nördlich der Alpen abgespielt hat.

Für Marx ist im Unterschied zu Hegel nicht die politische Geschichte ausschlaggebend, sondern die ökonomische Entwicklung. Die Ökonomie ist eine allgemeinere Erscheinung als der Staat. Das führt bei Marx indessen nicht dazu, dass er den Schauplatz der Weltgeschichte weiter fasst als Hegel. Geographisch gesehen übernimmt Marx die Gegenden des Ganges des Weltgeistes von Osten nach Westen. Er gelangt auf der Grundlage des historischen Materialismus nicht zu einer Einbeziehung Afrikas in seine Geschichtsauffassung.

Nun kann man zwar sagen, dass es bestimmte methodologische Probleme gibt, um die Geschichte Afrikas (südlich der Sahara) vor der Kolonisierung zu erforschen. Denn wir haben, von der Ausnahme Äthiopiens abgesehen, keine schriftlichen Quellen. Das kann auch als Vorteil gesehen werden, weil im Blick auf diese Zeitperioden eine »Archäologie« notwendig ist, die Foucault ohnehin für adäquater hält als die Geschichtsbetrachtung Hegels oder Marx', die große universale Zusammenhänge herstellen, in die vieles nicht aufgenommen werden kann, weil es von den großen Prinzipien nicht erfasst wird. Aus vielerlei indirekten Quellen und aus den lexikalischen und grammatischen Strukturen der Sprachen lassen sich Ereignisse und Serien von Ereignissen ablesen, die umfangreiches Material für die Geschichte Afrikas und der Völker Afrikas darstellen.

Die Expansion der Bantu in Ost- und Zentralafrika bis an beide Küsten, die eine vorher anwesende Bevölkerung nicht unterdrückt, sondern sich mit ihr vermischt haben, ist ebenso interessant wie die Eroberungszüge der Zulu, die von Süden her weit nach Zentralafrika vorgestoßen sind. Eine besondere Rolle spielen die nilotischen Stämme, die nomadisch oder halbnomadisch bleiben wie die Masai, Turkana u.a. Für Westafrika sind Wanderungsbewegungen der Fulbe, Haussa und anderer Stammesgruppen nachweisbar sowie die Entstehung und Tradition der Königreiche, von denen das bekannteste wohl das der Ashanti ist. Vor den Europäern drangen die Araber ein, dann die Portugiesen, Spanier, Holländer, Briten, Franzosen, Deutsche und Italiener. Der Kampf um die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft und die Zeit danach führen zu einer Verflechtung der Geschichte der afrikanischen Völker mit der Geschichte Europas, der USA und aller übrigen Teile der Welt.[210]

Dem inhaltlich und qualitativ bestimmten Zeitverständnis der Afrikaner entspricht ein Geschichtsbild, das nicht von einem universalen Prinzip ausgeht, sondern von einer in sich vielfältigen Struktur. »Entwicklung« als ein alles andere dominierendes Motiv gibt es in Afrika erst, seitdem seine Völker die weltpolitische Bühne betreten haben, die in der Tat von diesem Motiv beherrscht wird. Nach Hegel hat sich in der Weltgeschichte bis hin zur Französischen Revolution der moderne Verfassungsstaat entwickelt, während nach Marx die kapitalistische Ökonomie das Resultat der gesamten bisherigen Entwicklung ist. Für die Gegenwart lässt sich leicht nachweisen, dass diese Ökonomie und im Zusammenhang damit bestimmte verfassungsmäßige staatliche Verhältnisse sich über die gesamte Erde ausbreiten. Die einzige Gegenkraft scheint der Islam zu sein mit ihrem Kern im Iran und Irak.

Entwicklung, die von Hegel als Prozess ständiger Verbesserung gedacht wird: »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, enthüllt sich in der kapitalistischen Ökonomie als rastloses Streben nach Vermehrung: »Selbstverwertung des Werts«. Eine der Bedingungen, um die ständige Vermehrung des Mehrwerts zu ermöglichen, ist die räumliche Expansion des Kapitalismus. Aber auch der »innere Markt« wird unablässig intensiviert. Deshalb sind für diese Expansion auf einer bestimmten Stufe unabhängige afrikanische Ökonomien förderlicher als Kolonien. Der Verfassungsstaat bietet nach wie vor das günstigste politische Klima. Die freie Entfaltungsmöglichkeit der individuellen und aller anderen ökonomischen Kräfte dient dem ständigen Wachstum. Psychologisch scheint die Entwicklung des Kapitalismus nach außen und innen unwiderstehlich zu sein durch die Vermehrung der Konsumgüter und die Zunahme der Bequemlichkeiten des Lebens.

Dies kann die Schattenseiten lange Zeit und äußerst wirksam verhüllen. Es handelt sich um eine rein quantitative Vermehrung, der sich alle qualitativen Maßstäbe unterordnen. Marx wird darin recht behalten, dass dies nicht ins Unendliche fortgesetzt werden kann. Die Frage ist, was danach kommen soll. Die Aufzehrung der nicht erneuerbaren Energiequellen, die Verschmutzung der Luft und des Wassers, die Aufheizung der Atmosphäre, die zum Schmelzen der Polkappen und zum Steigen des Meeresspiegels führt, das Ozonloch, die Verminderung der biologischen Arten-Vielfalt, die das Sicherhalten des Gleichgewichts in der Natur immer schwieriger macht, bilden zusammen einen Preis, der heute schon viel zu hoch ist für den Gewinn an Konsumgütern und Bequemlichkeiten.

Aber die Afrikaner sind nicht bereit, hierüber nachzudenken oder zu diskutieren. Der weiße Mann mit seinem technologischen und zivilisatorischen Fortschritt, den die Wachstumsökonomie möglich (bezahlbar) macht, ist zu mächtig, in seiner Macht zu faszinierend. Auf diese Weise wird »Entwicklung« zum höchsten Wert. Erst wenn der gleiche Lebensstandard auf der Grundlage gleicher ökonomischer Produktivität erreicht ist, kommen in der Perspektive der Afrikaner die anderen Fragen: Selbstbeschränkung, Begrenzung des Wachstums, Entscheidung für sich selbst regenerierende Energieformen; in letzter Instanz: ein »anderes« Denken, das ein anderes Zeitverständnis voraussetzt.

Es hat freilich Gegenkräfte gegeben, aber sie sind inzwischen gebrochen: die Masai, die ihr nomadisches Dasein nicht aufgeben wollen; die Ashanti-Könige, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken; die »cultural revivalists«, die zur alten Stammeskultur zurückkehren wollen. Der Streit spielt inzwischen mehr zwischen den Gruppen, die mehr oder weniger an der Entwicklung partizipieren und von ihr profitieren. Die Unterschiede zwischen reich und arm, Stadt und Land, gut und schlecht Ausgebildeten sind gewaltig. Trotzdem scheinen immer mehr afrikanische Staaten langsam Schritt zu fassen in dem Marsch zu immer mehr Entwicklung.

Dabei gilt es anzuerkennen, dass viele afrikanische Menschen nicht Entwicklung an sich wollen, Entwicklung, die hundertprozentig dem westlichen Vorbild folgt, sondern Entwicklung »eigener Art«, unter Beibehaltung traditioneller afrikanischer Werte. Aber wird das möglich sein? Zählen nicht nur diejenigen Modifikationen und Adaptionen des Kapitalismus, die ihn noch effektiver, noch produktiver machen, wie z.B. die japanische? Wo Entwicklungswille und Traditionalismus aufeinander geprallt sind, hat der erstere gesiegt. Wo die Entwicklung »eigener Art« diese weniger effektiv und im Sinne der Einholung westlicher Standards weniger erfolgreich macht, wird sie keine allzu große Chance haben. Dennoch hat sie meine Sympathie. In ihr sind andere Kräfte wirksam, die der Modernisierung und Europäisierung als umfassender Uninfizierung Vielheit und Verschiedenheit entgegenhalten.

Der Begriff der »Entwicklung«, wie er bisher gebraucht wird, ist dem europäischen Zeit- und Geschichtsverständnis zugehörig. Er ist unter afrikanischen Bedingungen entsprechend zu modifizieren. Wie das Zeit- und Geschichtsverständnis ist Entwicklung nicht unveränderlich und ewig. Entwicklung, die in letzter Instanz durch Erhöhung des Wirtschaftswachstums bestimmt wird, hat ihren Anfang im aufkommenden Kapitalismus des 17. Jahrhunderts (mit seiner Vorgeschichte). Maximales Wachstum kann unter bestimmten Voraussetzungen »organisches Wachstum« bedeuten, d.h. ein optimales Wachstum, das mit Schrumpfungs-Vorhängen in bestimmten Wirtschaftszweigen zusammengeht.

Das kapitalistische System, das möglichst großes (maximales oder optimales) Wachstum erstrebt, hat sich in seiner Geschichte als äußerst lernfähig, wandlungsfähig und krisenbeständig erwiesen. Das rein quantitative Wachstumsverständnis nimmt im Begriff des »organischen« Wachstums qualitative Elemente in sich auf. Diese dienen in letzter Instanz weiterer quantitativer Steigerung. Das kapitalistische System wird andere Mechanismen zu weiterer Ermöglichung möglichst großen Wachstums erfinden. Aber es wird nicht ewig sein.

Das Wachstum, das extensiv die gesamte Erde zu erfassen sucht und intensiv die verschiedenen Binnenmärkte immer weiter stimuliert, kann nicht ins Unendliche weitergehen. Es gibt »Grenzen des Wachstums«, auch wenn diese nicht durch einzelne bestimmte Faktoren eindeutig anzugeben sind, wie z.B. Erschöpfung nicht erneuerbarer Energievorräte, Verschmutzung der Luft und des Wassers, Verringerung der Artenvielfalt oder dergleichen. Diese Faktoren verweisen in ihrer Verflechtung auf ein anderes Denken als das Entwicklungsdenken. Sie sind nicht an möglichst großem Wachstum, sondern am Erhalt eines dynamischen Gleichgewichts orientiert.

Die sog. Entwicklungsländer erheben gegenwärtig für sich Anspruch darauf, dass sie sich (noch) in einer Phase maximalen Wachstumsstrebens befinden und noch nicht das Instrument des optimalen (organischen) Wachstums benötigen. Die Umweltprobleme in den sog. entwickelten Ländern können zeigen, wo Fehler beim maximalen Wachstumsstreben gemacht worden sind, die die Entwicklungsländer nicht unbedingt wiederholen müssen. Es gibt in Afrika ein entstehendes Umweltbewusstsein, auch wenn dies wie in den entwickelten Ländern nicht sehr folgenreich ist. Warum sollte sich das Entwicklungsdenken in Afrika nicht der Endlichkeit (dieser Art) von Entwicklung bewusst werden und sich auf ein Gleichgewichtsdenken hin orientieren können? Vorerst scheint das nicht der Fall zu sein. Zu viele erwarten von maximalem Wachstum zuallererst eine Erlösung von materiellem Elend und dann mit der westlichen Welt vergleichbare Bedingungen auf zivilisatorischem Gebiet und auf dem Gebiet eines bequemeren Lebens. Es müsste sich ein ein-schneidender Wandel ereignen, bevor Afrika Voraussetzungen seiner traditionellen Kultur ins Spiel bringen kann, die Entwicklung in dynamisches Gleichgewicht überführen helfen.

Denselben Prozess, der ökonomisch zum Kapitalismus und politisch zum Verfassungsstaat geführt hat, beschreibt Max Weber als universalen Prozess der Rationalisierung.[211] Er zeigt, dass auch die Weltanschauung in diesen Prozess einbezogen ist. Die praktische Rationalität der protestantischen Ethik äußert sich im geordneten, systematischen, rational begründbaren Zusammenhang der Werte, die in ihr vertreten werden. Letztlich wird freilich die Weltanschauung der Rationalisierung dienstbar gemacht. Der religiöse Hintergrund dieser Ethik verschwindet. Praktische Rationalität wird schließlich ganz in Zweckrationalität überführt. Dann aber werden wir in deren »stählernem Gehäuse« gefangen sein. Der Nihilismus ist die unausweichliche Konsequenz. Dabei denkt Weber wie Nietzsche und Heidegger den Nihilismus, das letzte Stadium der Entwicklung, nicht als das letzte überhaupt.

Wenn es aber so etwas gibt wie ein Überschreiten der Linie oder besser gesagt: ein Durchschreiten der Zone des Nihilismus, wie Heidegger meint, oder eine Selbstannihilation des Nihilismus, wie sie schon von Nietzsche anvisiert wurde, muss sich dieses Geschehen aus Kräften speisen, die vom universalen Rationalisierungsprozess überdeckt, verdrängt worden sind, ohne dass sie dadurch endgültig tot oder unwirksam geworden sind. Warum sollen die traditionellen Werte der afrikanischen Geschichte(n) nicht zu diesen Kräften gehören? Es könnte fatal sein, mit ihrer Reaktivierung zu warten, bis der Nihilismus sich weltweit in sich vollendet hat.

Poesie IV Aus einer Anthologie westafrikanischer Lyrik [212]

Schwarze Frau
Nackte Frau, schwarze Frau
Bekleidet mit deiner Farbe, die Leben ist, mit
deiner Form, die Schönheit ist!
In deinem Schatten wuchs ich auf; die Zärtlichkeit
einer Hände legtest du auf meine Augen.
Und jetzt, hoch oben auf dem von der Sonne gebratenen
Paß, im Herzen des Sommers, im Herzen des
mittags, komme ich über dich, mein
Verheißenes Land,
Und deine Schönheit trifft mich im Herzen wie
der Flügelschlag eines Adlers.
Nackte Frau, dunkle Frau
Reife Frucht mit festem Fleisch, düstere Verzückung
des schwarzen Weines,
Mund, der meinen Mund lyrisch macht.
Die Savanne stmckt sich aus zu klaren Horizonten,
die Savanne schaudert unter den heftigen
Liebkosungen des Ostwinds.
Geschnitzte Tam-tam, steife Tam-tam, murmelnd
unter den Fingern des Eroberers.
Deine feierliche Contra-Stimme ist der geistige Gesang
der Geliebten.
Nackte Frau, dunkle Frau
Öl, das kein Atem kräuselt, ruhiges Öl auf den
athletischen Lenden, auf den Lenden der Prinzessin
von Mali.
Mit gazellengleichen Gliedern aus dem Paradies,
Perlen sind Sterne auf der Nacht deiner Haut,
Freuden des Geistes das Glitzern roten Goldes
vor dem Hintergrund deiner nassen Haut.
Unter dem Schatten deiner Haare wird meine Sorge
leicht durch die nachbarlichen Sonnen deiner Augen.
Nackte Frau, schwarze Frau,
Ich besinge deine Schönheit, die vergeht, die Form,
die ich festmache in der Ewigkeit,
Ehe ein eifersüchtiges Schicksal dich zu Asche werden
läßt, die Wurzeln des Lebens zu nähmn.
L.S. Senghor

PhilosophischeProbleme XIII Zauberwort »Erziehung«

Zwischen »Entwicklung« und »Erziehung« sehen viele afrikanische und nicht-afrikanische Autoren einen direkten Zusammenhang. Je höher die Anzahl gut ausgebildeter Menschen ist, desto höher wird der Grad der Entwicklung sein. Wenn ein Land sich »ökonomisch, technologisch, wissenschaftlich und politisch« entwickeln will, muss es »die Anzahl ausgebildeter Menschen vermehren«. Je höher jemand auf der Leiter der Ausbildung klettert, desto weniger wird er begrenzte Stammesinteressen und an deren Stelle mehr nationale Interessen entwickeln.[213] Erziehung gilt als »der Schlüssel, der die Tür zur Modernisierung öffnet«.[214] Bereits die nationalistischen Bewegungen und der Kampf um die Unabhängigkeit sind u.a. durch die westlichen Schulen ermöglicht worden.[215] Der Zusammenhang zwischen dem Grad der Erziehung (quantitativ und qualitativ gemessen) und der Höhe des nationalen Einkommens sowie dem Grad des politischen Bewusstseins der Bürger ist schließlich statistisch nachgewiesen worden.[216]

Die positive Beurteilung der Rolle der Erziehung in Afrika ist indessen nicht unwidersprochen geblieben. Die »cultural revivalists« unterstreichen, dass die jungen Afrikaner durch Erziehung »entkulturalisiert« werden. Die Bindung an den Stamm und an die »extended family« wird gelockert und kann schließlich ganz verloren gehen. Die Werte, die durch traditionelle Weisen der Erziehung vermittelt werden, gehen damit auch verloren. Die Folge ist eine nihilistische Haltung, Neigung zur Kriminalität und zu purem Gewinnstreben. In Ghana haben Ashanti-Könige sich geweigert, ihre Kinder zur Schule zu schicken.[217] Die traditionellen Werte und die traditionelle Erziehung werden höher eingeschätzt als das moderne westlich orientierte Erziehungssystem.

Wie schon in Philosophische Probleme XII: »>Zeit<, >Geschichte< und >Entwicklung<« gesagt worden ist, können sich die traditionellen Kräfte nicht gegen die Modernisierung behaupten. Dieser Prozess scheint unwiderstehlich und unumkehrbar zu sein. Würde dies einfach den Sieg der westlich orientierten schulischen Erziehung bedeuten, wäre für eine interkulturelle Philosophie hier wenig zu lernen. Es geht um eine Mischform, in der die traditionelle Erziehung modernisiert und die modern westliche Erziehung afrikanisiert wird. Das würde der Situation des heutigen Afrika entsprechen, wie sie von der afrikanischen Philosophie in Gedanken zu erfassen ist. Um diese Mischform in ihren Umrissen beschreiben zu können, muss zunächst der Unterschied der traditionellen und der modern westlichen Erziehung klar gemacht werden.

Die traditionelle Erziehung ist informell, sie geschieht vor allem in der Familie durch das Zusammenleben von älterer und jüngerer Generation. Für spezielle Erziehungsaufgaben kann ein besonderer Lebenszusammenhang in der Familie oder innerhalb des Stammes hergestellt werden. So kann ein junger Mann z.B. in längerer Gemeinschaft mit einem Medizinmann oder Kräuterheilkundigen (»herbalist«) oder eine junge Frau mit einer Priesterin leben, um von ihnen zu lernen. Auch die weisen Männer (»sages«) haben ihn Schüler, denen sie ihren Weisheitsvorrat weitergeben. Auch dies geschieht durch die gemeinsame Praxis des Ratgebens und des Erzählens. Durch bestimmte Rituale, insbesondere die Initiationsriten, werden die Jugendlichen in die Gemeinschaft der Erwachsenen eingeführt.

Demgegenüber ist die modern westliche Erziehung formell und geschieht in der Schule, wo den Kindern und Jugendlichen ein deutlich umschriebener Wissensstoff durch Vortrag und Übung vermittelt wird. Die Schüler befinden sich während der Stunden des Unterrichts oder im Fall einer Internatsschule für längere Zeit außerhalb der Familie. Sie werden neben dem Unterricht im Klassenraum durch das Zusammenleben mit Gleichaltrigen (»peer group«) stark beeinflusst. Die Leistungen werden ständig beurteilt, und wer gute Leistungen zeigt, hat die Chance, zu einem höheren Schultyp oder zur Universität zugelassen zu werden.

Während die traditionelle Erziehung darauf zielt, dass die Kinder schließlich in demselben Lebenszusammenhang wie die Eltern deren Funktionen übernehmen, fördert die modern westliche Erziehung die geographische und die soziale Mobilität. Insbesondere die Migration vom Land in die Stadt wird durch die letztere Art der Erziehung verstärkt. Aber auch die Bewegung zu anderen weiter entfernten Städten, in andere Länder oder nach Europa und USA wird auf diese Weise (mit) in Gang gesetzt und möglich gemacht. Je größer der geographische Abstand ist, desto geringer wird auf die Dauer die Bindung an Familie und Stamm sein. Agyeman weist mit Recht darauf hin, dass der soziale Aufstieg keine automatische Folge des höheren Ausbildungsniveaus ist. Andere Faktoren spielen hierbei eine Rolle.

Die negativen Folgeerscheinungen der modern westlichen Erziehung: Haltlosigkeit, Kriminalität oder Drogenmissbrauch sind nicht allein und nicht primär durch diese Art der Erziehung bedingt. Arbeitslosigkeit ist eine häufige und wichtige Ursache sowie außerschulische Einflüsse wie das Anschauen bestimmter Fernsehprogramme, Besuch von Vergnügungsveranstaltungen usw. Deshalb darf eine Bekämpfung dieser Erscheinungen auch nicht ausschließlich von der Schule und vom Erziehungssektor erwartet werden. Die Erziehung wird freilich als eines der Medien gesehen, durch das die Wunden, die sie im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Institutionen schlägt, auch wieder geheilt werden können. Das kann geschehen, indem nicht nur intellektueller Wissensstoff vermittelt wird, sondern auch »Tugenden« gelehrt und gelernt werden. Das heißt wirklich, der   Erziehung beinahe die Kraft des Zaubers zuzusprechen. Insgesamt ist eher Agyeman zuzustimmen, dass ein Bedürfnis besteht »an einem integrierten Entwicklungsplan für Erziehung, Ökonomie und Politik«, dessen Grundlinien er anzugeben versucht.[218] Denn die beste Ausbildung hilft nichts, wenn nicht Arbeitsplätze und Wirkungsmöglichkeiten für die Ausgebildeten bestehen oder geschaffen werden.

Die Europäisierung der afrikanischen Erziehung hat zweifellos Fortschritte gemacht. Man kann sie ablesen an der abnehmenden Anzahl der Analphabeten oder an der Zunahme der Aufwendungen, die die Regierungen bereit sind, für den Erziehungssektor zu machen. Die letztere Entwicklung ist eher in genauen Zahlen anzugeben, wobei freilich die gesamtwirtschaftliche Lage und die Anfangsbedingungen in den betreffenden Ländern zu berücksichtigen sind. In Ostafrika entwickelt sich der prozentuale Anteil der Ausgaben für Erziehung am Gesamthaushalt der Länder Kenia bzw. Tansania von 1969 mit 11,2 bzw. 13,4 Prozent bis 1975 mit 19,7 bzw. 13,6 Prozent. In Westafrika gilt für Ghana bzw. Togo (keine Angaben für Benin), dass sich dieses Verhältnis wie folgt darstellt: von 1969 mit 19,2 bzw. 15,5 bis 1975 mit 12,7 bzw. 16,7 Prozent.[219]

Die sinkende Tendenz in Ghana erklärt sich u.a. aus traditionell sehr guten Gehältern für Lehrende und Stipendien für Studierende bis in die sechziger Jahre, die danach drastisch gekürzt wurden. Die Stipendien wurden in Darlehen umgewandelt. Außerdem waren die Jahre von 1975 bis 1978 unter der Militär-Regierung Acheampongs eine Phase mit »sinkender landwirtschaftlicher und industrieller Produktivität, einer galoppierenden Inflation, eines Mangels an wesentlichen Investitionen und an Ersatzteilen, eines Zusammenbruches der gesamten Infrastruktur, eines unglaublichen Anstiegs der Lebenshaltungskosten und eines allgemeinen moralischen Verfalls«.[220] Nach der Überwindung einer weiteren schweren Krise am Anfang der achtziger Jahre sind seit 1983 unter der zweiten Militärregierung Rawlings mit einer allmählichen ökonomischen Rekonstruktion Verbesserungen im Ausbildungssektor verbunden.

Die Gegenbewegung einer Afrikanisierung europäischer Erziehung befindet sich demgegenüber nach Agyeman auf einer »embryonalen Stufe«.[221] Ihre Ergebnisse werden sich in den Lehrinhalten manifestieren können. Afrikanische Geschichte, Geographie, Philosophie sollten mehr im Vordergrund stehen gegenüber der europäischen. Der Unterrichtsstil könnte stärker Elemente gemeinsamer Praxis in sich aufnehmen und weniger bloße Wissensvermittlung sein. Die Bindung an die Gemeinschaft wird neue Formen annehmen müssen, weil die Sozialstrukturen der Großfamilie und des Stammes, wo sie zerbrochen sind, nicht aufs neue installiert werden können. Freilich scheint es ratsam, dass diese Strukturen, soweit sie noch bestehen, ihre Funktionen behalten. In diesem Zusammenhang möchte ich bestimmte Bemühungen Nyerems erwähnen, auch wenn sie nicht nur für Afrika wichtig sind. Er schlägt vor, dass für Lehrende und Lernende die Beteiligung an den Gemeinschaftsaufgaben der Schulen, der Kommunen und des Staates bei der Bewertung ihrer Leistungen eine Rolle spielen soll.[222] Insgesamt gilt, dass zwischen der »konservativen Funktion der Erziehung«, die den Fortbestand der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse zu sichern hat, und der »kreativen Funktion«, die sozialen Wandel herbeiführen und zu ihm befähigen soll, ein Gleichgewicht zu suchen ist.[223] Von der Philosophie aus gesehen, ist es mein Eindruck, dass die Abhängigkeit vom westlichen Modell zu stark ist.

 

Tagebuchaufzeichnung VI »Ein Wind von Norden«[224]

Tamale, 29.12.1989

Mitte Dezember kann man in Ghana einen Wind erwarten, der von Norden kommt und viel Staub und Sand der Sahara mit sich bringt. Dieser Wind heißt »Harmattan«. Er ist trocken und bringt in der Nacht Abkühlung. Der »Harmattan« bleibt bis etwa Februar. Wer keine Vorsorge trifft, kann raue Lippen oder rissige Haut an den Fingernägeln bekommen; auch Erkältungen sowie Augenentzündungen und Schleimhautallergien sind nicht selten.

Wie der »Harmattan« sind in Schüben Menschen aus dem Norden in die südlicheren Gebiete Ghanas gekommen: Menschen aus Mali, Obervolta, das heute Burkina Faso heißt, oder aus den nördlichen Regionen Ghanas selbst. Im Süden hofften und hoffen sie, ein besseres Klima, bessere Böden, mehr Arbeit (in den Goldminen oder in der aufkommenden Industrie) zu finden.

Ein zehnjähriger Junge, Jonas Kalari, für den ich monatlich DM 50, an »World Vision International« bezahle, lebt im Norden Ghanas, in Wulugu, einem Dorf, das etwa 120 km nördlich von Tamale liegt. Das Geld reicht aus, um nicht nur das Lebens-notwendige für den Jungen zu finanzieren, sondern auch für einen Beitrag an einige Entwicklungshilfeprojekte des Dorfes, die von »World Vision« koordiniert und unterstützt werden. Gestern habe ich den Jungen und das Dorf besucht. Am Morgen flog ich von Accra nach Tamale, wo ich von einem Mitarbeiter von »World Vision« und dessen Freund erwartet wurde, die mich im Auto nach Wulugu brachten. Die Fahrt war mühsam, die Straße schlecht und staubig. Alle Felder am Rande der Straße waren schon abgeerntet, bevor der »Harmattan« begann. Nun werden sie weiter ausdörren, bis sie im Mai oder Juni, wenn der Regen kommt, aufs neue bestellt werden können. Dennoch gab es Kuhherden, die das trockene Gras abweideten, sowie Ziegen und Esel.

Wulugu hat beinahe 4000 Einwohner, die zum Stamm der Mamprusi gehören (ihre Sprache heißt Mampruli). Im Haus oder besser gesagt im Hof des Anwesens (»Compound«) des Projektmanagers wurden wir von dessen Frau mit einem Glas kühlen Wassers empfangen, von dem ich mich indessen nicht zu trinken traute, weil es etwas trüb aussah. Der Projektmanager der Entwicklungshilfeprojekte ist im Hauptberuf Pastor der »Assemblies of God Church«, der größten nicht traditionellen religiösen Gemeinschaft in Wulugu. (Außerdem gibt es eine katholische Kirche, eine kleine, ganz aus Lehm gebaute Moschee und ein traditionelles Heiligtum, einen von Grasmatten umgebenen Fetisch, den die meisten Menschen aus Wulugu verehren.)

Zum Empfangskomitee gehörten u.a. folgende Männer: der Vater von Jonas, der in der Tagesklinik als »Health worker« arbeitet, ein älterer Student, der Lehrer werden will, und ein Lehrer der örtlichen Oberschule. Nachdem einige Höflichkeiten aus-getauscht waren, gingen wir gemeinsam zu dem »Compound«, in dem der Vater von Jonas mit seiner Familie wohnt: 2 Frauen und 5 Kinder, von denen Jonas der älteste ist. Vor dem Anwesen lag an einem offenen überdachten Platz auf einer Holzbank der Großvater der gesamten Großfamilie. Er stand auf, begrüßte mich und war hocherfreut, als er erfuhr, dass ich auch sieben Enkelkinder habe. Sein Sohn trat während der kurzen Unterhaltung als Übersetzer auf: vom Englischen ins Mampruli und umgekehrt.

Die drei Hütten, je eine für seine beiden Frauen und eine für seine Kinder, die Jonas' Vater gebaut hat, bilden eine Art Erweiterung des Anwesens des Großvaters. Hier begrüßte uns die zweite Frau von Jonas' Vater. Jonas' Mutter, die erste Frau, war nach längerem Warten weggegangen, da sie etwas zu erledigen hatte. (Unser Besuch kam wegen Verspätung des Fluges etwa drei Stunden später als erwartet.) Der Hof war in kürzester Zeit überfüllt von Menschen, vor allem Kinder, die dabei zusahen, wie ich Jonas einige Geschenke überreichte, die er mit glücklichem Gesicht auspackte. Für seine zehn Jahre ist er recht klein und schmächtig. Anfänglich hatte er einen etwas melancholischen Gesichtsausdruck, der auch nicht ganz verschwand, als er sich offensichtlich sehr freute.

Die Hauptattraktion waren einige Polaroid-Photos, die von Jonas und mir, dem Vater und Jonas und mir und dem Großvater mit Sohn und Enkel, sowie von der freudig erregten Menge gemacht wurden und nach kurzem Warten sofort zu besichtigen waren. Ein junger Mann, der bei den Entwicklungshilfeprojekten mitarbeitet, dachte mir einen Gefallen zu tun, indem er die Kinder, die sich zu dicht herandrängten, mit einem alten Fahrradreifen auf die nackten Füße schlug, so dass sie zurückwichen. Meine Kritik an dieser Art von Beschüttwerden stieß auf sein völliges Unverständnis. Immerhin schien er seine Schläge zu mäßigen.

Nachdem Jonas sein neues Spielzeugauto ausprobiert und sein neues Hemd angezogen hatte, versuchte ich mit ihm Domino zu spielen. Es fiel ihm aber sichtlich schwer, passende Steine mit der gleichen Anzahl Punkte aneinander zu legen, was vielleicht mit seiner Aufregung zu tun hatte.

Der folgende Programmpunkt war die Besichtigung der Oberschule, der im Bau befindlichen Grundschule, des Kindergartens, der zur Zeit auch noch als Grundschule dient, des ebenfalls im Bau befindlichen Sammelbeckens für Regenwasser, das den 10 Meter tiefen Dorfbrunnen entlasten soll, und der Tagesklinik. All dies wurde oder wird mit Unterstützung von »World Vision« und mit viel freiwilligem und unentgeltlichem Arbeits-Einsatz der Dorfbewohner gebaut.

Den Abschluss bildete ein Besuch beim chief. Er lag ebenfalls an einem überdachten offenen Platz vor seinem Anwesen. Er ist ein alter Mann, der seine Würde lebenslänglich behält. Ein jüngerer, sehr kräftiger Mann, der »assistant chief«, eilte heran und nahm neben dem alten Mann Platz, der sich inzwischen aufgesetzt hatte. Beide empfingen mich sehr freundlich. Der offizielle »Linguist« (Übersetzer und Zwischenperson) war so schnell nicht aufzutreiben, deshalb übersetzte einer der Mitarbeiter an den Projekten. Die Unterhaltung war recht förmlich, wenn auch nicht ohne Humor. Alle positiven Worte meinerseits über Afrika, Ghana, Wulugu und seine Einwohner lösten große Begeisterung aus. Als ich das übliche symbolische Geschenk, eine Flasche in Holland hergestellten »Schnapps«, abgegeben hatte, das der »Linguist« dem »assistant chief« weitergab, bot mir der »chief« als Gegengabe einen jungen Hahn an, den ich unter großem Jubel der Umstehenden dankbar in Empfang nahm.

Bevor wir wieder ins Auto einstiegen, um nach Tamale zurückzufahren, brachte mir Jonas ein Gegengeschenk: einen Strohhut und zwei aus Stroh geflochtene Fächer. Diese Szene wurde wiederum ausgiebig photographiert. Leider gibt es kein Bild von der Unterhaltung mit dem »Chief«, in deren letzter Phase ich den Hahn in der Hand halten musste. Das Ganze hat mir einen bleibenden Eindruck vermittelt von den Verhältnissen in einem afrikanischen Dorf und von sinnvoller Entwicklungshilfe, an der die Menschen vor Ort aktiv mitarbeiten und die ihre Lebensqualität verbessert.

 

Philosophische Probleme XIV Neokolonialismus und die Sonderstellung von Kunst und Philosophie

Die Unterschiede zwischen sog. »Entwicklungsländern« (El) und sog. »entwickelten Ländern« (eL) lassen sich auf vielen Gebieten festmachen: Ökonomisch, technologisch, zivilisatorisch, wissenschaftlich, politisch. Auf all diesen Gebieten besteht ein Gefälle von den eL zu den EL Die eL haben einen Entwicklungsvorsprung, den die El mit der Hilfe der eL einzuholen oder jedenfalls zu verringern suchen. Der Entwicklungsvorsprung bedingt eine Überlegenheit. Die technologische Überlegenheit ist auch eine der Waffentechnologie, das bedeutet: eine militärische. Solange die Waffen schweigen und das Einholmanöver friedlich abläuft, steht die militärische Überlegenheit nicht zur Diskussion.

Lange Zeit schien es so, als würde der »Wettstreit der Systeme« zwischen eL in West und Ost auch im Süden, d.h. in den El, ausgetragen. Das hat sich in vielen Ländern bereits vor Jahren geändert. El, die sich zunächst für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus entschieden hatten, wie Tansania, Ghana oder Senegal, haben sich auch westlichen Einflüssen geöffnet, um ihre ökonomische Situation zu verbessern. Seitdem der Gegensatz der Systeme in den eL relativiert worden ist und die östlichen Länder ebenfalls in gewissen Grenzen Marktökonomie und parlamentarische Demokratie (mit Parteienpluralismus) anstreben, wird diese Tendenz auch in den El mit sozialistisch bestimmten politischen Systemen verstärkt. Das beste Beispiel hierfür ist Benin, wo seit November 1989 demonstriert und gestreikt wurde, um diese Ziele zu erreichen.

Selbstverständlich hat dieses Streben in den El auch seine eigenen Voraussetzungen und Ursachen. Aber es besteht eine gewisse Parallelität (vgl. Tagebuchaufzeichnung VII: »Benin Land der Widersprüche«). Im Dezember 1989 ist in Benin bereits von der Regierung zugestanden worden, dass die marxistisch-leninistische Regierungspartei kein verfassungsmäßig festgelegtes Machtmonopol mehr besitzt und auch andere politische Parteien und Gruppierungen sich am politischen Leben beteiligen können. Das Ziel der Demonstranten und Streikenden ist aber unmissverständlich die Ablösung der heutigen sozialistischen Regierung, die sich zum Marxismus-Leninismus bekennt, zum frühest möglichen Zeitpunkt. Wie in Osteuropa bedeutet das auch für Benin nicht einen Ausverkauf der sozialistischen Tradition.[225]

Die Relativierung des Ost-West-Gegensatzes bedingt indessen, dass das Nord-Süd-Gefälle (eL-El) noch deutlicher hervortritt. Sie hat freilich auch zur Folge, dass die Möglichkeiten der El zu einer Erhöhung des Wirtschaftswachstums mit den zugehörigen technologischen und politischen Veränderungen vorerst im bescheidenen Rahmen verbessert werden (s. Philosophische Probleme XII: Zeit, Geschichte und Entwicklung). Die Fortschreibung des Abhängigkeitsverhältnisses, die darin zum Ausdruck kommt, kann man als Festigung des Neokolonialismus bezeichnen. Es ist schwer, gegen diese Tendenz andere Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen.

Meine These ist, dass im Unterschied zu dem Verhältnis von Überlegenheit und Abhängigkeit in der ökonomischen, technologischen, zivilisatorischen, wissenschaftlichen und politischen Entwicklung zwischen eL und El den Kernbereichen der Kultur: »Kunst« und »Philosophie« eine Sonderstellung zukommt.[226] In diesen Bereichen stehen eL und El auf völlig gleichem Niveau; sie begegnen sich auf der Grundlage völliger Gleichheit. Die Imperative des Entwicklungsdenkens gelten hier nicht. Von hier aus kann eine Gegeninstanz zum Neokolonialismus aufgebaut werden. Wie soll man sich dies vorstellen?

Zunächst einmal muss diese These gegen das dialektische Denken Hegels und Marx' ihre Berechtigung erweisen. Für Hegel sind Kunst und Philosophie dem Entwicklungsprozess der Weltgeschichte eingeordnet. Während die Kunst in der antiken griechischen Polis ihre Vollendung als Mittelpunkt der Kultur bereits erreicht hat, gelangt die Philosophie erst mit Hegels eigenem Denken und als theoretisches Pendant zum modernen Verfassungsstaat zu ihrer Vollendung und ihrem Abschluss. Wie dieser ist Philosophie unendlich in sich verbesserbar und ausgestaltbar. Es ist also zu zeigen, dass in diesem Denken Kunst und Philosophie nicht adäquat oder nicht breit genug erfasst werden.

Nach Marx sind Kunst und Philosophie Instanzen der Überbaus und als solche abhängig von der ökonomischen Basis. Sie können keine eigene Stellung innerhalb des gesamten Verhältnisses von Basis und Überbau einnehmen. Wir werden mit unseren kritischen Überlegungen dazu bei innermarxistischen Diskussionen anschließen können, in denen Instanzen des Überbaus eine zunehmende relative Autonomie zugesprochen wird.

Doch zuallererst zu Hegel. Auf die relativ frühe Vollendung der Kunst in ihrer klassischen Form in der antiken griechischen Polis folgt bei Hegel die romantische Periode. Die Einheit der Kultur, in der die Kunst im Mittelpunkt steht, ist zerbrochen, nun bleibt der Kunst nur noch die Sehnsucht nach dieser verlorenen Einheit. Was der antiken griechischen Kunst vorhergeht, ist eine Entwicklung, die von ersten unentfalteten Anfängen schrittweise zu dieser Vollendung hinführt.[227] Dem steht gegenüber, dass Bataille in seiner Deutung der Malerei, die in der Höhle von Lascaux gefunden worden ist und die rund 20.000 Jahre alt ist, zu zeigen sucht, dass dies ein Anfang ist, der durch nichts in der späteren Geschichte eingeholt oder gar überholt worden ist. Es gibt andere prähistorische Kunstwerke, etwa die Felszeichnungen in Namibia, die sich ebenso sehr als in sich vollendet präsentieren. Sie zeigen, dass man im Blick auf Kunst nicht von Entwicklung sprechen kann.[228]

 Bei der Philosophie liegt die Sache komplizierter. Hegel zeigt einen Entwicklungsgang auf von den Vorsokratikern über Plato und Aristoteles, das christliche Mittelalter, Descartes, Leibniz, Spinoza und andere neuzeitliche Philosophen zu Kant, Fichte, Schelling und seiner eigenen Philosophie. Das Frühere bleibt im Späteren enthalten. Neue Einsichten, etwa das Prinzip der Subjektivität bei Descartes oder das der alles umfassenden Substanz bei Spinoza, werden den bereits bestehenden hinzugefügt.[229] Diese philosophische Entwicklung erweist sich als die theoretische Vorgabe, das gedankliche Pendant zur Entwicklung der Weltgeschichte, die Hegel als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« interpretiert (s. Philosophische Probleme XII: »Zeit«, »Geschichte« und »Entwicklung«).

Gegenüber dieser Deutung ließe sich ebenfalls auf frühe in sich vollendete philosophische Äußerungen verweisen, etwa auf Lao tses »Tao te king« oder die ältesten indischen »Upanischaden«. Auch der berühmte Ausspruch Russells, die gesamte Philosophiegeschichte sei nichts anderes als eine Reihe von Fußnoten zu Plato, weist in die Richtung einer in ihren Anfängen bereits vollendeten Philosophie, der später nichts Besseres, vielleicht nicht einmal Gleichwertiges hinzugefügt worden ist. Außerdem hat der junge Hegel selbst eine entgegengesetzte Auffassung zu seinen späteren Vorlesungen. Er geht davon aus, dass die Philosophie keine Geschichte hat. Er will nicht etwas Neues bringen, sondern das »älteste Alte« wiederherstellen. Die Philosophie ist stets dieselbe, d.h. sie hat stets dieselbe Aufgabe, sie entspringt derselben »Quelle des Bedürfnisses«, die Zeitverhältnisse in Gedanken zu erfassen. Nur die gedanklichen Mittel und das »Bauzeug« wechseln, die sie zu ihrer Darstellung in den jeweiligen Zeitperioden benötigt.[230]

Für Marx ist eine Sonderstellung von »Kunst« und »Philosophie«, die eine eigene kritische Instanz gegenüber der Ökonomie darstellt, ausgeschlossen, weil sie als Erscheinungen des Über-Baus, als eigentlich ideologische Formen« gewissermaßen Epi-Phänomene sind, die im Überbau (nach)vollziehen, was sich zunächst und primär in der ökonomischen Basis und dann in den mehr konkreten Formen des Überbaus: Staat und Recht ereignet hat.[231] Diese Position Marx' darf man freilich nicht als monokausale Bestimmung des Überbaus durch die Basis verstehen. Das wäre ganz und gar undialektisch. Es geht vielmehr, wie spätere Briefe von Engels zur Darstellung des Basis-Überbau-Verhältnisses durch Marx erweisen, um eine Bestimmung »in letzter Instanz«, der vielfältige Wechselbeziehungen vorhergehen.

Dieses Problem ist vor allem von Mao tse tung und von L. Althusser weiter durchdacht worden. Für Mao kann es einen zeitweise Vorrang der Überbaus gegenüber der Basis geben, wie seine Schrift Über den Widerspruch und die von ihm geleitete Praxis der Kulturrevolution zeigen.[232] Althusser analysiert das Basis-Überbau-Verhältnis als eine »komplexe Struktur mit Dominante«, in der niemals eine monokausale Bestimmung vorkommen kann. In diesem Sinne sagt er: »die Stunde der Ökonomie schlägt nie«.[233] Wir wollen diese Diskussion hier nicht weiterführen. Wir sind nicht so sehr daran interessiert, was stets so ist oder niemals sein kann. Aber wir sehen in der gegenwärtigen Situation eine Chance für eine Sonderstellung von Kunst und Philosophie als den Kerngebieten der Kultur, die eine Gegeninstanz zum Neokolonialismus in Afrika bilden können.

Dies mag genügen, um annehmbar zu machen, dass Kunst und Philosophie nicht der Entwicklung unterliegen, die auf den Gebieten der Ökonomie, Technologie, Zivilisation, Wissenschaft und Politik so offensichtlich ist. Allenfalls im Blick auf die technischen Mittel, die der Künstler und der Philosoph verwenden, kann man von Entwicklung sprechen. Aber Computer-Graphik ist nicht vollendeter oder besser als Ölgemälde oder Kupferstiche, ebenso wenig wie elektronische Datenverarbeitung oder der Diskussionszusammenhang mit avancierten Wissenschaften die Qualität des philosophischen Gedankens auf ein höheres Niveau bringen kann. Das alles bezieht sich nur auf die Mittel und das »Bauzeug«, dessen sich Künstler und Philosophen jeweils bedienen. Deshalb können Kunst und Philosophie eine Gegeninstanz zum Entwicklungsdenken bilden, die auf die Relativität und Endlichkeit der Entwicklung verweist.

Wenn es aber auf diesen Gebieten keine Entwicklung gibt, kann es auch kein Entwicklungsgefälle zwischen eL und El geben. Die Eigenbedeutung und der Eigenwert der afrikanischen Kunst ist schon seit einiger Zeit, jedenfalls seit dem großen Werk von F. Boas über dieses Thema,[234] allgemein anerkannt. Wichtige europäische Maler wie Picasso und Braque sind von afrikanischen Masken angeregt und beeinflusst. Beispiele aus der Musikgeschichte (Jazz und Reggae), die einen großen Einfluss afrikanischer Kunst auf die westliche Welt belegen, sind bekannt genug. Umgekehrte Einflüsse konnte ich z.B. im »College of Art« an der Universität Kumasi (Ghana) beobachten, die allein schon dadurch zustandekommen, dass einige Dozenten jahrelang in USA studiert und gearbeitet haben (s. Tagebuchaufzeichnung V). Eine Wechselwirkung auf der Grundlage dauerhafter Zusammenarbeit gibt es meines Wissens bisher nicht.

In der Philosophie stehen wir an einem Anfang, was die Zusammenarbeit zwischen Europa und USA auf der einen Seite und den afrikanischen Ländern südlich der Sahara auf der anderen Seite angeht. Was die besonderen Inhalte und Methoden der afrikanischen Philosophie sind, beginnt sich abzuzeichnen. Das bisher zweibändige bibliographische Werk Hountondjis (s. Notiz VII), die Materialsammlungen zur Sage-philosophy, die in Nairobi und in Legon-Accra vorhanden sind, geben einen Eindruck von dem Umfang und der inhaltlichen Ausrichtung dieser Philosophie. Wie sich der internationale philosophische Diskurs verändert, wenn die afrikanische Philosophie in zunehmendem Maß die Bühne internationaler Kongresse und Arbeitstagungen betritt, bleibt abzuwarten.

Es scheint ein für beide Seiten adäquater Weg zu sein, wenn die Zusammenarbeit zwischen westlichen und afrikanischen Philosophen im Rahmen der Ausarbeitung einer interkulturellen Philosophie geschieht. Dieser Rahmen bedeutet, dass eine transkulturelle Philosophie, die eine universale Wahrheit jenseits der kulturellen Besonderheiten annimmt, nicht machbar ist. Die kulturelle Besonderheit ist unaufhebbar; sie ist für die jeweilige Philosophie konstitutiv. Im interkulturellen Dialog sind deshalb Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Das Ziel ist nicht Einheit, sondern Gemeinsamkeit Verschiedener. Neben der Zusammenarbeit sollte jeder der Partner seine eigenen Traditionen pflegen und weiterbilden können.

Der europäisch-afrikanische Dialog im Rahmen einer interkulturellen Philosophie ist eingebettet in eine vergleichbare Zusammenarbeit mit anderen Philosophien. Von europäischer Seite aus ist die Zusammenarbeit mit fernöstlichen Philosophien (vor allem mit japanischer und indischer Philosophie) am deutlichsten ausgebildet. Von Afrika aus liegt es nahe, zur islamischen Philosophie des nordafrikanischen Raumes und des Nahen Ostens eine besondere Partnerschaft zu suchen. Zur Weltgesellschaft, die hoffentlich nicht als Einheitsgesellschaft entsteht, gehört eine weltweite interkulturelle philosophische Arbeit, die hoffentlich nicht nur ein Epiphänomen der ökonomisch-technologisch-politischen Entwicklung sein wird.

Tagebuchaufzeichnung VII »Benin Land der Widersprüche«

              Cotonou, 8.1.1990

Mit guten Gründen wird man Afrika einen Kontinent der Widersprüche nennen können. Nach einer Woche in Benin habe ich einen Eindruck von der Stadt Cotonou bekommen und in ausführlichen Gesprächen mit afrikanischen Kollegen und mit deutschen Entwicklungshelfern (die Hauptverwaltung des Deutschen Entwicklungsdienstes in Benin befindet sich gegenüber der Villa Borgou, die als Gästehaus der Universität dient) etwas erfahren über das Land. Es scheint so, dass die Widersprüche Afrikas hier besonders scharf hervortreten.

    Die Hauptstraßen Cotonous sind in gutem Zustand. Es gibt sogar geteerte und gepflasterte Gehsteige. Aber die Nebenstraßen sind überhaupt nicht befestigt. Man geht durch eine Lage von Staub und dünnem Sand, die im Durchschnitt etwa 10 cm dick ist. Meine Vorstellungskraft reicht nicht aus, um zu sagen, welche Art Masse das in der Regenzeit geben wird. Häufig bilden diese Straßen eine Art Berg- und Talbahn. Immer wieder begegnet man Haufen von Müll, in denen Kinder noch Brauchbares oder Essbares suchen und die für Hühner und Schweine Nahrung bieten. Die GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) hat in Accra die Müllabfuhr organisiert, so dass diese Art Müllhaufen dort verschwunden sind. Der DED (Deutscher Entwicklungsdienst) beschäftigt sich in der Regel mit kleineren Projekten in ländlichen Gebieten. Der Leiter ist skeptisch in Bezug auf den bleibenden Erfolg der Aktion in Accra, nachdem die GTZ ihre Hilfe eingestellt haben wird.

Der Widerspruch zwischen Stadt und Land, der für Benin zugleich ein Widerspruch zwischen relativ wohlhabender Küstenregion und armem Binnenland ist, scheint hier noch stärker zu sein als in Ghana. Die trockenen Gebiete im Norden setzen der Bodenbearbeitung und Viehzucht große Hindernisse entgegen, so dass die Hilfe beim Brunnenbau eines der wichtigsten Projekte des DED darstellt. Besonders arm sind die Somba, die im Atakora-Gebirge im Nordwesten des Landes leben. Die Fulbe im Nordosten sind für ihm traditionelle Rinderhaltung auf halb-nomadische Lebensweise angewiesen.

Eine Sonderstellung nehmen die Yoruba im Osten des Landes ein (sie werden in Benin auch Goun oder Nagout genannt), die sich als Händler betätigen und mit ihren Stammesgenossen in Nigeria einen blühenden Schmuggel und Schwarzhandel betreiben. Überhaupt scheinen hier viele über nicht unerhebliche Nebeneinkünfte zu verfügen. So sind die Fahrer der Moped-Taxis häufig Studenten. Wie wäre es sonst möglich, dass das Leben in Cotonou in all seiner Vielfalt und Buntheit weitergeht, nachdem die Staatsbank seit Monaten pleite ist und keine Gehälter mehr an Staatsbeamte und viele andere Beschäftigte ausbezahlt werden? Andere, die keine Möglichkeit für einen Nebenverdienst haben, leiden unter dieser Situation nicht unerheblich. »Es sind schon Menschen gestorben«, berichtet ein Kollege, »weil sie aufgrund der gegenwärtigen Verhältnisse kein Geld hatten, um notwendige Medikamente zu kaufen«.

Der Widerspruch zwischen verschiedenen Stämmen oder Volksgruppen spielt noch auf andere Weise in die gegenwärtige politische Situation hinein. In der südlichen Küstenregion leben überwiegend Aja und Fon, die früher zu dem Königreich von Dan-Home gehörten. Ähnlich wie die Ashanti im Gebiet des heutigen Ghana haben die Fon in Benin (früher Dahomey) seit langem eine dominierende Rolle gespielt. Sie sind zwar nicht in derselben Weise bis heute traditionsverbunden wie die Ashanti und andere Akan-Stämme. Sie haben indessen als Verwaltungs-angestellte der französischen Kolonialmacht, die ja das zentralistische Verwaltungssystem des eigenen Landes auch den Kolonien auferlegte, ihre dominierende Rolle festigen können. Daraus haben sich starke Spannungen ergeben zwischen den Fon und anderen ethnischen Gruppen im Land. Diese bilden zu einem Teil den Hintergrund der gegenwärtigen politischen Lage, da President Mathieu Kerekou seiner Stammeszugehörigkeit nach zu den Natemba gehört, einer kleinen Ethnie, die den Somba benachbart ist. Der Kampf um politische Liberalisierung, der zu häufigen Demonstrationen und lange andauernden Streiks führt, ist also zugleich eine Auseinandersetzung zwischen den Fon, die vielfach als Berater des Präsidenten wichtige Positionen innehaben, und den traditionsbewussteren Stämmen des Nordens, insbesondere der Natemba und Somba, die KbWkou als einen der ihren rückhaltlos unterstützen.

Schließlich wird man sagen können, dass die religiösen Widersprüche zwischen Christentum und Islam auf der einen Seite und traditionellen Religionen auf der anderen Seite in Benin besonders deutlich sind.[235] Mit der französischen Kolonisierung ging eine überwiegend katholische Missionierung zusammen. Die Hauptkirche am Boulevard de St. Michel in Cotonou, die der heiligen Jungfrau Maria geweiht ist, und die »Kathedrale« Notre Dame an der alten Brücke werden jedermann sogleich auffallen, ebenso mehrere große Moscheen. Aber nur 17 Prozent sind Christen (14 Prozent Katholiken) und 15 Prozent Mohammedaner.[236] Der größte Teil vor allem der ländlichen Bevölkerung hält an den traditionellen Religionen fest. Die Stämme, die sich ins Atakora-Gebirge zurückgezogen haben, bildeten ein Kerngebiet des Widerstandes gegen Kolonisierung und Christianisierung. Von der Voodoo-Religion, die hauptsächlich an der Küste mit Quidah als Mittelpunkt von ehemaligen, aus Brasilien, Cuba und Haiti zurückgekehrten Sklaven verbreitet worden ist, war schon früher die Rede (s. Philosophische Probleme VII).

Notiz VII Zur Organisation des Philosophie-Unterrichts in Benin im gesamtafrikanischen Vergleich

Da während meines Besuchs in Cotonou (Januar 1990) die Universität geschlossen war, konnte ich mich nicht an dem Prozess der Lehre beteiligen. Einen Einblick in die Organisation des Philosophie-Unterrichts an der Universite Nationale du Benin habe ich aus einem Dokument gewonnen, das P.J. Hountondji 1987 einer Kommission der UNESCO vorgelegt hat und das auf Forschung und Lehre auf dem gesamten afrikanischen Kontinent gerichtet ist.[237] Verständlicherweise wird das Beispiel Benin darin ausführlich wiedergegeben. Es folgen einige Zitate aus diesem Dokument, die die Situation in Benin im gesamtafrikanischen Vergleich beschreiben. (Die Behandlung der nordafrikanischen Länder lasse ich beiseite.)

»Wenn wir nun nach dem Inhalt der Lehre fragen, kann man im großen und ganzen drei Sorten von Programmen unterscheiden:

a. solche, die man als klassisch qualifizieren kann und die im wesentlichen die Kenntnisse und Themen des Philosophie-Unterrichts übernehmen, die in den alten Metropolen üblich waren (Frankreich und Großbritannien, im besonderen);

b. solche, die diese Kenntnisse und Themen insgesamt zurückbringen und zugleich ergänzen in verschiedenen Graden und Arten durch die Reflexion auf einen besonderen Gegenstand: Afrika, oder auf eine besondere Lehre: den Islam, im besonderen;

c. schließlich solche, die ihre Lehre ganz und gar umformen und funktional machen entsprechend den Achsen und wesentlichen Themen einer bestimmten Doktrin: des historschen und dialektischen Materialismus oder des Islam«.[238]

Nachdem darauf hingewiesen ist, dass diese Typologie »nur einen indikativen Wert« hat, gibt Hountondji einige Beispiele.

Für a. werden genannt: Elfenbeinküste, Gabun, Togo, Burundi, Mali, Benin, Ghana (1. Jahr). Über das Programm für Benin wird folgendes gesagt: »Das vorläufige Minimum-Programm, das gegenwärtig in Benin gebraucht wird, ist ... eines der mehr klassischen«.

»Einleitung: Was ist Philosophie?
Teil 1: Der Mensch und die Welt
I. Was ist der Mensch?
A) Der Mensch ein Produkt der Natur,
B) Der Mensch ein Produkt der Kultur;
C) Der Mensch ein psychisches Wesen.
Teil 2: Logik und Erkenntnis
I. Elemente der Logik
A) Definition;
B) Der Begriff;
C) Die verschiedenen Formen des Argumentierens.
II. Das Problem der Erkenntnis
A) Der Prozess der Erkenntnis;
B) Theorie und Praxis;
C) Das Wahre und das Falsche;
D) Die Sprache.
Teil 3: Moral und Politik
I. Das Recht und die Pflicht
II. Der Begriff Verantwortung.
Dieses >vorläufige Minimum-Programm< ist auf jeden Fall nur eine Zwischenlösung, ein Notbehelf, der durch die Umstände auferlegt ist und durch die Notwendigkeit, sich für die Wahl der Gegenstände des Baccalaureat auf ein offizielles Dokument zu beziehen. Im übrigen besteht die Bereitschaft, es umzuarbeiten oder die Möglichkeit, dass das marxistisch-leninistische Unterrichtsprogramm mit mehr Autorität auferlegt wird.«[239]
Für b. werden genannt: Senegal, Zaire, Kamerun (wir können hinzufügen: Kenia, Ghana und Nigeria). Besonders interessant ist das Programm für Senegal:
»Teil 1: Gesellschaft und Geschichte
A) Das Problem der gesellschaftlichen Existenz;
B) Die sozipolitischen Strukturen in Afrika: Typen
und Evolution;
C) Das Problem der Entwicklung.
Teil 2: Logik und Epistemologie
A) Einleitung;
B) Das konkrete Denken;
C) Das logische Denken und die formalen Wissenschaften;
D) Die Realwissenschaften;
E) Das Problem der Wahrheit.
Teil3: Philosophie, Metaphysik, Anthropologie
A) Die Philosophie;
B) Die Metaphysik;
C) Das traditionelle afrikanische Denken;
D) Das zeitgenössische afrikanische Denken;
E) Kulturanthropologie und philosophische Anthropologie.«[240]
Für c. werden genannt: Guinea (1959-1984), Benin (das offiziell vorgeschriebene marxistisch-leninistische Programm, das aber 1987 nicht mehr gebraucht wird, obwohl es offiziell noch gültig ist), Kongo.

Aus dem Schlussabschnitt (»Conclusion«) des Dokuments entnehme ich folgende Zitate:

»Schließlich hat uns die Reflexion auf die aktuellen Aufgaben dazu geführt, vier prinzipielle Achsen des praktischen Handelns, vier >Programme< aufzustellen:
1. Vereinheitlichung der Lehrprogramme;
2. Ausbildung der Ausbilder;
3. Verbesserung der wissenschaftlichen und pädagogischen Hilfsmittel;
4. Unterstützung der philosophischen und interdisziplinären Forschung.«[241]

Das wichtigste scheint dem Verfasser zu sein: »... überall, auf allen Niveaus, die Regel des Ausgezeichneten aufzuerlegen« und »... hartnäckig der Versuchung der Leichtigkeit zu widerstehen, überall, wo dies noch möglich ist, den Triumph des Mittelmäßigen zu verhindern«.[242]

Die Aufgabe, die oben unter b. umschrieben ist, kommt in der Schlusszusammenfassung nicht wieder vor. Die Universitäten, die sich um eine Ausrichtung der philosophischen Lehre auf die Situation in Afrika bemühen, hätten eine Stütze ihrer Arbeit verdient. Ich kenne die Verhältnisse in Senegal nicht. In Nairobi, Legon-Accra und auch Ibadan ist diese Ausrichtung von der Art, dass sie eine Stütze gut hätte gebrauchen können (s. Notiz I, IV und IX).

Die Sektion Philosophie des »Département« für Philosophie und Soziologie hat 4 Dozenten (von denen einer Dekan der »Faculté des Lettres, Arts et Sciences Humaines« ist und ein zweiter kürzlich zum Minister für Erziehung auf dem Niveau der Vorschule (»École maternelle«) und Grundschule ernannt worden ist). Diese Dozenten unterrichten etwa 200 Studenten, die das oben beschriebenen vierjährige Studium durchlaufen mit Examina am Ende jedes Studienjahres.

 

Philosophische Probleme XV Noch einmal: Zur Kritik der Ethnophilosophie

Von »Ethnophilosophie« und ihrer Kritik war schon mehrfach die Rede. In Philosophische Probleme II: »Geschichte« ist dargestellt worden, wie die professionelle akademische Philosophie in Afrika zu sich selbst findet u.a. durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Ethnophilosophie. In Philosophische Probleme VI: »Traditionelle Weisheitslehren« und VIII: »Philosophie in Sprichwörtern« tauchte die Frage auf, inwieweit Odera Orukas Erforschung der »sage-philosophy« und Gyekyes Rekonstruktion des »Akan conceptual scheme« bei der Ethnophilosophie anschließen oder selbst eine bestimmte Form von Ethnophilosophie sind. Es ist notwendig, die Frage nach diesem Typ afrikanischer Philosophie noch einmal aufzugreifen. Dabei sind auch neuere Ergebnisse der Forschung und z.T. noch nicht veröffentlichte Weiterentwicklungen bestehender Standpunkte zu berücksichtigen.

Zunächst einmal muss erwähnt werden, dass M. Towa mit Recht darauf hinweist, dass die Erforschung des afrikanischen Denkens, teils in Verbindung mit der religiösen Vorstellungswelt afrikanischer Völker, teils auch mit linguistischem Einschlag und mit Untersuchungen über Sprichwörter, weiter zurückreicht und eine breitere Entwicklung durchlaufen hat, als die oben im geschichtlichen Überblick erwähnten Arbeiten der Kulturanthropologen Lèvy-Bruhl, M. Mauss, M. Griaule, E.E. Evans-Pritchard und C. Lèvi-Strauss erkennen lassen.[243] Towa erwähnt folgende Arbeiten:R.F. Burton, Wit and wisdom from West Africa. A book of proverbial philosophy   1865;R.H. Nassan, The philosophy of fetichism, 1903;Ch. Delhaise, Les idées religieuses et philosophiques des Warega, 1909;P. Radin, Primitive man as philosopher, 1927;V. Brelsford, Primitive philosophy, 1935;Ders., Philosophy of the savage, 1938.Das Buch von Paul Radin, das 1955 und 1957 neu aufgelegt worden ist, verdient besonders erwähnt zu werden. Es sucht mit vielen gängigen Vorurteilen der Kulturanthropologie zu brechen, insbesondere mit Tylors Idee eines kindlichen Stadiums der Kulturentwicklung in den afrikanischen Ländern. Radin gelingt es, eine eigenständige, in sich differenzierte Philosophie aufzuzeigen, die zu einem Typus von Denken gehört, den er »primitiv« nennt. Für »primitive« Gesellschaften nimmt er durchgehend eine »Klasse von Intellektuellen« an, zu der auch Denker oder Philosophen gehören. Eine Reihe von Gedichten und theoretischen Darlegungen, darunter auch Sprichwörtersammlungen, die in afrikanischen und anderen »primitiven« Gesellschaften mündlich überliefert worden sind, hat Radin ermittelt und aufgeschrieben. Darin zeigt sich, dass die Afrikaner ihre eigene Philosophie selbst zum Ausdruck gebracht haben. Es handelt sich nicht um Ethnophilosophie in dem Sinne, dass andere als Angehörige der betreffenden Ethnie die in ihrer Sprache und Vorstellungswelt enthaltene Philosophie formulieren.[244]

Die Befunde Radins, die sich notwendigerweise auf eine begrenzte Anzahl von Stämmen oder Volksgruppen beziehen, werden von ihm generalisiert und praktisch für den »primitiven Menschen« als gültig angenommen. Dieser Denkschritt verweist auf Levi-Strauss' Konzeption einer »Strukturalen Anthropologie«, die ebenfalls allgemeine, nicht nur auf konkrete Gesellschaften bezogene Verhältnisse aufzuzeigen sucht.[245] Ferner stimmen Radin und Lévi-Strauss darin überein, dass sie für das »primitive« bzw. »wilde« Denken gleichwertige Strukturen annehmen, wie sie in modernen Zivilisationen bestehen.[246] Dass Lévi-Strauss dabei aufgrund seines Rousseauismus einem (umgekehrten) Eurozentrismus verhaftet bleibt, ist in Philosophische Probleme II: »Geschichte« bereits aufgezeigt.

Dieses Beispiel soll zeigen, dass die ältere ethnophilosophische Literatur interessante Ergebnisse hervorgebracht hat, die die Grenze eines bestimmten Typs der Ethnophilosophie bereits überschreiten. Radin gebraucht zwar noch das Wort »primitiv«, aber nicht mehr in einem abwertenden Sinn wie Tylor, Levy-Bruhl usw. und auch nicht in einer diese Kulturform verherrlichenden Weise wie später Levi-Strauss. Indem er den Eigenwert und die Eigenbedeutung dieser Philosophie zu erfassen sucht, vermeidet er den fatalen Deutungszusammenhang, in den später Tempels, Kagame, Jahn und Mbiti die afrikanische Philosophie einbeziehen. Sie erforschen, wie bereits gezeigt wurde, das afrikanische Denken und die darin enthaltene »Ontologie« aus dem Gesichtspunkt ihrer Umsetzbarkeit in christliche Theologie. Sie bieten Ethnophilosophie, auch in dem Sinne, dass sie nicht die von den jeweiligen Stämmen und ihren Angehörigen formulierte Philosophie wiedergeben, sondern die in deren Sprache und Sprichwörtern implizite Philosophie zuallererst artikulieren.

In der Verlängerung des Radinschen Typus der Ethnophilosophie möchte ich W. Duprés Buch Religion in primitive cultures. A study in ethnophilosophy erwähnen.[247] Er hat sich mit der Kultur und der Religion der Pygmäen im Nordosten Zaßes beschäftigt. Und er findet, dass unter den »primitiven«, d.h. elementaren Umständen ihres Lebens die Grundbedingungen des Menschseins mit besonderer, gewissermaßen anfänglicher Klarheit zum Ausdruck kommen. Diese These befindet sich in ge-fährlicher Nähe zum Ethnozentrismus im Gewand des Anti-Eth-nozentrismus. Ich möchte sie jedoch als Ethnophilosophie in dem weiter unten umschriebenen legitimen Sinn einordnen.

In einem Artikel »Occidentalism, elitism. Answer to two critiques« (in: Quest, 1989), der in französischer Originalfassung schon 1982 erschienen war,[248] verteidigt sich Hountondji gegen zwei Vorwürfe, die ihm von mehreren Philosophen aus Elfenbeinküste und aus Benin gemacht worden waren. Den Vorwurf des »Okzidentalismus« (Bezogenheit auf das westliche Vorbild) gibt er den Verteidigern der Ethnophilosophie zurück. Ethnophilosophie habe ihre Wurzeln in westlicher Ethnographie und Kulturanthropologie. Und sie suche den aus der westlichen Geschichte stammenden Begriff Philosophie den Denkinhalten des traditionellen Afrika aufzuerlegen. Er stehe im Grunde positiver zu den Ergebnissen der intellektuellen Arbeit der Ältesten und der weisen Männer im traditionellen Afrika, wenn er ihnen nicht das Etikett »Philosophie« aufklebe, das Ausdruck davon sei, dass man der westlichen Welt gleich(wertig) sein wolle. Zum Vorwurf des »Elitismus« (elitärer Gesinnung) sagt er, dass die kollektiven Denkinhalte der »Massen« des Volkes ihre »spontane Philosophie«, auch nach den Auffassungen Gramscis, die von seinen Kritikern herangezogen werden, nicht als solche, d.h. ohne eine kritische Interpretation und Reformulierung in die philosophische Diskussion Eingang finden können. Durch eine solche kritische Interpretation und Reformulierung werden diese Denkinhalte nicht abgewertet, sondern eine in ihnen selbst liegende Tendenz zur Ausführung gebracht.

Den Deutungszusammenhang der Ethnophilosophie von Tempels und seinen Nachfolgern, den Towa treffend als »List des Glaubens« beschrieben hat (s. Philosophische Probleme II), wird man zweifellos nicht als legitim betrachten können. Der Versuch, in Sprache, Sprichwörtern, Mythen usw. enthaltene Philosophie aufzusuchen und zu artikulieren, wird indessen nicht ohne weiteres negativ zu beurteilen sein. Während Chr. Neugebauer eine radikale Kritik an Tempels und den folgenden Ethnophilosophen formuliert,[249] hat Hountondji seine Kritik nunmehr modifiziert, wie er mir mündlich mitgeteilt hat. Er will eine Ethnophilosophie als legitim oder adäquat anerkennen, die die impliziten philosophischen Gehalte der Sprache, Vorstellungswelt usw. in deren eigenem Deutungszusammenhang zu artikulieren sucht. Jede Philosophie setzt kollektive Gehalte voraus und schließt bei ihnen an, die sich nicht selber als Denken artikuliert haben. Sie sind in diesem Sinne das Ungedachte einer Philosophie, das sich zur explizit als Denken auftretenden Philosophie verhält wie das Unbewußte zu den bewussten Inhalten des Bewußtseins. Der Ethnophilosoph vollzieht denselben Schritt der Artikulation ungedachter philosophischer Gehalte (einer anderen oder früheren Sprache usw. entsprechend der Bewusstmachung unbewusster Bewusstseinsinhalte in der Psychoanalyse), den ein Philosoph in seiner (eigenen) Sprache und Vorstellungswelt immer auch vollzieht.

Damit ist das Unternehmen einer Ethnophilosophie prinzipiell gerechtfertigt. Es gleitet ab ins Illegitime, wenn sachfremde, von anderswoher übernommene Deutungsschemata in diesen Prozess des Denkens von Ungedachtem hineingetragen werden. Dabei rückt Hountondji auch von seinem früher erhobenen Postulat ab, dass nur (von Angehörigen der betreffenden Ethnie) individuell als Philosophie ausgesprochene Gedanken philosophisch relevant sein können. Er gesteht zu, dass die »un-gedachten« kollektiven Voraussetzungen der Philosophie und ihre individuelle Artikulation als Philosophie auf zwei Instanzen verteilt sein können: die Sprache und Vorstellungswelt einer Ethnie auf der einen Seite und denjenigen, der die darin enthaltene Philosophie artikuliert, den Ethnophilosophen, auf der anderen.

Auf diese Weise ist eine neue Gesprächssituation entstanden zwischen Hountondji und Gyekye, dessen Buch zu einem Teil als Ethnophilosophie zu bezeichnen ist. Sofern Gyekye sich auf die Sprache der Akan stützt, auf ihre Sprichwörter, Redewendungen, Mythen usw., um den begrifflichen Rahmen ihres Denkens zu erfassen, betätigt er sich in adäquater Weise als Ethnophilosoph. Die Frage, ob es sich dabei um kollektive Weisheit handelt, die er nunmehr philosophisch artikuliert, oder ob die Sprichwörter und Mythen irgendwann von Individuen geprägt worden sind, auch wenn wir ihre Namen nicht kennen, ist nun nicht mehr so wichtig. Sofern Gyekye die weisen Männer verschiedener Akan-Stämme befragt, um ihre Lehren in seinen Rekonstruktionsversuch einzubringen, ist seine Tätigkeit »sage-philosophy« im Sinne Odera Orukas. Ich lasse hier die methodischen Probleme der Interviewtechnik zur Erfassung philosophischer Gehalte beiseite. Beide Wege, gesondert oder in einer Kombination miteinander, dienen dazu, das traditionelle Denken afrikanischer Völker zu erfassen. Die Frage bleibt freilich noch offen, wie das Verhältnis von traditionellem Denken und aktueller afrikanischer Philosophie zu bestimmen ist.

Diese Frage wird nicht so einfach zu beantworten sein. Glücklicherweise ist die Position, die ursprünglich von Hountondji vertreten wurde, dass die traditionellen Weisheitslehren nicht als Texte überliefert sind und deshalb keine Philosophie sein könnten, so dass man sich seitens der Philosophie auch nicht um sie bekümmern muss, nicht die einzige geblieben. Diese Position ist zu sehr von dem Wunsch eingegeben, von westlichen Philosophen ernstgenommen, als einer der ihren betrachtet zu werden. Wiredus Zurückweisung der Tradition der Weisheitslehren als heute relevanter Philosophie ist teilweise durch dasselbe Motiv zu erklären. Sie war indessen von Anfang an in sich widersprüchlich. Die eigene kulturelle Überlieferung sollte wohl wichtig sein, aber die in dieser Überlieferung enthaltenen philosophischen Weisheitslehren nicht.

Seine heutige Position in dieser Frage umschreibt Hountondji folgendermaßen. Die Erforschung des traditionellen Denkens in Afrika (als Ethnophilosophie in ihrer legitimen Form oder als »sage-philosophy«) ist wichtig und sollte mit allem Eifer betrieben werden. Aber es handelt sich dabei um historische Forschung. Die heutige afrikanische Philosophie steht vor anderen Aufgaben. Ob und inwieweit die historische Erforschung des traditionellen afrikanischen Denkens auf die Bearbeitung der heutigen Probleme Einfluss hat, für sie inhaltlich von Bedeutung ist, wird sich und kann sich in dem Maße zeigen, wie diese Forschungsergebnisse vorliegen und die aktuelle philosophische Arbeit fortschreitet.

In der Tat wurde und wird daran gearbeitet, die traditionellen afrikanischen Denkinhalte und Weisheitslehren zu erfassen,schriftlich aufzuzeichnen und für die philosophische Arbeit bereitzustellen. Wie sie für die aktuelle afrikanische Philosophie fruchtbar werden können, ist damit allerdings noch nicht erklärt, auch nicht durch den Gedanken am Ende von Philosophische Probleme V: »Zur Diskussion der Wahrheitsfrage«, dass sie das Ferment sein könnten, durch das die westlich inaugurierte Philosophie in ein »anderes Denken« transformiert wird. Es kann (noch) nicht gesagt werden, wie das geschehen soll. Trotzdem ist mit der Bereitschaft und der Offenheit dafür, dass westlich inaugurierte Philosophie und traditionelles afrikanisches Denken sich vermischen, bereits ein Anfang gesetzt, um zu einer solchen Erklärung zu kommen. Was sich in der gesellschaftlichen Praxis beständig vermischt, wird man in der philosophischen Theorie auf die Dauer nicht scheiden können. Solange es bei diesem Anfang bleiben muss, scheint es mir adäquat, dass die Versuche zur gedanklichen Erfassung der heutigen Situation in Afrika und die Arbeit an der Erfassung der traditionellen Weisheitslehren nebeneinander geschehen, sich gegenseitig ihr Recht zugestehen und miteinander in einen Dialog zu kommen suchen. Keine der beiden Arbeitsrichtungen sollte der anderen absprechen, dass sie Philosophie sei, aus welchen Motiven auch immer.

In der Literatur, Poesie, Malerei, Holzschnitzkunst, auch in der Religion existiert ein afrikanischer Stil, der deutlich als solcher erkennbar ist. Selbst in der Sprache läßt sich beobachten, dass das Englische oder Französische afrikanisiert werden, so dass »wir es benutzen können, um unsere eigenen Ideen ... in unserer eigenen Weise darin auszudrücken«.[250] Die Kräfte der Tradition wirken in der Gegenwart. Aus Gründen, die mir nicht recht einsichtig sind, wird dieser Prozess in der Philosophie als besonders schwierig angesehen. P.O. Bodunrin schreibt: »Es ist viel leichter für Gelehrte in anderen Gebieten der Humanwissenschaften (Geschichte, Literatur, Musik, Kunst usw.), das spezifisch Afrikanische ihrer Disziplin zu lehren, als für uns in der Philosophie. Doch die afrikanischen Philosophen haben die Herausforderung angenommen, afrikanische Philosophie zu lehren.«[251]

Notiz VIII Das Generalsekretariat des »Interafrikanischen Rates für Philosophie« in Cotonou

Der Auftrag des »Comité exécutif« des »Conseil Interafricain de Philosophie« (CIAP), eine Schriftenreihe herauszubringen Bilan de la recherche philosophique africaine. Repertoire bibliographique, geht zurück auf das Symposium in Düsseldorf im Jahre 1982, über »Culture and Identity of Africa«, das von Diemer und Hountondji gemeinsam organisiert wurde (s. Einleitung). Die »Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie« (FISP) hat den Plan unterstützt und Mittel der UNESCO dafür zur Verfügung gestellt. Die Ausführung des Auftrages wurde dem Generalsekretariat des CIAP übergeben, das von Paulin J. Hountondji geleitet wird.

Inzwischen liegen die beiden ersten Bände dieser Schriftenreihe vor. Sie tragen keine Jahreszahl. Das Vorwort des verantwortlichen Herausgebers Hountondji ist datiert auf den 8. Februar 1987 (das Erscheinungsjahr des ersten Bandes ist 1987, das des zweiten 1988). Es handelt sich um eine alphabetisch angeordnete Bibliographie zur afrikanischen Philosophie für die Zeit 1900-1985. »Afrikanisch« und »Philosophie« werden dabei sehr breit aufgefaßt. »Afrikanische Philosophie« bezieht sich (1) auf Werke über beliebige Themen der Philosophie von Autoren afrikanischer Herkunft (südlich der Sahara) und (2) auf Werke über afrikanische Philosophie von Autoren beliebiger Herkunft. Als »Afrikanische Philosophie« gilt, (1) was sich ausdrücklich als solche versteht, (2) Werke von Kulturanthropologen über das Denken und die Vorstellungswelt afrikanischer Ethnien und (3) Werke von Theologen und Religionswissenschaftlern, die die religiösen Vorstellungen und Gebräuche afrikanischer Volksgruppen im Zusammenhang weltanschaulicher oder allgemein menschlicher Fragen darstellen.[252]

Die bibliographischen Werke von Pater Smet aus Lubumbashi sowie andere veröffentlichte Bibliographien und private Bücherlisten wurden als Vorarbeiten dankbar benutzt. Merkwürdigerweise fehlt bei diesen Uorarbeiten die auführliche Bibliographie im Anhang des Buches von R.W. Wright: African Philosophy. An Introduction, Washington 1984’. Das Resultat sind zwei Bände mit insgesamt 3365 Titeln. Dabei ist im ersten Durchgang sicher keine Vollständigkeit erzielt. Ein Vergleich mit den bisher von mir benutzten Werken zur afrikanischen Philosophie ergab einen Ergänzungsvorschlag von 30 Titeln.

Supplement-Bände sind in Vorbereitung, die sowohl Ergänzungen zur Periode 1900-1985 als auch eine Weiterführung der Bibliographie bis zum jeweils aktuellen Stand anstreben. Das ganze Unternehmen wird aber von Hountondji in wesentlich weiter ausgreifende Pläne eingeordnet. Ihm schwebt eine neue Lesung der gesamten Philosophiegeschichte vor, die die afrikanischen Beiträge und Aspekte heraushebt. »Afrikanisch« wird dann allerdings weiter gefasst und soll den nordafrikanischen Raum, insbesondere Ägypten mit einschließen. Sowohl die ägyptischen Quellen der griechischen Philosophie und damit der europäischen im Isis-Kult als auch die ägyptischen, insbesondere alexandrinischen Beiträge zur hellenistischen Gnosis, wie sie bereits im »Corpus Hermeticum« zu finden sind, spielen dabei eine große Rolle. In Äthiopien sind schon seit dem 5. Jahrhundert griechisch-europäische und ägyptische Einflüsse verarbeitet worden (s. Philosophische Probleme III). Ferner ist an die Beiträge nordafrikanischer Denker zum arabischen Aristotelismus und zur islamischen Philosophie zu denken, deren Wirkungen bis in Gebiete südlich der Sahara nachzuweisen sind. Das gilt in besonderem Maße für West-Afrika, für Länder wie Senegal oder das heutige Mali mit der Handelszentrale Timbuktu. Keitas und Olelas Entwurf eines gemeinsamen Ursprungs afrikanischer und europäischer Philosophie im alten Ägypten taucht darin wieder auf mit einer athenischen und einer alexandrinischen Antike, sowie einem christlich-europäischen und einem islamisch-westafrikanischen Mittelalter.[253] In der Neuzeit beginnen die verschiedenen Traditionen sich weltweit zu vermischen.

Auch die organisatorischen Vorhaben Hountondjis sind sehr ehrgeizig. Ein Archiv soll entstehen, in dem alle Werke, die in der Bibliographie aufgeführt werden, soweit wie möglich im Original, sonst aber jedenfalls in Photokopie, greifbar sind. Eine wichtige Abteilung dieser umfassenden Dokumentation soll darin bestehen, dass Belegexemplare aller Doktordissertationen, Magisterarbeiten usw. zur afrikanischen Philosophie gesammelt werden. Auf diese Weise kann ein Instrument für die Forschung geschaffen werden, das für die weitem Arbeit auf diesem Gebiet unumgänglich ist. Dabei wird die Philosophie mit interdisziplinären Forschungen in einem engen Zusammenhang gesehen. Dies alles sollen Vorstufen sein, um in Cotonou ein interafrikanisches Forschungszentrum für Philosophie und Humanwissenschaften aufzubauen. Das Einwerben von Mitteln, um diese Pläne in einem Land zu verwirklichen, das von der UNO als eines der 16 ärmsten der Erde eingeordnet worden ist, wird nicht ganz einfach sein.

Poesie V Aus »Der Atem der Wildheit« von Agbossahessou[254]

Hymne an Tam-Tam
Trommler des ausgehöhlten Baumstamms,
Trommler der gebratenen Erde,
Trommler des umringenden Waldes,
Trommler der Töpferkunst,
Klöppel aus Weidenruten,
Klare Noten des Gongs,
Die der Trommler wütend schlägt, Bebendes Tam-Tam,
Das der Trommler wütend schlägt,
Entflammtes Tam-Tam,
Du bist es, das mich trägt,
Wenn des geschlachteten Bockes
Blut auf den Boden spritzt.
Zu deiner Stimme, O Tam-Tam!
Zu deinem Aufruf, steigt herab
In mir Dada Zodji,
Der Gott meiner Väter.
Zu deiner Stimme, O Tam-Tam!
Werfe ich den Flitter weg
Der Welt der Weißen und finde wieder
Das Afrika meiner Geburt,
Das der schützenden Geister.
Trommler, Tam-Tam,
Mach mich biegsam,
Beuge meine Arme,
Drehe meine Lenden,
Gebrauche meine Füße.
Tam-Tam, fließe über,
Fließe über vor Freude;
Belebe meine Beine
Und jage meine Füße
Und mach, dass meine Schritte sich kreuzen.
Trommler, Tam-Tam,
Göttliches Tam-Tam,
Ergreife mich
Gekleidet im Prachtgewand
Oder im buntesten Schurz.
Ergreife mich,
Tam-Tam,
Ergreife mich
Geschmückt mit Kauri-Muscheln
Und mit roten Federn.
Ergreife mich,
Tam-Tam,
Ergreife mich,
Vermummt mit Masken
Oder Hörnern auf dem Kopf.
Tam-Tam meines Vaters,
Tam-Tam meiner Mutter,
Tam-Tam meines Stammes,
Tam-Tam meines Gottes,
Ergreife mich.
Tam-Tam tabu,
Tam-Tam geheiligt,
Biege mich, drehe mich.
Ich will für dich
Luftsprünge machen.
Von dir besessen,
Will ich wie ein
Kreisel mich, ohne Pause,
Zu deinen Füßen
In der Runde drehen.
Trommler, Tam-Tam,
Tam-Tam, Gehüpfe,
Gieße in mich die Raserei,
Gieße in mich den Wahnsinn!
Gieße in mich die Verrücktheit.
Trommler aus Bambus,
Tam-Tam aus Bambus,
Zither aus Bambus,
Banjo aus Bambus,
Freude der Bambusartigen.
Rhythmus skandiert,
Kadenz geschlagen,
Noten stoßweise,
Schläge gehämmert,
Durchtränke mich mit Rhythmus.
Mit Rhythmus,
Mit Rhythmus,
Wirf mich in die Orgie
Von Tönen. Überlade mich
Mit ihrem Taumel.
Trommler, schlage doch
Und führe das Fest.
Trommler, schlage doch
Und schlage den Rhythmus
Zum erhabenen Schritt.
Trommler, schlage doch
Und schlage mit den Händen,
Und schlage mit den Füßen.
Trommler, schlage doch.
Auf meine Brust,
Schlag und töne wider
Im Strom der Zeit.
Lärm. Donnerschlag.
Schatzkammer Afrikas,
Schlag für die Freude.
Tam-Tam schlagend,
Schatzkammer Afrikas.
Schlag für die Trauer.
Tam-Tam brausend,
Schatzkammer Afrikas,
Schlag für den Glauben.
Tam-Tam schlagend,
Tam-Tam brausend,
Tam-Tam wütend,
Schlag,
Schlag in der Hütte,
Schlag.
Schlag,
Schlag auf dem Platz,
Schlag.
Schlag,
Am Rande der Wiege,
Schlag.
Schlag,
Am Rande des Grabes,
Schlag.
Schlag,
Über den Tod hinaus.
Schlag.
Schlag,
Schlage immer,
Schlag.
Schlag,
Schlag, Tam-Tam,
Schlag.

 

Philosophische Probleme XVI Die Frage nach der Relevanz

An früherer Stelle (Notiz III:»Elemente eines anderen philosophischen Stils?«) habe ich davon gesprochen, dass es in der heutigen afrikanischen Philosophie möglicherweise so etwas gibt wie einen »ethical turn«. Dies macht sich vor allem im Philosophie-Unterricht bemerkbar, wenn es darum geht, Beispiele zu finden, die Gedanken der westlichen Philosophie auf afrikanische Verhältnisse anzuwenden. Die Hauptmasse des akademischen Unterrichts ist und bleibt indessen auf europäische und US-amerikanische philosophische Inhalte und Methoden bezogen. Eine primär praktische Orientierung findet sich in den Themen der Tagungen, Konferenzen und Kongresse, in denen die Philosophie ihre Relevanz für die Gesellschaft zu erweisen sucht. Ein treffendes Beispiel hierfür ist der Vortrag von Chukwudum B. Okolo von der »University of Nigeria« in Nsukka, den er auf einem der regelmäßigen Kongresse der »Nigerian Association of Philosophy« gehalten hat und der auch als Broschüre erschienen ist.

In diesem Text geht es um »Philosophy and Nigerian politics«. Als »über alles bedeutsame Frage« in der gegenwärtigen Situationen in Nigeria formuliert er: »In welcher Weise ... können Philosophen für die nigerianische Gesellschaft und ihre Politik nützlich sein?«[255] Er stellt heraus, dass die Nützlichkeit der Philosophie und der reinen Wissenschaften nicht immer direkt zu erkennen ist und oft erst im nachhinein sichtbar wird, dass sie aber sehr wohl besteht. »Die Natur der philosophischen Aufgabe ist praktisch, eher als theoretisch.«[256] Sie besteht in einer kritischen Reflexion auf bestehende Verhältnisse. Für Nigeria gilt zum Beispiel, dass Verfassungstext und politische Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Während der erstere »Einheit und Vertrauen, Frieden und Fortschritt« proklamiert, wird die politische Wirklichkeit vielfach durch Korruption, Unterschlagung, Bestechlichkeit, Habsucht, Unverantwortlichkeit, Tribalismus und Nepotismus der politischen Führer bestimmt. Das gilt nach Okolo vor allem für die zivilen Regierungen Nigerias (1960-66 und 1979-83), die deshalb zu Recht vom Militär gestürzt worden sind.[257]

Das Urteil von A.K. Armah aus Ghana, das sich nicht in einem philosophischen, sondern in einem literarischen Text findet, ist in diesem Punkt noch radikaler: »Männer, die nach oben gekommen waren, um die Hungrigen zu führen ... sprachen zu uns in dem Bewusstsein, unsere Magier zu sein, Leute mit irgendeiner geheimen Kraft hinter ihnen. Sie waren am Ende nicht fähig, den Unglauben des Volkes zu verstehen ... Wie sollten diese Führer wissen, dass, während sie emporkletterten, um in das Gesicht des Volkes zu scheißen, dieses Volk ihre Arschlöcher gesehen hat und sich umgedreht hat in Ekel und Gelächter?«[258] Um deutlich zu machen, was hier geschieht, sei noch ein anderer Schriftsteller zitiert: »Wenn die Macht in den Dienst lasterhafter Reaktion gestellt wird, muss eine Sprache ins Sein gerufen werden, die ihr Bestes gibt, um solcher Obszönität zu begegnen und ihr ihre Exzesse ins Gesicht zurückzuschleudern.«[259] Gewiss gibt es Ausnahmen von dieser Beschreibung. Nkrumah (jedenfalls in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft), Nyerere, Senghor, Touré, Kenyatta oder Kaunda waren bzw. sind allgemein geachtete Staatsmänner und politische Führer. In einer Reihe afrikanischer Staaten hat sich der politische Stil auch geändert, so dass eine relative Stabilität entstanden ist, ohne welche die von allen gewollte Entwicklung keine Chance hat.

Den Beitrag der Philosophen zur nigerianischen Politik sieht Okolo vor allem darin, dass sie die Situation kritisch analysieren und auf moralische Werte verweisen, die auch in der Politik gelten. Sie stehen vor der Aufgabe, eine Ethik zu entwerfen, insbesondere eine »Axiologie oder Wissenschaft der Werte«.[260] Denn »das wirkliche Problem der nigerianischen Politik ist ein moralisches«.[261] Von hier aus lassen sich Fragen behandeln wie die nach der besten Regierungsform, gerechten Gesetzen und ihrer richtigen Anwendung, sowie nach ökonomischer Gerechtigkeit. Ein Ansatzpunkt für die Lösung der Probleme liegt in der Erziehung, die die moralischen Werte vermittelt, an denen ein so großer Bedarf besteht. Erziehung soll ferner jedem die Möglichkeit der »Selbstentwicklung« geben, die mit der ökonomischen und technologischen Entwicklung zu verbinden ist, dieser erst wirklichen Sinn verleiht.[262]

Dieser Vortrag dient hier nur als Beispiel für viele gleicher Art, durch die afrikanische Philosophen auf öffentlichen Kongressen, die in Nigeria häufig auch durch das Fernsehen übertragen werden, die Relevanz ihrer Arbeit zu erweisen haben. Ferner ist die Frage nach der Relevanz in der afrikanischen philosophischen Diskussion, insbesondere in Nigeria, mit einer anderen Frage verbunden worden, durch welche die afrikanischen Philosophen seit längerer Zeit in zwei verschiedene Lager gespalten sind. Wer sich in seiner philosophischen Arbeit vor allem am westlichen Vorbild orientiert und rein akademisch vorgeht, kann nicht relevant sein für Afrika. Das behaupten andere, die in Nigeria vor allem zur Universität von Lagos gehören und die sich mit Fragen des afrikanischen traditionellen Denkens beschäftigen. Damit wollen sie ihre Arbeit für Afrika relevant machen. Sie sprechen von den »angestrengten Versuchen der afrikanischen Ältesten (im Stamm oder Dorf), über die Geheimnisse des Universums nachzusinnen, über die Feindseligkeit der Umwelt, die Schwierigkeit, mit anderen Wesen zusammenzuleben, menschlichen und nicht-menschlichen, den Wunsch, eine stabile Gesellschaft aufzubauen und darin zu leben, die Notwendigkeit, mit anderen frei zu kommunizieren und die Umwelt zu kennen und zu beherrschen entweder durch Zusammenarbeit oder durch Eroberung.« Nach ihrer Darstellung »führten diese angestrengten Versuche dazu, philosophische Fragen zu stellen. Afrikanische Älteste gelangten zu Antworten auf solche fundamentalen Fragen, und diese Antworten sind es, die antike (>ancient<) afrikanische Philosophie konstituieren«.[263]

G. Sogolo vom Philosophie-Department in Ibadan sieht in dieser Verbindung der Frage nach der Relevanz und der Frage nach der Orientierung am traditionellen afrikanischen Denken ein schwer aufzulösendes Dilemma. Dabei wiegt die Relevanz-Frage in Afrika schwerer als in der westlichen Welt, weil die Entwicklungsländer sich nicht den Luxus irgendwelcher »Orchideen«-Fächer leisten können.[264] Entweder die afrikanischen Philosophen arbeiten akademisch auf hohem Niveau und orientieren sich an der westlichen Philosophie. Dann wird ihnen die Relevanz abgesprochen. Oder sie greifen auf traditionelles afrikanisches Denken zurück und suchen damit ihre Relevanz zu erweisen. Dann bleibt ihre Arbeit weitgehend »deskriptiv«.

In einer früheren Phase der afrikanischen Philosophie, als die »Departments of Philosophy« gegründet wurden, hat die erste Gruppe eine Scheinrelevanz ihrer Arbeit zu erzeugen gewusst, indem sie die Frage: »Gibt es überhaupt afrikanische Philosophie?« diskutierten und in einer für die westlichen Fachvertreter annehmbaren Art und Weise positiv zu beantworten suchten. Über diese Diskussion und die Hauptdiskussionspartner (Wiredu, Hountondji, Bodunrin, Odera Oruka) haben wir in Philosophische Probleme I und II Genaueres berichtet. Seitdem sich, wie Sogolo sagt, die »Nichtigkeit« dieser Frage herausgestellt hat, wird diese Gruppe zur Zielscheibe einer Kritik, die ihnen mangelnde Relevanz vorwirft.[265] Die Kritiker indessen erreichen nicht das philosophische Niveau der von ihnen kritisierten Gruppe. Dies hängt teilweise damit zusammen, dass ihre Arbeit, die auf Relevanz gerichtet war und ist, von den rein akademisch orientierten Fachvertretern unterdrückt oder marginalisiert worden ist.

Eine Auflösung dieses Dilemmas erwartet Sogolo von einer Philosophie, die das traditionelle afrikanische Denken als »Rohmaterial« kritisch aufnimmt und verarbeitet. Denn es enthält Erfahrungen, die den afrikanischen Philosophie-Dozenten und Studenten gleichermaßen naheliegen. Davon erhofft er sich mehr als von einer »Afrikanisierung« der westlichen Philosophie. Sein Ziel ist eine Philosophie von unverwechselbar afrikanischem Charakter sowohl dem Inhalt als auch der Methode nach. Nur hilfsweise soll auf parallele Argumente in der westlichen Philosophie verwiesen werden.[266] Es ist erstaunlich, dass Sogolo an dieser Stelle K. Gyekyes Buch An essay on African philosophical thought und H. Odera Orukas Arbeiten zur »Sage-philosophy«, die in unserer Darstellung häufig herangezogen wurden, nicht wenigstens nennt. Denn sie erfüllen beide weitgehend seine Postulate.

Mit dem kritischen Rückgriff auf das traditionelle afrikanische Denken erweist die Philosophie in Afrika nicht automatisch ihre Relevanz. Dies ist allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Relevanz heutiger philosophischer Arbeit in Afrika. Die weitere Frage, die uns wiederholt beschäftigt hat, wie traditionelles afrikanisches Denken zur Erfassung der intellektuellen Grundlagen der heutigen Situation in Afrika etwas beitragen kann, wird von Sogolo nicht einmal gestellt. Es kommt hinzu, dass der kritische Rückgriff auf die Tradition allein keine relevante heutige Philosophie ermöglicht. Die traditionellen Verhältnisse in Afrika befinden sich in einem raschen Wandel. Die Einflüsse des Westens auf das ökonomische, wissenschaftliche, politische Leben sind unübersehbar. Sie wer den auch in der Philosophie ihren Niederschlag finden müssen. Afrika ist Teil einer entstehenden Weltgesellschaft und hat von daher seine Besonderheit zu erfassen und einzubringen.

Dieses letztere Argument hat P.O. Bodunrin in einer ausführlichen Entgegnung auf Sogolos Artikel zur Geltung gebracht. Er tut dies in einem Vortrag: »Philosophy in Africa. The challenge of relevance and commitment«, den er 1989 im Rahmen der »Ibadan-Pennsylvania Exchange Lectures« an der »University of Pennsylvania« gehalten hat.[267] Er bestreitet, dass professionelle Philosophie und relevante Philosophie nicht miteinander versöhnt werden können. In diesem Zusammenhang erwähnt er viele aktuelle Themen von Kongressen und Seminaren, wo Vorträge wie der oben erwähnte von Okolo gehalten worden sind. Aber Philosophieren lernt man von den Meistern in diesem Fach. Diese findet er in der westlichen Welt. Deshalb verteidigt er eine starke westliche Orientierung der afrikanischen Philosophie. In gewissem Sinn bedauert er dies: »Man möchte wünschen, die Meister, von denen wir lernen, gehörten zu unserer eigenen Kultur«.[268] Indessen, die Begriffe einer anderen Kultur können auf die Verhältnisse in Afrika angewendet werden. »Afrikanische Kultur heute ist eine gemischte Sache, und innerhalb dieser Mischung muss Afrika« sowohl seine Besonderheit einbringen als auch wie immer mühsam »einen Plan für seine Entwicklung finden«.

Im Blick auf die frühere Phase der afrikanischen Philosophie, in der die westlich orientierten Fachvertreter den Kurs bestimmten, findet Bodunrin jetzt, dass die Kritik der Ethnophilosophie zu »harsch« war und dass der akademische Professionalismus zu »rigide« verteidigt wurde. Wie Hountondji modifiziert und relativiert er diese Kritik aus der heutigen Sicht, und er erklärt die frühere harte Haltung aus der Notwendigkeit, dass seriöse Arbeit an den neu entstehenden Philosophie-Departments geleistet werden musste. Sonst hätten sie sich nicht durchsetzen können. »Die meisten praktizierenden Philosophen in Afrika verbinden heute irgendwie die beiden Orientierungen, eine Sache, die Sogolo für unversöhnlich hält.«[269]

Das gemeinsame Ziel aller, sowohl der »Afrikanisten« als auch der »westlich Orientierten« ist das Bemühen um einen Beitrag zur Entwicklung der afrikanischen Länder. Während die letzteren in einer früheren Phase das Übergewicht hatten, scheint dieses nun bei den »Afrikanisten« zu liegen. Nach meinen Erfahrungen stimmt dies nur für Nigeria. Es zeugt für den souveränen Standpunkt Bodunrins, dass er darin eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit sieht.[270] Westliches und traditionelles afrikanisches Denken beginnen sich zu mischen. Beide bestehen nebeneinander gewissermaßen in »friedlicher Koexistenz« und suchen miteinander in einen Dialog zu kommen.

Abschließend warnt Bodunrin vor dem Streben nach zu direkter Relevanz. Philosophisches Denken ist offen und lebt davon, dass verschiedene Standpunkte möglich sind. Communiqubs und politische Stellungnahmen werden selten einhellig sein. Obwohl alle Relevanz und Engagement wollen, wollen sie es doch in verschiedenen Graden. Wie in der westlichen Welt gibt es in Afrika unter den Philosophen verschiedene Temperamente und Berufungen (»callings«), die zu mehr oder weniger direkten Aussagen über politische Verhältnisse führen. Erneut ist der Beitrag zur Entwicklung der gemeinsame Nenner aller Bestrebungen. Wie Okolo plädiert Bodunrin für einen doppelten Entwicklungsbegriff: einen ökonomisch-technologisch-wissenschaftlichen und einen auf das Individuum bezogenen morali-schen. Wenn in der Gegenwart auch die sozio-ökonomischen Probleme vorherrschen, bleibt die Einprägung und Verbreitung einer »wissenschaftlichen Kultur« für Bodunrin die grundlegendste Notwendigkeit (»the most basic of our ... needs«).[271] Die Bemerkung liegt nahe, dass dies nicht unmittelbar aus dem vorher Gesagten abzuleiten ist.

Notiz IX Zur Organisation des Philosophie-Unterrichts in Ibadan (Nigeria)

Während das Philosophie-Studium in Cotonou vom Vorsitzen-den des »Département de philosophie et sociologie« der »Uni-versité Nationale du Bénin« im gesamtafrikanischen Vergleich präsentiert wird (s. Notiz VII), läßt sich für Nigeria nur mit Mühe eine gesamtnigerianische Perspektive ermitteln. Es heißt, dass sich in jedem der 19 Bundesländer (»states«) der Bundesrepublik Nigeria, die bei weitem die größte Bevölkerung hat von allen afrikanischen Staaten südlich der Sahara, mindestens eine Universität befindet. Die Universitäten sind entweder bundes-staatlich (»federal«) oder »staatlich« (von einem Bundesland getragen). Der »Staat« Oyo, in dem Ibadan liegt, hat eine weitere bundesstaatliche Universität in Ife und ein dritte, »staatliche« soll gebaut werden. An 10 der insgesamt 31 nigerianischen Universitäten (im gesamten übrigen Afrika gibt es 52 Universitäten) besteht ein »Department of Philosophy« und damit ein Philosophie-Studium. Zwei weitere Universitäten besitzen »teaching units« für das Nebenfach Philosophie, das in Ergänzung zu anderen Studien gewählt werden kann.

Die Universität von Ibadan ist international bekannt; sie versteht sich selbst als ein »Centre of excellence«. Das »College« von Ibadan wurde schon 1948 gegründet und hat sich 1962 zwei Jahre nach der politischen Unabhängigkeit Nigerias eine Verfassung als selbständige Universität gegeben. Das »Department of Philosophy« wurde 1974/75 eingerichtet und begann mit einem »teaching staff« von drei Dozenten. Heute sind es neun: 1 Professor (P.O. Bodunrin, zur Zeit »Deputy Vice Chancellor« der Universität), 2 Senior lecturers (von denen l als »Head of the Department« fungiert), 3 Lecturers und 3 Assistant lecturers.

Das Studium umfaßt 4 Jahre. Der erstrebte B.A.-Titel kann auf Philosophie beschränkt sein (»single honours«) oder für Philoso-phie und ein weiteres Fach aus einer bestehenden Liste (z.B. Po-litische Wissenschaft, Geschichte, Klassische Studien, Englisch, Religionswissenschaften, moderne europäische Sprachen) erteilt werden (»combined honours«). Ferner gibt es Kurse, die zum M.phil., M.A. und Ph.D. in Philosophie führen.

Folgende Kurse gehören zum »Vier-Jahres-Programm«:
PHI 101 Einßhrung in die Philosophie
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 102
Argumentieren und Kritisches Denken
Obligatorisch für alle »single honours students«
P HI 103Philosophie der Werte
Wahlweise
PHI 104 Methodologie des rationalen Forschens
Wahlweise
PHI 201Philosophische Probleme (analytische Philosophie, Phänomenologie, Afrikanisches Denken)
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
 PHI 202 Einführung in die Logik
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 203 Ethik
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 204
Einführung in die Geschichte der Philosophie
Wahlweise
PHI 205 Einführung in die politische Philosophie
Wahlweise
PHI 301 Metaphysik
Wahlweise
PHI 302 Symbolische Logik
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 303 Ethik-Theorien
Wahlweise
PHI 304 Philosophie der Naturwissenschaften
Wahlweise
PHI 305 Politische und Sozialphilosophie
Wahlweise
PHI 306 Frühe moderne Philosophie (17. bis 19. Jahrhundert)
Wahlweise
PHI 307 Traditionelle afrikanische Philosophie
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 308 Philosophie der Sozialwissenschaften
Wahlweise
PHI 309 Philosophie der Literatur
Wahlweise
PHI 311 Philosophie der Religion
Wahlweise
PHI 312 Ästhetik
Wahlweise
PHI 401 Epistemologie
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 402 Ausgewählte Probleme der Logik
Wahlweise
PHI 403 Angewandte Ethik
Wahlweise
PHI404 Marxistische Philosophie
Wahlweise
PHI 405 Zeitgenössische afrikanische Philosophie
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI 406 Neue moderne Philosophie (spätes 19. und 20. Jahrhundert)
Wahlweise
PHI 407 Analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts
Wahlweise
PHI 408 Phänomenologie, Existentialismus und Hermeneutik
Wahlweise
PHI 409 Philosophie der Mathematik
Wahlweise
PHI 411 Philosophie des Rechts
Wahlweise
PHI 412 Philosophie der Geschichte
Wahlweise
PHI413 »Philosophy of Mind«
Wahlweise
PHI 414 Philosophie der Sprache
Wahlweise
PHI 415 Ausgewählte Probleme (Probleme von interdisziplinärer Art)
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«
PHI416 »Long Essay« (über einen Philosophen, eine philosophische Schule oder ein philosophisches Problem)
Obligatorisch für alle »single and combined honours students«

Dieses Programm ist wesentlich umfangreicher und differenzierter als alle anderen Programme, die ich bisher kennen gelernt habe (in Nairobi, Legon-Accra und Cotonou). Afrikanische Philosophie ist hier im Programm stärker vertreten und fester verankert. Dabei ist bemerkenswert, dass die verschiedenen Kurse nicht immer von denselben Dozenten gegeben werden, sondern in einem gewissen Wechsel. Jeder Dozent kann im Prinzip die Kurse über Afrikanische Philosophie geben. Es ist nicht verwunderlich, dass nicht alle Kurse in jedem Jahr gegeben werden.

Wie an der Universität von Nairobi (s. Notiz I und III) gibt es eine studentische Philosophie-Vescinigung: »The Nigerian Association of Philosophy Students« (NAPS), die eine eigene Zeitschrift herausgibt: Reflection, gelegentliche Vorlesungen organisiert und jährlich eine philosophische Woche veranstaltet. »Von allen Studenten des >Department< wird erwartet, dass sie aktiv an den Veranstaltungen der >Association< teilnehmen«, heißt es in dem Informationsblatt für Studenten.

Das erste Semester des Studienjahres, das laut Plan Ende Oktober 1989 beginnen sollte, fängt tatsächlich mit drei Monaten Verspätung am 22. Januar 1990 an. Damit verschiebt sich der gesamte Zeitplan für beide Semester. Das Studienjahr wird also erst Anfang Oktober zu Ende sein, was wiederum Folgen hat für den Anfang des nächsten Studienjahres.

 

Poesie VI Aus »Sechzehn große Gedichte aus Ifa«

Ifa (bei der Schreibung der Yoruba-Namen lasse ich alle Akzente und diakritischen Zeichen weg) ist eine der wichtigeren (»höhe-xen«) der 201 oder 401 Götter der Yoruba (die Zählungen schwanken). Ifa ist zugleich ein literarisches und philosophisches Werk, das von den Ifa-Priestern mündlich tradiert wurde und das 256 Odu (Kapitel oder Textgruppen) umfaßt. Die Wiedergabe des fünften der Sixteen great poems of Ifa, die W. Abimbola herausgegeben hat (UNESCO-Veröffentlichung, ohne Ort 1975), kann zeigen, auf welche Weise in traditionellen Mythen philosophische Gehalte enthalten sind. Dazu ist es nötig, die Feinheiten des Textes zu beachten.

V. Ori als persönlicher Orisa jedes einzelnen Individuums

Ori ist ein Schutzgott oder Schutzgeist. Orisa ist das allgemeine Wort für Gott in Yoruba. Die Orisa vermitteln zwischen Olodu-mare (dem höchsten Gott) und den Menschen. Ori vermittelt wiederum zwischen den übrigen Orisa und den Menschen. Es folgen jetzt einige Auszüge aus der Einleitung des Herausgebers, eine deutsche Übersetzung der englischen Fassung des Gedichts Nr. V und die Fußnoten des Herausgebers (a.a.O., S. 158-177):

»Das folgende Gedicht enthält einen Mythos darüber, wie Orunmila (einer der zweithöchsten Götter) den übrigen Orisa bewies, dass in bezug auf Sorge und Ergebenheit für die Menschen Ori der wichtigste ist von ihnen allen ... Deshalb ist es Ori allein, der Segnungen schneller und zuverlässiger zu den Menschen bringen kann als alle anderen Orisa.

Orunmila sagt, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den   
 Eingang betritt.[272]
Ifa stellte die Frage:  
»Wer von euch Göttern könnte seinem Verehrer folgen
bis zu einer langen Reise über die Meere?«[273]
Sango[274]antwortete, dass er seinem Verehrer folgen könne    
bis zu einer langen Reise über die Meere.
Ihm wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
    Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Nach Koso[275]gelangst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie gbegiri[276]Suppe zubereiten,
Und sie bereiten Yams-Mehl-Pudding[277] zu.
Wenn sie dir bittere Kola anbieten
Und einen Hahn[278]
Sango antwortete: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich nach Hause zurückkehren.«
Sango wurde mitgeteilt, dass er seinem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.

Orunmila sagte, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von euch Göttern könnte seinem Vereluer folgen
bis zu einer langen Reise über die Meere?«
Oya[279] antwortete, dass sie ihrem Verehrer folgen könne
bis zu einer langen Reise über die Meere.
Ihr wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
    Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Zur Stadt Ira[280]gelangst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie ein großes Tier schlachten,
Und sie bieten dir einen großen Topf egbo[281]   an?
Oya antwortete und sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich nach Hause zurückkehren.«
Oya wurde mitgeteilt, dass sie ihrem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.

Orunmila sagte, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
 Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von euch Göttern könnte seinem Verehrer folgen  
bis zu einer langen Reise über die Meere?«
Oosaala[282] antwortete, dass er seinem Verehrer folgen könne  
bis zu einer langen Reise über die Meere.
Ihm wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
    Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Zur Stadt Ifon[283]gelangst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie für dich ein großes Huhn schlachten, schwanger mit Eiern.
Wenn sie dir zweihundert Schnecken anbieten
Mit Gemüse der Saison und Melonensuppe[284]
Oosaala antwortete und sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich nach Hause zurückkehren.«
Oosaala wurde mitgeteilt, dass er seinem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.

Orunmila sagte, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von euch Göttern könnte seinem Vereluer folgen bis zu
einer langen Reise über die Meere?«
Elegbara[285] antwortete, dass er seinem Verehrer folgen könne bis zu einer langen
Reise über die Meere.
Ihm wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Zur Stadt Ketu[286]gelangst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie dir einen Hahn anbieten
Und eine Menge Palmöl[287]? »
Elegbara antwortete und sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich nach Hause zurückkehren.«
Elegbara wurde mitgeteilt, dass er seinem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.
Orunmila sagte, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von euch Göttern kann seinem Verehrer folgen bis zu
einer langen Reise über die Meere?«
Ogun[288]antwortete, dass er seinem Verehrer folgen könne bis zu einer langen Reise
über die Meere.
Ihm wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
    Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Nach Ire[289] kommst,
Der heimat deiner Väter?
Wenn sie dir Bohnen anbieten,
Und sie schlachten einen Hund für dich
Zusammen mit inem Huhn.
Wenn sie dir Guinea-Korn-Bier und Palmwein[290] anbieten?«
Ogun antwortete und sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich laut Ijala[291]singen und fröhlich
Zurückkehren nach Hause.«
Ogun wurde mitgeteilt, dass er seinem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer langen
Reise über die Meere.
Orunmila sagte, dass man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von euch Göttern könnte seinem Verehrer folgen bis zu
einer langen Reise über die Meere?«
Osun[292]antwortete, dass sie ihrem Verehrer folgen könne bis zu einer langen Reise
über die Meere.
Ihr wurde die Fragegestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Nach Ijumu[293] kommst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie dir eine Menge Korn-Stärke-Pudding geben
Zusammen mit yaurin-Gemüse[294] und Maisbier[295]
Osun antwortete und sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich auf kleinen Messingstücken nach Hause zurückreiten.«
Osun wurde mitgeteilt, daß sie ihrem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.
Orunmila sagt, daß man sich immer niederbeugt, wenn man die Hütte durch den
Eingang betritt.
Ifa stellte die Frage: »Wer von Euch Göttern könnte seinem Verehrer folgen bis
zu einer langen Reise über die Meere?«
Orunmila sagte, daß er seinem Verehrer folgen könne bis zu einer langen Reise
über die Meere.
Ihm wurde die Frage gestellt: »Was wirst du tun, wenn du, nachdem du eine weite
Strecke gereist bist,
Wandernd und wandernd,
Zum Igeti Berg[296] kommst,
Der Heimat deiner Väter?
Wenn sie dir schnell-laufende Ratten anbieten
Zwei Fische, die anmutig schwimmen,
Zwei Hühner mit großen Lebern,
Zwei schwere Ziegen mit Jungen im Bauch,
Zwei Kühe mit fetten Hörnern?
Wenn sie gestampften Yams zubereiten
Und Yams-Mehl-Pudding zubereiten.
Wenn du gut gebrautes Guinea-Korn-Bier nimmst,
Und du nimmst Alligator-Pfeffer,
Und gute Kolanüsse?«
Orunmila sagte: »Nachdem ich genug gegessen habe,
Werde ich nach Hause zurückkehren.«
Orunmila wurde mitgeteilt, dass er seinem Verehrer nicht folgen könne bis zu einer
langen Reise über die Meere.
Der Ifa-Priester war mit Stummheit geschlagen.
Er konnte kein Wort sagen,
Weil er das Gleichnis nicht verstand.
»Orunmila, ich gestehe meine Hilflosigkeit, Bitte, bekleide mich mit Weisheit,
Mapo in der Stadt Elere[297],
Mokum der Stadt Otans[298],
Mesin der Stadt Ilawes[299],
Mapo in der Stadt Elejelus[300].
Gbolajokoo[301],Nachkomme der Stoßzähne,
Die den Elefanten zum Trompeten bringen.
Orunmila, du bist der Führer,
Ich bin dein Nachfolger.
Du bist der Weise, der einen weise Dinge lehrt wie sein Verhältnis (zu dir).«
Ifa, die Frage ist: »Wer von den Göttern kann seinem Verehrer folgen bis zu einer
langen Reise über die Meere?«
Ifa sagte: »Ori ist es,
Ori allein ist es,
Der seinem Verehrer folgen kann bis zu einer langen Reise über die Meere.«
Orunmila sagte: »Wenn ein Ifa-Priester stirbt,
Dürfen die Leute fragen, daß seine Beschwörungs-Instrumente in den Graben
geworfen werden.[302]
Wenn ein Verehrer Sangos stirbt,
Dürfen die Leute sagen, daß seine Sango-Instrumente weggeworfen werden.
Wenn ein Verehrer Oosaalas stirbt,
Dürfen die Leute fragen, dass seine Devotionalien mit ihm begraben werden.«
Orunmila fragte: »Jemals seit Menschen gestorben sind,
Wessen Kopf ist jemals von seinem Körper vor dem
Begräbnis abgetrennt?«
Ifa sagte: »Ori ist es,
Ori allein ist es,
Der seinem Verehrer folgen kann bis zu einer langen Reise über die Meere, ohne
sich umzudrehen.«
Wenn ich Geld habe,
Ist es Ori, den ich preisen werde.
Mein Ori, du bist es.
Wenn ich Kinder habe auf Erden,
Ist es Ori, den ich preisen werde.
Mein Ori, du bist es.
(Für) alle guten Dinge, die ich habe auf Erden,
Ist es Ori, dem ich meinen Lobpreis geben werde.
Mein Ori, du bist es.
Ori, ich grüße dich.
Du, der sich immer seiner Verehrer erinnert.
Du, der seinem Verehrer schneller Segnungen gibt als andere Götter.
Kein Gott segnet einen Menschen
Ohne die Zustimmung seines Ori.
Ori, ich grüße dich.
Du, der Kindern erlaubt, lebend geboren zu werden.
Eine Person, deren Opfer von ihrem eigenen Ori angenommen wird,
Sollte über die Maßen erfreut sein.»

 

Abschließende Überlegung Der historische Ort einer interkulturellen Philosophie

Es war Hegel, der damit begonnen hat, die europäische Philosophie als eine endliche Größe zu begreifen, die irgendwo ihren Anfang hat und irgendwo endet. Ihren Anfang hat sie bei Thales, Parmenides oder Plato. Nach Hegel endet sie bei ihm selbst. Die Gesamtheit der europäischen Philosophie endet und fasst sich zusammen in Hegels eigener Philosophie. Dieser Gedanke mutet ebenso sehr vermessen an, wie er zutreffend ist. Selbstverständlich ist dies eine Fiktion: die europäische Philosophie von Parmenides bis Hegel. Aber es ist eine noch immer sehr wirksame Fiktion. Es wird eine Linie gezogen durch eine Vielfalt von Philosophien, die als die herrschende gilt. Diese Linie wird auch von denen anerkannt, die sie nicht bei Hegel enden lassen, sondern weiter durchziehen bis zu Habermas, Rorty, Putnam oder Lyotard. Was Hegel signalisiert, ist nicht der Endpunkt der europäischen Philosophie, sondern der Beginn ihrer Endphase, die sich bis in die aktuellsten Diskussionen ausdehnt.

Daneben gibt es Versuche, die Gesamtheit dieser Geschichte der Philosophie hinter sich zu lassen, die damit gegebenen Begrenzungen zu durchbrechen, ein anderes Denken möglich zu machen. Nietzsche und Heidegger, aber auch Adorno, Derrida und andere arbeiten an diesem Problem. Der christliche Platonismus, wie Nietzsche sagt, die Metaphysik, wie Heidegger und Derrida sagen, oder das Identitäts- bzw. Ursprungsdenken, wie es von Adorno bezeichnet wird, soll überwunden, destruiert oder dekonstruiert werden. Die übereinstimmende Kennzeichnung für den Zusammenhang der europäischen Philosophie liegt darin, dass in ihren Systemen ein hierarchisches Denken zum Ausdruck kommt. Auch die Ideologie des Leidens im »christlichen Platonismus« dient nach Nietzsche dazu, die Herrschaft der Priester zu festigen.

Was vergessen ist in der Geschichte der Metaphysik, ist die Differenz. Das Andere ist in ihr das Andere seiner selbst, wie Hegel es ausdrückt. Das Andere in seinem Anderssein wird nicht gedacht. Das Besondere verschwindet im Allgemeinen. Die Annahme eines Ursprungs, aus dem alles hervorgeht, oder eines obersten Prinzpis, aus dem alles abgeleitet wird, hält indessen nicht mehr stand. Auch der Anfang oder das allgemeinste denkbare Ordnungsprinzip sind noch in sich differenziert. Auf diese Weise bleibt Raum für Anderes bzw. Besonderes, das nicht im System unterzubringen ist. Das Denken der Differenz in diesem Sinne steht selbst noch am Anfang. Die Möglichkeiten und Formen dieses Denkens sind noch nicht erarbeitet. Nach Adorno sind »die Kategorien der Kritik am System zugleich die, welche das Besondere begreifen.«[303] Derridas Unternehmen der Dekonstruktion zielt in dieselbe Richtung: die Arbeit des Destruierens der Metaphysik ist zugleich das Konstruieren eines anderen Denkens.

Mit dem Hinausgelangen aus dem Systemdenken wie anfänglich auch immer entsteht eine Offenheit für das Andere und Besondere. Derrida hat seiner Arbeit an der Dekonstruktion der Metaphysik ausdrücklich die Dimension einer Kritik des europäischen Ethnozentrismus gegeben.[304] Dies kann in doppelter Weise zur interkulturellen Philosophie führen. Einerseits werden andere Kulturen in ihrer Andersheit erfahrbar und erfassbar. Das heißt, sie werden nicht zur eigenen Kultur in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt als weniger entwickelt oder tiefer stehend auf der Stufenleiter der Evolution. Sie sind, was sie sind, als lebensfähige Gemeinschaften von Menschen im Zusammendasein mit der Natur. Alle heute bestehenden Kulturen sind, so gesehen, gleich alt. Sie haben sich vom Anfang der Menschheitsgeschichte bis heute im Sein erhalten.

Was heute in der westlichen Kultur geschieht, lässt es als fraglich erscheinen, dass sie ihren Fortbestand für lange Zeit sichern kann. Die Gegenseite der wunderbaren Erfolge auf den Gebieten der Wissenschaft und Technologie sind die Risiken einer atomaren Katastrophe, die Erschöpfung der Energievorräte und alle anderen Formen ökologischen Fehlverhaltens. Sie zeigen an, dass die dauerhafte weitere Existenz dieser Kultur nicht selbstverständlich ist. Das macht es schwer verständlich, warum die in diesem Punkt den anderen unterlegene Kultur auf sie eine so überwältigende Faszination ausübt, sie fast völlig in ihren Bann schlägt.

Andererseits enthält die Offenheit für andere Kulturen die Aussicht, dass sich im Anderen Ansatzpunkte finden, welche die Risiken der europäischen Kultur vermindern helfen. Die Umwendung des Denkens, die in einem nicht länger hierarchisch gedachten Verhältnis zu anderen Kulturen zum Ausdruck kommt, kann von ihnen aus unterstützt werden. Dazu ist es freilich notwendig, dass diese Kulturen den Bann der beinahe unbedingten Nachahmung der westlichen Kultur durchbrechen, ihr Eigenes in selbstkritischer Weise festhalten und in eine Verschmelzung mit der europäischen Kultur einbringen. Dass dies wünschenswert ist, dass es die Überlebenschancen der westlichen Kultur erhöhen kann, die sich zur Weltkultur auszuweiten im Begriffe ist, scheint mir deutlich zu sein. Wie es geschehen kann, ist bis heute nicht sichtbar geworden. Aber es kann, was Afrika betrifft, allein von denen erwartet werden, die zu den traditionellen Werten eine kritisch-bewahrende Haltung einnehmen. Das kritische Bewahren allein bedeutet indessen noch nichts. Erst wenn es gelingt, das für unsere Zeit Wesentliche dieser Werte in den Funktionszusammenhang der entstehenden Weltkultur einzubringen, kann es seine Potenzen geltend machen.

Indem sich die westliche Kultur über die gesamte Erde ausbreitet, begründet sie einen Hegemonie-Anspruch, der auf ökonomischer, technologischer und zivilisatorischer Überlegenheit beruht. Das Miteinander von politischer Unabhängigkeit und bleibender Abhängigkeit auf den genannten Gebieten bedingt das Phänomen des Neokolonialismus. Wie wir gezeigt haben (s. Philosophische Probleme XIV), kann die interkulturelle Philosophie, die auf der Ebene völliger Gleichwertigkeit einen Dialog zwischen westlichen und nicht-westlichen Ländern zu führen sucht, eine Gegeninstanz zum Neokolonialismus aufbauen. Dazu ist es notwendig, dass sich die westliche Philosophie zugleich als gebend und als empfangend versteht. Das letztere bildet ein Korrelat zur Gefährdung der westlichen Kultur, die sie wie es scheint aus sich selbst nicht abwenden oder in erträglichen Grenzen halten kann.

Es geht hier nicht darum, eine Hoffnung zu schüren, von der wir nicht wissen, ob sie begründet ist. Es geht ganz einfach darum, sich einer Aufgabe des Denkens zu stellen, die innerhalb der Kommunikation der Denkenden sichtbar geworden ist. Es ist der alte Stachel, der zum Philosophieren reizt. Sokrates gebrauchte das Bild der Stechfliege. Waldenfels spricht, ohne Afrika zu erwähnen, vom »Stachel des Fremden«, das zugleich draußen und drinnen ist und sich dadurch »gegen jede Eingemeindung wehrt«.[305] Das Buch von Waldenfels, das ich nach dem Abschluss dieses Textes einsehe, gibt mir Gelegenheit, zum Prinzip des Dialogs, das darin eine wichtige Rolle spielt, eine Präzisierung anzubringen. Waldenfels betont mit Recht, dass das Ziel nicht ein »all umgreifender Dialog« sein kann. Was bleibt, ist nach seinen Worten »eine Inter- und Transdiskursivität, die dazu führt, dass die Grenzen der Diskurse sich verschieben, sich aber nicht endlos hinausschieben lassen«.[306] Damit ist das Prinzip des Dialogs in doppelter Weise eingeschränkt. Er wird zwischen konkret anzugebenden Partnern mit ihrer jeweiligen kulturellen Bestimmtheit geführt. Und er ist nicht das einzige oder erschöpfende Medium der Interaktion. Persönlich gefühlsmäßige, atmosphärische und ästhetische Dimensionen sind ebenso sehr mit im Spiel wie von außen kommende Machtverhältnisse und ihre Verschiebungen. Die Verschiedenheit der Stile in diesem Text sucht diese Bereiche im Diskurs geltend zu machen. Auf diese Weise bleibt wahr in der hiermit präzisierten Bedeutung des Wortes , was am Anfang, im Vorwort, gesagt worden ist, dass eine interkulturelle Philosophie, wenn es sie gibt, »dialogisch« zu sein hat.

 

Literaturverzeichnis Zitierte und erwähnte Bücher und Aufsätze

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Fussnoten

[1] A.K. Armah, The beautiful ones are not yet born. London/Ibadan/Nairobi 19753, S. 85.
[2] Ch. Neugebauer, Einführung in die afrikanische Philosophie. München/Kinshasa/Libreville 1989.
[3] A. Diemer (ed.), Philosophy in the present situation of Africa. Wiesbaden 1981.
[4] A. Diemer & P.J. Hountondji (eds.), Africa and the problem of its identity. Frankfurt   a.M. 1985.
[5] M. Wahba (ed.), Philosophy and civilization. Proceedings from the first Afro-Asian philosophical   conference. Cairo 1978; H.O. Oruka k D.A. Masolo (eds.), Philosophy and cultures. Proceedings from the second Afro-Asian philosophical conference. Nairobi 1983.
[6]     J.M. Nyasani (ed), Philosophical Focus on Culture and Traditional Thought Systems in Development. Nairobi 1994.
[7]     H. Kimmerle (ed.), I, We and Body. First joint conference of philosophers from Africa and from the Netherlands. Amsterdam 1989.
[8]     In: Annual Revue of Psychology, 1989, Jg. 40, S. 493-531.
[9]     R. Finnegan, Oral literature in Africa. Oxford 1970; dies., Oral poetry. Its nature,  
    significance and social context. Cambridge 1977.
[10]      M. Schipper, Afrikaanse letterkunde. Utrecht/Antwerpen 1983.
[11] T. Ntumba, »Die Philosophie in der aktuellen Situation Afrikas«, in: Zeitschrift  für philosophische Forschung, Bd. 33, 1979, S. 428-443.
[12] A.J. Smet, Philosophie africaine. Textes choisis. Kinshasa 1975.
[13]   R.W. Wright (ed.), African philosophy. An introduction. Washington19843.
[14]       G. Floistad (ed.), Contemporary philosophy. A new survey. Bd. 5: African philosophy. Dordrecht/Boston/Lancaster 19S7. Darin L. Outlaw's Artikel über »African >Philosophy<«, S. 9-44,
[15]       V.Y. Mudimbe, The invention of Africa. Gnosis, philosophy, and the order of knowledge. Bloomington/Indianapolis 1988, S. IX f; zum folgenden S. 5-16.
[16]       R. Corbey, »Alterity. The colonial nude. Photographic essay«, in: Critique of Anthropology, Bd. VIII, Nr. 3, . 75-92.; ders., Wildheid en beschaving. De Europese verbeelding van Afrika. Baarn 1989.
[17] R. Nnamdi, Afrikanisches Denken. Sein Selbstverständnis und das Pro-blem seiner Bezogenheit zum Europäischen Denken. Frankfurt a.M. 1987.
[18] E.A. Ruch/K.C. Anyanwu, African philosophy. Rom 1981.
[19] Nnamdi (1987), S. 129.
[20]   Ebenda S. 123, vgl. 112.
[21]   Ebenda S. 142.
[22]       Ch. Neugebauer, Einfiührung in die afrikanische Philosophie. München/Kinshasa/ Libreville 1989.
[23] Ebenda S. 8.
[24] J. Derrida (Hrsg.), Für Nelson Mandela. Reinbek bei Hamburg 1987.
[25] W.O. Atta, Ghana A nation in crisis. Academy of Arts and Social Sciences, Accra 1988.
[26]P.J. Hountondji (ed.), Bilan de la recherche philosophique africaine. Répertoire alphabétique (französisch und englisch), Teil I: 1900-1985, 2 Bände, Cotonou [1987 und 1988]. R.W. Wright (ed.), African Philosophy. An introduction. Washington 19843, mit ausführlichem bibliographischem Anhang.
[27] R. Horton, »Traditional thought and the emerging African Philosophy Department«, in: Second Order, Bd. IV, 1977, S. 64-80.
[28] L. Apostel, African philosophy. Myth or reality? Gent 1981.
[29]   P.J. Hountondji, African philosophy. Myth and reality. London 1983. Die französischsprachige Originalausgabe von Hountondjis Buch erschien 1977 in Paris mit dem Titel: Sur la »philosophie africaine«. Critique de l'ethnophilosophie. Er reagiert auf die Frage: Mythos oder Realität? (S. 47 der englischen Übersetzung), ohne sich auf Apostels Text beziehen zu können.
[30]  H. Maurier aus Brüssel, der lange als Missionar in Afrika gearbeitet hat, folgt Horton in gewisser Weise, wenn auch weniger prononciert, wenn er in seinem Artikel: »Do we have an African philosophy?«, in: R.W. Wright, African philosophy (1984), S. 1-17, diese Frage dahingehend beantwortet, daß dies nicht, jedenfalls noch nicht der Fall sei.
[31]     K. Wiredu, Philosophy and African culture. Cambridge 1980, S. IX.
[32]   P. Bodunrin, »Which kind of philosophy for Africa?«, in: A. Diemer (ed.), Philosophy in the present situation of Africa. Wiesbaden 1981, S. 8-22 und »The question of African philosophy«, in: Philosophy, Bd. 56, 1981, S. 163.
[33] A.S. Oseghare, The relevance of sagacious reasoning in African philosophy. Phil. diss., Nairobi 1985, S. 2, 5-7, 15, 69, u.ö.
[34] K. Gyekye, An essay on African phiiosophical thought. Cambridge 1987, S. 3-12.
[35] Oseghare (1985), S. 52.
[36] Wiredu (1980), S. 31-35.
[37] J.C. Thomas in dem einleitenden Kapitel zu C.A. Ackah, Akan ethics. Accra 1988, S. 7. Thomas bezieht sich auf J.B. Danquah, The Akan doctrine of God. London 19682.
[38] Wiredu (1980), S. 143 f.
[39] Ebenda S. 32.
[40] Dies wird in Philosophische Probleme V näher ausgearbeitet.
[41] A. Ndaw, La pensée africaine. Dakar 1983, S. 41.
[42] J.I. Unah, »Disguised denials of African philosophy«, in: Journal of African Philosophy and Studies, Bd. l, 1988, S. 50. Hountondjis Position ist seitdem modifiziert worden (s. Philosophische Probleme XV).
[43] C.S. Momoh, »African Philosophy Does it exist?«, in: Diogenes, Nr. 130, 1985, S. 74.
[44] G. Blocker, »African Philosophy«, in: African Philosophical Inquiry, Bd. 1, 1987, S. 6.
[45] H. Odera Oruka, »Four trends in current African philosophy«, in: A. Diemer (ed.), Philosophy in the present situation of Africa. Wiesbaden 1981, S. 1-7.
[46] Erschienen in Wien 1988, S. 35 f.
[47]   D.A. Masolo, History of »African philosophy«. A critical assessment of the development of philosophical discussion in Africa. Phil. diss., Rom 1980.
[48] P. Tempels, Philosophie der Bantu. Heidelberg 1956 (Flämische Originalausgabe Antwerpen 1946).
[49] M. Towa, »Die Aktualität der afrikanischen Philosophie«, in: F.M. Wimmer (1988), S. 57.
[50] Als Beispiel kann das Wort Bantu selbst dienen. »Muntu« heißt in vielen Bantu-Sprachen »Mensch«. Der Stamm ist »ntu«, das Klassenpräfix »Mu«. Die »Mu«-Klasse bildet den Plural durch das Präfix »Ba«. Ba-ntu bedeutet also »Menschen«. Im Kisuahili, der verbreitetsten Bantu- Sprache, da sie als Handelssprache in weiten Gebieten Ost- und Zentralafrikas gedient hat, heißt »Mensch«: »M-tu«, Mehrzahl: »Wa-tu«. Die Verbin-dung mit dem Adjektiv »-zuri« (gut) ergibt: »Mtu mzuri« für »ein guter Mensch«, »Watu wazuri« für »gute Menschen«.
[51] A. Kagame, Sprache und Sein. Brazzaville/Heidelberg 1985, S. 106 f.
[52] J.S. Mbiti, African religions and philosophy. London 1969. Auf Mbitis Werk werde ich weiter unten (Philosophische Probleme VII: >Gott und die Geister«) näher eingehen. J. Jahn, Muntu. Umrisse der neoafrikani-schen Kultur. Köln 1958. Jahn versucht eine Synthese aus Tempels' und Kagames Werk, bei der aber die inneren Spannungen zwischen beiden übersehen werden.
[53] P.J. Hountondji, African philosophy. Myth and Reality. London 1983, S. 27, 51, 96 f.
[54] L.S. Senghor, Liberté I: Négritude et humanisme. Paris 1964; ders., Liberté II: Nation et voie africaine du socialisme. Paris 1971
[55] L. Lévy-Bruhl, La mentalité primitive. Paris 196015; E.B. Tylor, Primitive culture. New York 1974 (Nachdruck von 1876); ders., The origins of culture, hrsg. von P. Radin, New York 1958.
[56] J.P. Sartre, »Orphée noir«. Einleitung in L.S. Senghor, Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française. Paris 1972.
[57]A.L. Locke, »Pluralism and ideological peace«, in: M. Konvitz/S. Hook (eds.), Freedom and experience. New York 1947, S. 63-69.
[58] F. Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Reinbek bei Hamburg 1969.
[59]Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt 1985; M. Towa, Essai sur la problématique philosophique dans l'Afrique actuelle. Yaoundé 1971.
[60] J. Kenyatta, Facing Mount Kenya. New York 19652; K. Nkrumah, Consciencism. Philosophy and ideology for decolonisation and development with particular reference to African revolution. London 1964; K. Kaunda, A humanist in Africa. London 1966; J. Nyerere, Ujamaa. Essays on Socialism. Dar es Salaam 1968.
[61] H.S. Meebelo, Main currents of Zambian humanist thought (Lusaka 1973) verzichtet ausdrücklich darauf, die Theorie Kaundas, die dieser als »eine Philosophie des Volkes selbst« versteht, mit der Wirklichkeit zu vergleichen, weil dies zu schwierigen Problemen führt (s. S. XIII f.).
[62]Versuche, die unerwarteten Entwicklungen zu deuten, finden sich in Nkrumah, The struggle continues. London 1973; und Nyerere, Freedom and socialism. Dar es Salaam 1968. In der fünften, revidierten Ausgabe von »Consciencism« (London 1970) drückt Nkrumah bereits seine Über-zeugung aus, daß die afrikanische Revolution Teil des Klassenkampfes auf intemationaler Ebene ist.
[63] K. Wiredu, Philosophy and an African culture. Cambridge 1980, S. 59 und 62.
[64] Ebenda S. 1-25; vgl. J. Middletoq/D. Tait (eds.), Tribes without rulers. London 1958.
[65] Odera Oruka, »Sagacity in African philosophy«, in: International Philo-sophical Quarterly, Bd. XXIII, 1983, S. 391 f.
[66] K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. Cambridge 1987.
[67] Wimmer (1988), S. 35.
[68] Kagame (1985), S. 55-57..
[69] Gyekye (1987), S. 17.
[70] G. Blocker, »African philosophy«, in: African Philosophical Inquiry, vol. 1, 1987, S. 7.
[71] Second Order. An African Journal of Philosophy. Ife (Nigeria); Thought and Practice. Journal of the Philosophical Association of Kenya. Nairobi (Kenya); Universitas. An Inter-Faculty Journal. Legon (Ghana); Uche. Journal of the Department of Philosophy, University of Nigeria. Nsukka (Nigeria); African Philosophical Inquiry. Ibadan (Nigeria); Quest. Philo-sophical Discussions. An Intemational Journal of Philosophy. Un journal international philosophique Akicain. Lusaka (Sambia); Journal of African Philosophy and Studies. Lagos (Nigeria); Journal of Humanities. Zomba (Malawi); Imodoye. Journal of African Philosophy. Lagos (Nigeria)
[72] Erschienen als Band 20 der Äthiopistischen Forschungen des Franz Steiner Verlags in Wiesbaden/Stuttgart 1986.
[73] Ebenda S. 22 f.
[74] Ebenda S. 15 f.
[75] Ebenda S. 17 und 27.
76] Ebenda S. 25-44.
[77] H. Kimmerle, »Was heißt >Philosophie der Differenz<?«, in: Derrida zur       Einführung. Hamburg 1988 (20005), S. 7 f.
[78] G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Lasson, Hamburg
19666, Bd. 2, S. 58.
[79]   H. Odera Oruka, »Sagacity in African philosophy«, in: International Philosophical Quarterly. Bd. XXIII 1983, S. 391 f.
[80] K. Wiredu, Philosophy and an African culture. Cambridge 1980, S. 40 Anm.
[81] M. Schipper, Afrikaanse letterkunde. Utrecht/Antwerpen 1983, S. 107-109.
[82]     P.J. Hountondji, African philosophy. Myth and reality. London 1983, S. 55.
[83]     O. Yai, »Theory and practice in African philosophy. The poverty of speculative philosophy«, in: Second Order. Bd. VI, Nr. 2, 1977, S. 7; R. Finnegan, Oral literature in Afrrica. Oxford 1970.
  [84]    J. Derrida, Grammatologie. Frankfurt a.M. 1974.
[85] C. Lévi-Strauss, Tristes tropiques. Paris 1955.
[86] R.H. Bell, »Narrative in African philosophy«, in: Philosophy, Bd. 64,1989, S. 363-379.
[87]   K. Wiredu, Philosophy and an African culture. Cambridge 1980, S. 99-232.
[88] Die Diskussion zwischen Wiredu und Odera Oruka, die hier zur Erörte-rung steht, bildet nur einen Teil der Diskussionen, die durch Wiredus Konzeption ausgelöst worden sind. Auf der Internationalen Konferenz über afrikanische Philosophie im Jahre 1981 in Ibadan (Nigeria) ist eben-falls hierüber diskutiert worden. Wiredus Diskussionspartner waren: G. Blocker und J.T. Bedu-Addo (s. P.O. Bodunrin (ed.), Philosophy in Africa. Trends and perspectives. Ile-Ife 1985, S. 43-102). A.G.A. Bello hat seine Doktorarbeit (»PhD-thesis«) über Wiredus Wahrheitskonzep-tion geschrieben: Truth and fact. An objectivist's reply to Wiredu's anti-objectivism. Diss.phil., Ibadan 1985. Derselbe Autor hat auch in Aufsät-zen gegen Wiredus Konzeption argumentiert. Es ist nicht das Ziel dieses Abschnitts, die Gesamtheit dieser Diskussionen, die noch nicht beendet sind, zu dokumentieren und zu analysieren.
[89] Wiredu (1980), S. 113-115.
[90] Ebenda S. 115 und 174-188.
[91] Ebenda S. 211.
[92] Ebenda S. 115, 186.
[93] Ebenda S. 176 f.
[94] J. Derrida, Sporen. Nietzsches Stile, Venedig 1976. In diesem Buch stelltDerrida eine Reihe von Texten Nietzsches zusammen, die dies belegen.
[95] M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Frankfurt a.M. 1929.
[96] Wiredu (1980), S. 177.
[97] Odera Oruka, »For the sake of truth«, in: Quest, Bd. IV, 1989, S. 11 f.und 15 f.
[98] Th.S. Kuhn, The structure of scientific revolutions. Chicago 19702.
[99] Wiredu (1980), S. 21.
[100] Als Formel geschrieben, sieht das so aus:
Kritische Metaphysik + X à anderes Denken
X = z.B. vorsokratische Philosophie, traditionelle afrikanische Weisheitslehren
[101] Soyinka, Idanre and other poems. London 1967, S. 13.
[102] »Luo«. dicht bevölkertes Gebiet des Luo-Stammes in West-Kenia.
[103]»Kometenschweife«, wie sie von Flugzeugen in einer bestimmten Höhe erzeugt werden?
[104] »Bluthorizonte« bezieht sich wohl auf häufige Auto-Unfälle auf den Straßen. Denn das Gedicht gehört zu einer Gruppe mit dem Titel »Of the road« (»Von der StraBe«), S. 8-15.
[105] »Federb0sche«, wie sie von Luo-Männern traditionellerweise auf dem Kopf getragen werden?
[106] »Welten«, die sich modernisierende, europäisierende Welt und das traditionelle Afrika?
[107] »Ihren« und im folgenden »ihr« und »sie« sind die Übersetzung von »her« und »she«. Auf welches wei
[108] K. Wiredu, »How not to compare African traditional thought«, in: Philosophy and an African culture. Cambridge 1980, S. 37-50.
[109] H. Odera Oruka, »Sagacity in African philosophy«, in: International Philosophical Quarterly. Vol. XXIII, 1983, S. 383 f. Die Übersetzung ist nicht wörtlich, aber, wie ich hoffe, sachgemäß: folk philosophy Volksweisheit, sage philosophy philosophische Weisheit.
[110] A. Honneth, Kritik der Macht Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M. 1985.
[111] M. Griaule, Conversations with Ogotemmeli. An introduction into Dogon religious ideas. Introduced by G. Dieterlen, Oxford 1965; B. Hallen &J.O. Sodipo, Knowledge, belief and witchcraft. Analytic experiments in African philosophy. London 1986.
[112] Research Findings Department of Philosophy, University of Nairobi. Als Appendix zu dem erwähnten Artikel (Anm. 109) teilt er in 10 Punkten eine »Summary of Ideas« von Paul Mbuya über »Gott und Religion« mit, um dessen kritischen und selbständig begründeten Standpunkt zu untermauern. In dem Artikel »Grundlegende Fragen der Afrikanischen >Sage-philosophy«< in dem Buch von F. Wimmer (Hrsg.), Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien 1983, finden sich auf 4 Seiten »Auszüge aus Interviews mit ausgewählten Weisen«, die ebenfalls »Über Gott, Religion, Natur« handeln (S. 43-46).
[113] A.S. Oseghare (1985), S. 105-171. Im Herbst 1990 (nach dem Abschluß des hier vorliegenden Textes) erschien: H. Odera Oruka, Sage Philosophy. Indigenous thinkers and modern debate on African philosophy (Leiden/New York/Kopenhagen/Köln). Darin sind neben einführenden Texten des Herausgebers und einer umfangreichen Abteilung »The critics« 23 Seiten Texte von 7 »Folk sages« und 55 Seiten Texte von 6 »Philosophic sages« enthalten.
[114] J.S. Mbiti, African religions and philosophy. London 1969, S. 17.
[115] Philosophische Probleme VII: »Gott und die Geister«.     [116] Nach C.S. Momoh hat das Etikett »Traditionelles afrikanisches Denken« einen pejorativen Beiklang, den er vermeiden will. Deshalb spricht er von »antiker afrikanischer Philosophie« (»Ancient African Philosophy«), die er von den Perioden des »Übergangs« und der i Moderne« unterscheidet (»African philosophy Does it exist?«, in: Diogenes, Nr. 130, S. 73-104). Den pejorativen Beiklang möchten wir ausdrücklich ausschlieBen, indem wir die Begriffe »traditionell« und »modern« im Sinne der Max Weberschen Kulturtheorie gebrauchen, die ihnen eine strenge wissenschaftliche Bedeutung gibt (M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Ed. J. Winckelmann, Tübingen 19805, S. 130-140).
[117] J. Kariaga &E. Kitouga (eds.), An introduction to East African poetry. Nabobi 1976, S. 39-42.
[118] Gruß in der Luo-Sprache (Stamm im westlichen Kenia).
[119] Gruß im später (im Luo-Gebiet) eingeführten Kisuahili (jetzt neben Englisch offizielle Landessprache in Kenia und Tansania).
[120] K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. Cambridge 1987, S. 68 ff.
[121] Ebenda S. 75.
[122] E.G. Parrinder, African traditional religion. London 1962~, S. 13 und 15-20.
[123] J.S. Mbiti, Concepts of God in Africa. London 1970.
[124] J.M. Bahemuka, Our religious heritage. Edinburgh 1982; D. Barret (ed,), African initiatives in religion. Nairobi 1971.
[125] Ch. Achebe, Things fall apart London 1958.
[126] V.E.W. Heyward (ed.), African independent church movements. Edinburgh 1963, S. 7.
[127] J.S. Trimingham, The influence of Islam upon Africa. Beirut 1968, S. 3.
[128] Ebenda S. 35.
[129] Mbiti, African religions and philosophy. London 1969, S. 17 f.
[130] Ebenda S. 16; Mbiti, New Testament eschatology in an African background. London 1971.
[131] P.J. Hountondji, African philosophy. Myth and reality. London 1983.
[132] Gyekye (1987), S. 169-177, bes. 175; J. Ayoade, »Time in Yoruba thought«, in: R.W. Wright (ed.), African philosophy. Washington 19843, S. 71-90.
[133] Trimingham (1968), S. 53 f.
[134] M. Weber, »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, in: Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen 19735, S. 1-17.
[135] J.B. Danquah, The Akan doctrine of God. London 19682, p. 30-77.
[136] Gyekye (1987), S. 70-72.
[137] R. Horton, »African traditional thought and Westem science«, in: B.R.Wilson (ed.), Rationality. Oxford 1974, S. 143 f.
[138] O.T. Oladipo, An African conception of reality. A philosophical Analysis. Diss. phil, Ibadan 1988, S. 84 und 86.
[139] Ebenda S. 89.
[140] J.M. Nyasani, »An African metaphysical conception of the Absolute«, in: E. Schadel (Hrsg.), Actualitas omnium actuum. Frankfurt a.M. 1989, S. 83-87.
[141] K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. Cambridge 1987, S. 13 und 16.
[142] Ebenda S. 25.
[143] Ebenda S.17-19.
[144] Ebenda S. 26 f.; B. Russell: A history of Western philosophy. London 1961, S. 7.
[145] Ebenda S. 18 f. und 20.
[146] W.E Abraham, The mind of Africa Chicago 1962, S. 71-73.
[147] G.J. Wanjohi, The philosophy of Gikuyu proverbs and other sayings. With particular reference to ethics. MS, 8 S. (Vgl. seitdem das Buch von Wanjohi, The Wisdom and Philosophy of the Gikuyu Proverbs. The Kihooto World-view. Nairobi 1997.)
[148] Ebenda S. 4 f.
[149] Gyekye und Wanjohi benutzen Sprichwörtersammlungen des Twi, der Sprache der Akan, und der Gikuyu. J.G. Christaller, A collection of 3.600 Twi proverbs. Basel 1879; R.S. Rattray, Ashanti proverbs. Oxford 1916; G. Barra, 1.000 Gikuyu proverbs. London 1960; N. Njururi, Gikuyu proverbs. London 1969.(Wanjohi hat kürzlich philosophisch relevante Sprichwörter aus den verschiedenen Quellen »unter einem Dach« zusammen gebracht: Under one roof. Gikuyu proverbs consolidated. Nairobi 2001.)
[150] Gyekye (1987), S. 19.
[151] Ebenda S. 24-29.
[152] F.N. Agblemagnon, »Totalité et systèmes dans les société d'Afrique Noire«, in: Présence Africaine, Nr. 41, 1962, S. 13-22.
[153] Die Vorträge und Diskussionen des Dritten Seminars des International African Institute am University College von Rhodesien und Nyasaland von 1960 sind unter dem Titel »African systems of thought« (1965) veröffentlicht; Vorwort von M. Fortes und G. Dieterlen. (Vgl. ferner die Reihe Ch.S. Bird & I. Karp (eds), African Systems of Thought, die bei der Indiana University Press erscheint.)  
[154] J.C. Thomas in C.A. Ackah, Akan ethics. Accra 1988, S. 20.
[155] P.J. Hountondji, African philosophy. Myth and reality. London 1983, S. 71-84, besonders 71 und 74.
[156] J.S. Mbiti, African religions and philosophy. London 1969, S. 2.
[157]   J.C. Thomas in Ackah (1988), S. 21.
[158] Gyekye (1987), S. 17.     [159] L.S. Senghor, On african socialism. New York 1964, S. 93 f.
[160] K. Nkrumah, Consciencism. Philosophy and ideology for decolonisation and development with particular reference to African revolution. London 1964. In zwei Studien zur Philosophie Nkrumahs hat Hountondji gezeigt, daB diese Veränderung des Standpunkts aus den verschiedenen Auflagen von »Consciencism« abzulesen ist, insbesondere aus einem Vergleich der ersten und der fünften, revidierten Auflage (London 1970). P J. Hountondji, African philosophy. Myth and reality. London 1983, S. 131-140 und 141-155, besonders 143-145.
[161] Sekou Touré, »Le leader politique considéré comme le représentant d'une culture«, in: Présence Africaine, Nr. 24/25, 1959, S. 104-115, besonders 115.
    [162] J. Kenyatta, Facing Mount Kenya. New York 1965, S. 297.
[163] J.M. Nyasani, »The ontological significance of >I< and >We< in Afirican philosophy«, in: H. Kimmerle (ed.), I, We and Body. Amsterdam 1989, S. 13-23.
[164] V. Mulago, Un visage Africain du Christianisme. L'union vitale Bantu face àl'unité ecclésiale. Paris (Présence Africaine) 1965, S. 117.
[165] K. Gyekye, »Person and community in African thought«, in: H. Kimmerle (ed) (1989), S. 47-60.
[166] L.S. Senghor, On African socialism (1964), S. 94.
[167] H. Kimmerle, Entwurf einer Philosophie des Wir. Boxhum 1983.
[168] T. Ntumba, Langage et socialité. Primat de la »bisoité sur 1'intersubjectivité. Recherches Philosophiques Africaines, Vol. II, Kinshasa 1985, S. 83.
[169] Ebenda S. 70 f.; s. auch zum Folgenden. [170] R.S. Mabala (ed.), Summons. Poems from Tanzania. Dar es Salaam 1980, S. 68-70.
[171] »Ujamaa« ist Dorf im Sinne der politischen Lehre Nyereres, nach der afrikanisch-sozialistische Dörfer mit gemeinsamem Eigentum usw. als Basisproduktionseinheiten des ganzen Landes gegründet werden sollen (vgl. Philosophische Probleme II: »Geschichte« sowie IX: »Kommunalismus« und »Philosophie des Wir«).
[172] »Ugali« ist eine Art steifer Maisbrei und bildet in Ostafrika das Grundnahrungsmittel.
[173] »Karibu« ist ein Willkommensgruß.
[174] »Uhuru« ist Freiheit.
[175] »Mjamaa« ist ein Mitglied des Dorfes, das entsprechend der »Ujamaa«-
Theorie aufgebaut ist.
[176] »Wajamaa« ist die Mehrzahl von »Mjamaa«.
[177] J.B. Danquah, The Akan doctrine of God. London 19862, S. 150 f.
[178] Ebenda S. 153.
[179] W.E. Abraham, The mind of Africa. Chicago 1962, S. 55; K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. Cambridge 1987, S. 202
[180] A. Kagame, Sprache und Sein. Heidelberg 1976, S. 103-108
[181] J.S. Mbiti, African religions and philosophy. London 1971, S. 232.
[182] Gyekye (1987), 203. [183] B. Hallen/J.O. Sodipo, Knowledge, belief and witchcraft. Analytic experiments in African philosophy. London 1986.
[184] A.G.A. Bellos Rezension des Buches von Hallen/Sodipo ist erschienen in: Journal of African Philosophy and Studies, Bd. I, Nr. l und 2, 1988, S. 93-98. [185] A. Fadahunsi, »The logic of incantation«, in: Journal of African Philosophy and   Studies. Bd. I, Nr. l und 2, 1988, S. 39-47.
[186] In: R.W. Wilson (ed.), Rationality. Oxford 1973, S. 131-171; frühere ausführlichere Fassung in Africa, Bd. XXXVII, Nr. l und 2, S. 50-71 und 155-187.
[187] M. Fortes, The web of kinship among the Tallensi. London 1949.
[188] G. Sogolo, »On a socio-cultural conception of health and disease in Afrrica«, in: Africa, Bd. XLI, Nr. 3, 1986, S. 390-404.
[189] R. Horton, »Tradition and modernity revisited«, in: M. Hollis/St. Lukes (eds.), Rationality and relativism. Oxford 1982, S. 201-260. [190] C.A. Ackah, Akan ethics. Accra 1988; J.C. Thomas, »Method in the study of indigenous Akan morality«, in: Ackah, S. 1-22, s. besonders S. 21, Anm. 66.
[191] Die älteren Werke in diesem Zusammenhang sind folgende: E.B. Elis, The Tshi-speaking peoples of the Gold Coast of West Africa. London 1887 (Nachdruck Amsterdam 1966); R.S. Rattray, Ashanti. Oxford 1923; J.B. Danquah, The Akan doctrine of God. London 1944; K.A. Busia, The position of the chief in the modern political system of Ashanti. Oxford 1951; K.A. Opoku, West African traditional religion. Singapur 1978; K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. The Akan conceptual scheme. Cambridge 1987. Ferner zahlreiche Aufsätze der genannten und anderer Autoren.
[192] Danquah (1944), Abschnitt 3, S. 78-103.
[193] Thomas in: Ackah (1988), S. 7.
[194] Danquah (1944), S. 84.
[195] Gyekye (1987), S. 129-146.
[196] Ackah (1988), S. 25-37.
[197] Ch. Achebe, Things fall apart. London 1958.
[198] Ackah (1988), S. 62.
[199] E.E. Obeng, Ancient Ashanti chieftancy. Tema 1988, S. 12-15 und 39-48.
[200] E.K. Braffi, The esoteric significance of the Ashanti nation. Kumasi 1984, S. 31 f.
[201] E.E. Evans Pritchard, »Compte du temps chez les Nuer«, in: Africa, 12 (1939), S. 189-216.
[202] P. Bohannan, »Concepts of time among the Tiv of Nigeria«, in: South-western Joumal of Anthnpology, 9 (1953), S. 251-262; J. Ayoade, »Time in Yoruba thought«, in: R.W. Wright (ed.), African philosophy. Washington 19843, S. 71-90.
[203] K. Gyekye, An essay on African philosophical thought. Cambridge 1987, S. 174 f.
[204] J.S. Mbiti, African religions and philosophy. London 1969, S. 21.
[205] Gyekye (1987), S. 172-174.
[206] R.M. van Zuylekom, »The notion of time in African thinking«, in: H. Kimmerle (ed.), I, We and Body. Rotterdam 1989, S. 100.
[207] A. Ndaw, La pensée africaine. Dakar 1983, S. 123-133.
[208] M. Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1965, S. 9-40.
[209] G.W.F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Ed. J. Hoffmeister, Hamburg 1965, S. 210-234.
[210] Ich verweise nur auf die im Auftrag der UNESCO erstellte »General history of Africa«, von der bisher die Bände I-V und Vll erschienen sind.
[211] M. Weber, Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, Band l. Ed. J. Winckelmann, Tübingen 19787, bes. S. 1-17: Vorbemerkung.
[212] D.J. Nwoga (ed.), West African Verse. An Anthology. Harlow 198518 (19671), S. 96-97.
[213] D.K. Agyeman, Sociology of education for African students. Accra 1986,S. 36 f.
[214] F.H. Harbison &.A. Myers, Education, manpower and economic growth.New York 1964, S. 181.
[215] Ph. Foster, Education and social change in Ghana. Chicago 1962, S. 303 f.
[216] J. Vaizey, Education in the modern world. London 1967, S. 54 f. und 72 f.
[217] Agyeman (1986), S. 70 f.
[218] Ebenda S. 40; vgl. S. 40-80.
[219] Ebenda S. 42. Die letzte Angabe für Togo bezieht sich auf 1974.
[220] A.A. Boahen, The Ghanaian sphinx. Reflections on the contemporary history of Ghana. 1972-1987. Accra 1989, S. 9 und 50-57.
[221] Agyeman (1986), S. 24.
[222] J.K. Nyerere, Freedom and socialism. Dar es Salaam 1968, S. 288.
[223] Agyeman (1986), S. 25 f. [224] Der Titel dieser Aufzeichnung ist übernommen von einem Buch, in dem einige Kurzgeschichten veröffentlicht sind: K. Agori, A wind from the North and other stories. Accra 1989. Der Verfasser ist Dozent am »Institute of African Studies« der   »University of Ghana« in Legon-Accra.
[225] Dieser Absatz ist am 3.1.1990 in Cotonou (Benin) geschrieben.
[226] H. Kimmerle, »Epilogue. The position of culture within development«, in: I, We and Body. Amsterdam 1989, S. 103-109.
[227] G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Ästhetik. Ed. F. Bassenge, 2 Bde, Berlin1985.
[228] G. Bataille, Die Höhlenbilder von Lascaux oder die Geburt der Kunst. Stuttgart 1983; A. & E. Scherz, Afrikanische Felskunst. Malereien auf Felsen in Südwest-Afrika. Köln 1974.
[229]   G.W.F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Ed. J. Hoffmeister, Hamburg 19663.
[230]     K. Rosenkranz, Hegels Leben. Berlin 1844, S. 178-180
[231] K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Ausg. Dietz-Verlag, Berlin 1958, S. 12-14.
[232] Mao tse tung, »Über den Widerspruch«, in: Ausgewählte Werke. Ausg. Dietz-Verlag, Berlin 1956, Bd. I, S. 353-400.
[233] L. Althusser, Für Marx. Frankfurt a.M. 1968, S. 146-167.
[234] F. Boas, Primitive art. New York 1921.
[235] In Philosophische Probleme VII: »Gott und die Geister« habe ich gezeigt, auf der Grundlage welcher Argumente von afrikanischen Theologen und Religionsphilosophen das Verhältnis von Christentum und traditionellen Religionen seit einiger Zeit nicht mehr als Widerspruch betrachtet wird. Dies führt zu einer merkwürdig gespaltenen Beurteilung von Kolonialisierung und christlicher Missionierung, die doch deutlich Hand in Hand gearbeitet haben.
[236] Solche Zahlen sind mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Wie hat man gezählt? Ist jemand, der getauft ist, aber zu Hause einen Fetisch hat und bei wichtigen Entscheidungen den Fetischpriester zu Rate zieht, ein Christ oder ein Anhänger einer traditionellen Religion?
[237] P.J. Hountondji, Formation et recherche philosophiques en Afrique. Eléments pour une stratégie (Rapport soumis au BREDA/UNESCO, janvier 1987).
[238] Ebenda S. 37.
[239] Ebenda S. 40.
[240] Ebenda S. 41.
[241] Ebenda S. 84.
[242] Ebenda S. 85.
[243] M. Towa, »Die Aktualität der afrikanischen Philosophie«, in: F.M. Wimmer, vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien 1988, S. 56.
[244] P. Radin, Primitive man as philosopher. New York 19573, S. X; zum folgenden S. XIII f.
[245] C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie. Frankfurt a.M. 1967.
[246] Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968.
[247] W. Duprd, Religion in primitive cultures. A study in ethnophilosophy. The Hague/Paris 1975.
[248] P.J. Hountondji, »Occidentalism, elitism. Answer to two critiques«, in: Quest, Bd. III, Nr. 2, 19S9, S. 2-30.
[249] Chr. Neugebauer, »Ethnophilosophy in the philosophical discourse in Africa. A critical note«, in: Quest, Bd. IV, Nr. l, 1990, S. 42-64.
[250] G. Okara, »African speech ... English words«, in: G.D. Killam (ed.), African writers on African writing. London/Ibadan/Nairobi 1973, S. 139. Eine parallele Bewegung in der Philosophie wäre: Afrikanisches Denken ... europäische Begriffe und Gedankenverbindungen. Die drei Punkte stehen für »durchdringt«.
[251] P.O. Bodunrin (ed.), Philosophy in Africa. Trends and perspectives. Ile-Ife 1985, S. VIII.
[252] P.J. Hountondji (ed.), Bilan de recherche philosophique africaine. Répertoire alphabétique. lère partie: 1900-1985/Philosophical research in Africa. A bibliographical survey. Part l: 1900-1985, 2 Bde., Cotonou [1987 und 1988].
[253] Lancinay Keita und Henry Olela lehren bzw. haben gelehrt an US-amerikanischen (New York bzw. Washington und Atlanta) und an afrikanischen Universitäten (Free Town/Sierra Leone und Nairobi/Kenia). S.L. Keita, »The African philosophical traditions«, in R.W. Wright (ed.), African philosophy. An introduction. Washington 19843, S. 35-54; H. Olela, »The African foundations of Greek philosophy«, in: R.W. Wright (1984), S. 55-70.
[254] Agbossahessou, Les Haleines Sauvages. Yaoundb 1972, S. 81-86.
[255]   Ch.B. Okolo, Philosophy and Nigerian politics. Uruowulu-Obosi 1985, S. V.
[256] Ebenda S. 17.
[257] Ebenda S. 7-15.
[258] A.K. Armah, The beautiful ones are not yet born. London/lbadan/Nairobi 1975, S. 81 f.
[259] W. Soyinka, The man died. Prison notes. Ibadan/Owerri/Zaria 19883, S. XIII.
[260] Okolo (1985), S. 27.
[261] Ebenda S. 32.
[262] Ebenda S. 24 f.
[263] J.I. Unah, »Disguised denials of African philosophy«, in: Journal of African Philosophy and Studies, Bd. l, 1988, S. 51 f.; C.S. Momoh, »African philosophy Does it exist?«, in: Diogenes, Nr. 130, 1985, S. 79. Diese Autoren sprechen von »ancient African thought«, um den Ausdruck »traditionelles afrikanisches Denken« zu vermeiden, der nach ihrer Meinung einen pejorativen Beiklang hat (vgl. Philosophische Probleme VI).
[264] G. Sogolo, »Philosophy and relevance within the African context«, in: Journal of Humanities, Bd. 2, 1988, S. 97.
[265] Ebenda S. 110.
[266] Ebenda S. 112.
[267] P.O. Bodunrin, Philosophy in Africa. The challenge of relevance and commitment (The Ibadan-Pennsylvania Exchange Lecture). Ibadan 1989.
[268] Ebenda S. 15.
[269] Ebenda S. 10 und 15.
[270] Ebenda S. 16.
[271] Ebenda S. 18-21 (Hervorhebung von uns).
[272] Die Eingänge zu vielen traditionellen Yoruba-Hütten sind nicht hoch, so dass man sich, wenn man den Raum betritt, niederbeugen muss, um zu vermeiden, dass man seinen Kopf an der oberen Mauer stößt.
[273]»Über die Meere« bezieht sich hier auf eine weite Reise, besonders eine, bei der viele Hindernisse im Weg sind.
[274]Sango. Der Yoruba-Gott des Donners und Blitzes. Er gilt als der kühnste von allen Orisa. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass die erste Antwort auf Orunmilas (bzw. Ifas) Frage von ihm kommt.
[275] Koso. Bezieht sich auf einen Ort im alten Oyo, wo SangoVerehrer lebten.
[276] Gbegiri. Suppe. Eine äußerst nährwertige Suppe, die aus Bohnen und Gewürzen gemacht wird.
[277] Yams-Mehl-Pudding. Dieses Nahrungsmittel, bekannt als oka, ist die Lieblingsspeise der Oyo-Yoruba und ist auch das Lieblingsessen Sangos. Wenn es Sango angeboten wird, muß oka in vielen ldeinen Stücken gemacht sein, weil man glaubt, daß Sango ein sehr starker Esser ist.
[278] Bittere Kola und ein Hahn. Diese gehören auch zu den Lieblingsspeisen Sangos. Hähne und Böcke werden Sango auch angeboten.
[279] Oya. Die Frau Sangos ist eine Yoruba orisa, von der man glaubt, dass sie eine starke und zu fürchtende Frau ist, wie Sango, ihr Mann.
[280] Ira. Name eines Ortes, von dem man glaubt, dass er in Nupe-Land im Norden des Yoruba-Gebiets liegt, wo, wie man sagt, die Heimat Oyas ist.
[281] Egbo. Ein Nahrungsmittel, das aus gekochtem und püriertem Mais gemacht wird.
[282] Oosaala. Der Yoruba-Schöpfergott. Von ihm glaubt man, dass er die Menschen im Himmel geformt hat. Er ist bekannt als Obatala und Oosa-funfun (der weiße Gott), weil alle Instrumente und Symbole, die mit ihm verbunden werden, weiß sind. Seine Priester und Priesterinnen tragen nur weiße Kleidung.
[283] Ifon. Eine Stadt im Owo-Teil des Yoruba-Gebietes, von der man glaubt, das sie die Heimat Oosaalas ist.
[284] Zwei hundert Schnecken mit Gemüse der Saison und Melonensuppe. Oosaala mag Schnecken, weil ihr Fleisch weiß ist und kein Blut hat. Er nimmt auch Melonensuppe, weil sie weiß ist.
[285] Elegbara. Ein anderer Name für Esu, den trickreichen Yoruba-Gott. Von Esa glaubt man, daß er der allgegenwärtige Polizist ist, der Übertreter straft und die Treuen belohnt im Namen der Götter. Er ist es, der alle Opfer im Namen der Orisa empfängt. Außerdem ist Esu der Inhaber der ase, der göttlichen und höchst wundersamen Kraft, durch welche die Götter ihre übernatürlichen Taten vollbringen.
[286] Ketu. Eine wichtige Stadt in Dahomey (der heutigen Republik Benin), von der man glaubt, daß sie die Heimat Elegbaras ist. Der Kult dieses Gottes ist noch immer sehr stark in Ketu.
[287] Ein Hahn und eine Menge Palmöl. Dies sind einige der Lieblingsspeisen Esus. Man glaubt, daß Palmöl den gewaltsamen Ärger Esus beruhigt.
[288] Ogun. Der Yoruba-Gott des Krieges und des Heldentums, dessen Symbol das Eisen ist. er wird von allen verehrt, die Eisen gebrauchen: Schmiede, Jäger, Metzger usw. Jäger sind jedoch die bemerkenswertesten unter den vielen Verehrern dieses wichtigen Orisa.
[289] Ire. Eine Stadt im Ekiti-Gebiet, von dem einige Leute glauben, dass es die Heimat Oguns ist. Einige andere Leute glauben jedoch, dass Saki im Nor-den Oyos die ursprüngliche Heimat des Eisengottes war.
[290] Guinea-Korn-Bier und Palmwein. Ogun hat den Ruf, ein sehr starker Trinker zu sein. Im Unterschied zu einigen anderen Göt1ern ist es für Ogun und seine Anhänger nicht verboten, Alkohol zu trinken.
[291] Ijala. Die traditionelle Poesie der Jäger. Dieses sehr reiche Genre der mündlichen Yoruba-Poesie wird von Jägern gesungen, hauptsächlich zur Unterhaltung und auch während der Darbietungen der Jägerfeste und Rituale.
[292] Osun. Eine wichtige Yoruba-Göttin, deren wichtigstes Symbol der Fluß ist, der ihren Namen tr1gt. Von ihr glaubt man, daß sie die Kinder sehr liebt. Von daher sind die meisten ihrer Verehrer Frauen, die entweder Kinder erwarten oder stillende Mütter sind. Das jährliche Fest Osuns in Osogbo, einer wichtigen Stadt siebzig Meilen nordwestlich von Ibadan, ist heute noch eines der wichtigsten traditionellen Yoruba-Feste.
[293] Ijumu. Ein Ort im Norden des Yoruba-Gebietes, von dem man glaubt, dass er die Heimat Osuns ist.
[294] Yaurin-Gemüse. Dieses Gemüse wächst wild, besonders auf neu kultiviertem Land. Es ist eines der bekanntesten Gemüse der Yoruba-Ernährung.
[295] Maisbier. Dies ist als sekete bekannt. Es wird von Verehren Osuns genommen, denen es verboten ist, Guinea-Korn-Bier zu trinken.
[296] Igeti-Berg. Ein Ort bei Ife, von dem man glaubt, dass Orunmila dort sehr lange Zeit verblieb, während er auf Erden weilte.
[297] Mapo ist die Innenstadt von Elere. Der Titel »Mapo« wurde Orunmila in der Stadt Elere gegeben. [298] Mokum der Stadt Otans. Orunmila wurde der Titel Mokum gegeben, ein wichtiger traditioneller Titel der Stadt Otan im Ekiti-Gebiet.
[299] Mesin in der Stadt llawes. Mesin ist der Titel, der Orunmila in Ilawe gegeben wurde, einer Ekiti-Stadt, die regelmäßig im literarischen Corpus Ifa erwähnt wird.
[300] Elejelu. Name des Herrschers eines Ortes im Ekiti-Gebiet, der als Ijelu bekannt ist.
[301] Gbolajokoo. Personenname, der bedeutet: »Er, dem Ehre gebührt«.
[302] Dies bezieht sich auf die Tatsache, dass heute viele junge Leute nicht wünschen, Verehrer von Yoruba-Göttern zu werden wegen der Sanktionen und der strengen, äußerst disziplinierten Lebensweise, die mit den orisa-Kulten verbunden ist.
[303] Th.W. Adorno, Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 19823, S. 38.
[304] J. Derrida, Grammatologie. Frankfurt a.M. 1975, S. 193.
[305] B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M. 1990, S. 7 f.
[306] Ebenda S. 9.